Mit der metaphorischen Beschreibung von „Sackgassen“ in der Hermeneutik soll nicht suggeriert werden, dass eine Interpretation in einem absoluten Sinne einen Wahrheitsgehalt für sich beanspruchen dürfte und diese einer anderen mit Bestimmtheit abzusprechen sei. Interpretationen sind m.E. immer nur tastende Versuche, einen Gegenstand zu beschreiben und können nur nach zwei Kriterien beurteilt werden.
Einmal wird zu fragen sein, wie plausibel, nachvollziehbar, klar und intersubjektiv reliabel die jeweilige Interpretation in der Rezeption als ein befriedigendes Ergebnis empfunden werden kann. In dieser Hinsicht wird man vermutlich nie zu einem Abschluss kommen können, statt dessen erwarten, dass jede Interpretation immer neue Versuche weiterer Interpretationen provozieren und zugleich auch inspirieren wird. In einer diskurs-offenen, pluralistischen Kulturgesellschaft sollte dies als ein produktiver und kreativer Prozess begrüßt werden.
Das andere Kriterium für die Beurteilung einer Interpretation betrifft ihre methodischen Voraussetzungen. In dieser Hinsicht möchte ich einige Gedanken zusammentragen und von vornherein auf die Bruchstückhaftigkeit meiner Darstellung verweisen.
Zwei Beispiele für interpretatorische Irrwege und Sackgassen.
Das erste Beispiel entnehme ich der Literaturwissenschaft, das zweite einer anderen angewandten Kulturwissenschaft, der Psychoanalyse. In beiden Fällen stehen m.E. vorschnelle Reflexe zur Abstraktifizierung einer vertieften Betrachtung der interpretatorisch zu beschreibenden Gegenstände im Weg, die eine sinnlich-anschaulichen Annäherung an diese verhindern und die Ergebnisse in Zweifel ziehen lassen.
Das Beispiel aus der Literaturwissenschaft:
Walter Benjamin zerlegt das von ihm zu betrachtende Kunstwerk, Goethes Wahlverwandtschaften, zunächst in zwei Bedeutungsebenen und bezeichnet eine Ebene als eines Kommentars und einer Klärung von Sachverhalten für zugänglich und unterscheidet davon eine andere Ebene, auf die sich die Arbeit an der inneren Wahrheit des Kunstwerks beziehen soll. „Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt.“
Diese zweite Ebene möchte er methodisch für die Kunstkritik reservieren. Was ein Dichter verfasst hat, soll also in inhaltlicher Hinsicht Gegenstand eines beschreibenden Kommentars sein, so wie Literaturwissenschaftler bisher gearbeitet haben. Dagegen soll durch Kritik die Analyse der Art der Sprachverwendung durch den Dichter zu Einsichten der Wahrheit eines Kunstwerks führen, die dem Dichter selbst unbekannt geblieben waren. Die naiven Fragen: „Was wollte der Dichter damit sagen?“ oder „In welcher Beziehung steht der Text zur Biographie des Künstlers?“ oder „Wie kann man das verstehen?“ wird also in der Kritik als einer neuen wissenschaftlichen Methode ersetzt durch eine wahrheitsfindende Beschreibung der künstlerischen Sprachverwendung.
In gewisser Weise ähnelt diese Methodik der Wertformanalyse von Karl Marx in seinen Hauptwerk „Das Kapital“. Dort wird ausgeführt, dass die Ware einen Doppelcharakter besitzt. Zum einen repräsentiert sie einen Gebrauchswert und zum anderen einen Tauschwert, der die für die Herstellung der Ware durchschnittliche Arbeitszeit in Geldwerten repräsentiert. Heute würde man von Lohnstückkosten sprechen. Insofern der Tauschwert abstrakt geronnene Arbeitszeit darstellt, kann Marx aus diesem Konzept des Tauschwerts schließlich sein Konzept des Kapitals, des wirkmächtigsten Prinzips in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, ableiten. Innerhalb des Marxismus käme die Begriffsanalyse des Kapitals einem Aspekt von Wahrheit nahe, dem gegenüber die Beschäftigung mit der Vielfalt der Waren als Gebrauchsgegenständen als Ausdruck der Zirkulationssphäre nur Ideologie im Sinne von falschem Bewusstsein wäre.
Bezogen auf die Literaturwissenschaft würde die analoge Unterscheidung erlauben, zum eigentlichen Wahrheitsgehalt von Kunstwerken vorzudringen, gerade indem von ihren Inhalten und den biographischen Bezügen abstrahiert wird. Die Beschreibung der verwendeten Formensprache erlaube eine objektivierbare Methode zur Sinnfindung, der Unterscheidung von wahr und unwahr.
Es ist klar, dass eine derartige Behauptung in einer Kulturwissenschaft über eine Methode zu verfügen, die nur allein zur Wahrheitsfindung beitragen kann, schon von vornherein sich selbst disqualifiziert, weil sie dogmatisch ist, mit unhinterfragbaren Hypothesen arbeitet und sich einer überkomplexen und extrem theorielastigen Sprache bedient, die hypnotisch suggeriert, dass nur die Eingeweihten sie verstehen können und derjenige, der sie nicht versteht, sich damit gerade selbst beweist, dass er nicht zum Kreise der Auserwählten gehört. Zu behaupten, etwas zu verstehen, was aber nicht verstehbar ist oder nicht verstanden wurde, konstituiert eine Double-Bind Situation, die sich schon als solche psychisch destabilisierend auswirkt und eskalierend auch psychotisierende Ausmaße annehmen kann. Psychische Erkrankungen von Menschen, die sich solcher Art von Kunstkritik ausgesetzt sehen und das Gefühl haben, sie seien die einzigen, die solche Ausführungen wie sie üblicherweise auf Vernissagen zelebriert werden, nicht verstünden, sollten nicht überraschen.
Zum Beispiel aus der Psychoanalyse:
In seiner Besprechung von Dostojewski Roman „Der Spieler“ äußert Freud einige Gedanken zum Autor und gibt auch seine Interpretation zumindest des Titels des Romans zur Kenntnis. Ähnlich wie bei Benjamin hält sich Freud mit dem Inhalt des Romans nicht weiter auf, sondern schreitet gleich vom Titel „Der Spieler“ fort zur interpretatorischen Gleichsetzung von „Spielen“ mit „Masturbation“. Die Legitimität dieses Vorgehens wird daraus abgeleitet, dass ja die Masturbation in der Kindheit mit dem Spielen an den Genitalien beginne. Insofern Dostojewski den Roman nur habe schreiben können, weil er selbst ein Spieler war, könne daraus hinreichend abgeleitet werden, dass Dostojewskis Spielleidenschaft und seine literarische Produktion zu diesem Thema Ausdruck der mangelhaften Verdrängung seiner Neigung zur Masturbation war und er im Glücksspiel bestenfalls einen Ersatz für die Masturbation gefunden hatte. Auf jeden Fall kann das Glücksspiel damit als neurotische, weil unvollständige Verdrängung des Sexualtriebes angesehen und Dostojewski damit als Neurotiker betrachtet werden.
Methodisch bedeutsam ist hieran, dass das Spielen, insbesondere auch das Glücksspiel, nicht als Symbol mit vielfältigen Bedeutungsebenen betrachtet, sondern wie eine Allegorie als bildhafte Darstellung eines Begriffs i.S. einer Diagnose hier „Ersatz für zwanghafte Masturbation“ verwendet wird.
Es ist klar, dass eine solche allerdings sehr fragwürdige Methodik vom Inhalt des Romans komplett absehen kann. Eine risikoreiche Lektüre würde ja möglicherweise nur verwirren, wenn man die Wahrheit schon gefunden zu haben glaubt.
Leider sind solcherlei Hüftschussdeutungen in der Psychoanalyse sehr häufig, wenn einzelne Assoziationen, wenn man sie erstmal als Allegorie aufgefasst hat, hemmungslos und mit Wahngewissheit unterlegt als Ausdruck von Begriffen interpretiert werden dürfen. Im Rahmen einer solchen Deutungsmechanik ist es anscheinend naheliegend, das Wort „Hintern“ (unabhängig vom Kontext) mit „Homosexualität“ gleichzusetzen. Wer das nicht versteht, ist eben kein Eingeweihter und wird es nie verstehen. Dass eine solche Art von Deutungsmechanik ebene keine hermeneutische Methodik und damit absurd ist und eine Form von höherem Blödsinn darstellt, könnte man sich selbst leicht beweisen, indem man die angesprochenen Wahrnehmungsgegenstände, z.B. den Roman von Dostojewski „Der Spieler“ einfach mal lesen würde.
Zusammenfassung
Es sollte in diesem Beitrag gezeigt werden, dass eine hermeneutische Methode, die versucht, das Allgemein-Begriffliche gegen das Anschaulich-Sinnliche auszuspielen, notwendig in eine Sackgasse führen muss und nur als Dogmatik noch um Anerkennung kämpfen kann. Schließen möchte ich mit einem Zitat von Ernst Cassirer: „Darin prägt sich gleichsam sinnfällig das Grundprinzip der Erkenntnis überhaupt aus, dass sich das Allgemeine immer nur im Besonderen anschauen, das Besondere immer nur im Hinblick auf das Allgemeine denken läßt.“ Philosophie der symbolischen Formen, Band 1, S. 18.
Weiterlesen:
Dostojewski „Der Spieler“