Psychotherapiejargon: Arbeit an der Struktur

Einleitung

Das Konzept des “Arbeitens an der Struktur” in der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse bezieht sich auf therapeutische Ansätze, die darauf abzielen, die grundlegenden psychischen Strukturen eines Individuums zu stabilisieren oder positiv zu beeinflussen. Dies ist insbesondere von Bedeutung bei der Behandlung von Menschen mit psychischer Instabilität und bei Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen.

Problematik des Begriffs

Warum ist der Ausdruck “Arbeit an der Struktur” problematisch? Der Begriff der Struktur suggeriert, als habe man es mit einer mentalen Substanz zu tun. In der Erkenntnistheorie ist aber schon seit Beginn des 20. Jh. der Substanzbegriff durch den Funktionsbegriff bzw. Prozessbegriff ersetzt worden. Wenn das Ich nur als Konglomerat von Funktionen beschrieben werden kann, so darf man auch analog dem Selbst als der mentalen Repräsentanz von sich selbst keinen Substanzcharakter zuschreiben. Vielmehr ist auch das Selbst prozesshaft zu verstehen als Schnittmenge meiner eigenen Mutmaßungen über mich selbst und der Mutmaßungen anderer über mich selbst. Ein prozesshaft aufzufassendes Selbst ist permanent im Wandel und stark abhängig von den intersubjektiven Sprachspielen, in denen ein Individuum sich befindet. Die hier angesprochenen Funktionen sind also als ein im stetigen Wandel begriffener Niederschlag der praktizierten Sprachspiele eines Individuums aufzufassen.

Ichfunktionen und Selbstrepräsentanzen sind nur unterschiedliche Beschreibungsweisen mentaler Zustände, mit deren Hilfe sich ein Individuum durch beständige intersubjektive Kommunikation im Alltag der jeweiligen Lebenswelt zu organisieren versucht. Was vermeintlich innere Substanz zu sein scheint, ist tatsächlich ein Prozess im Rahmen einer historisch wandelbare sozialkommunikativen Ereignismatrix. Damit verlieren auch die gegensätzlichen Begriffe Erklären und Verstehen ihre Relevanz gegenüber einer zielführenden Hermeneutik des Beschreibens.

Kontinuierliche Selbstorganisation

Diese im Jargon angesprochenen Strukturen des Ichs und des Selbst sind demzufolge als mentale Grundfunktionen aufzufassen, mit deren Hilfe innerhalb der Psyche eine kontinuierliche Selbstorganisation stattfindet, die die Art und Weise beeinflusst, wie eine Person ihre Erlebnisse wahrnimmt, verarbeitet, auf sie reagiert und gleichzeitig als wandelbarer Ausdruck dieser Praxis zu sehen.

Neuorganisation oder Stärkung der Ich-Funktionen

In der Psychotherapie meint das “Arbeitens an der Struktur” die Bemühungen, grundlegende Veränderungen in den mentalen Strukturen zu bewirken, die langfristige Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und die Funktionsfähigkeit des Individuums haben. Dies kann eine Neuorganisation oder Stärkung der Ich-Funktionen beinhalten, um die Fähigkeit zur Selbstregulation und Anpassung zu verbessern.
Bei Patienten mit schwereren psychischen Störungen zielt das Arbeiten an der Struktur vor allem auf die Stabilisierung der psychischen Strukturen ab, um ein Mindestmaß an innerer Stabilität und Funktionsfähigkeit zu gewährleisten.

Bei dem Ziel, die Ich-Funktionen zu stärken, geht es wesentlich um die Förderung der Verbalisierungsfähigkeit, Realitätsprüfung, Impulskontrolle, Affektregulation und anderer zentraler Ich-Funktionen. Ein starkes Ich kann besser zwischen inneren und äußeren Realitäten unterscheiden, Emotionen effektiver regulieren und adäquatere Entscheidungen treffen.

Wesentlich für die Arbeit an der Struktur ist auch die Fähigkeit zur Integration von negativen Erlebnissen. Dies beinhaltet die Verarbeitung und Integration von traumatischen oder konflikthaften Erlebnissen, die das psychische Gleichgewicht destabilisieren. Durch die Integration solcher Erlebnisse können Patienten ein kohärenteres Selbstbild und eine stabilere Identität entwickeln.

Es geht in der Psychotherapie vor allem um die Förderung von Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung. Patienten sollen in die Lage versetzt werden, ihre inneren Zustände, Gedanken und Gefühle besser zu erkennen und zu verbalisieren. Dies kann helfen, unbewusste Reaktionsmuster, Wiederholungszwänge und unhinterfragte dysfunktionale Überzeugungen bewusst zu machen und zu bearbeiten.

Die “Arbeit an der Struktur” beinhaltet in der Regel auch die Analyse und Veränderung dysfunktionaler Beziehungsmuster. Durch die therapeutische Beziehung können im Laufe der Zeit tendenziell neue, gesündere Beziehungserfahrungen gemacht und internalisiert werden.

Zusammenfassend: Das Arbeiten an der Struktur in der Tiefenpsychologie ist ein umfassender Ansatz, der auf die grundlegenden psychischen Strukturen eines Individuums abzielt, um tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Es beinhaltet die Stärkung der Ich-Funktionen, die Integration traumatischer Erlebnisse, die Förderung von Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung sowie die Veränderung dysfunktionaler Beziehungsmuster. Durch diese Arbeit wird eine stabilere, besser angepasste und kohärentere Persönlichkeit angestrebt.

Zum Konzept des Struktur-Funktionalismus

In der Kurzbeschreibung des Konzepts “Arbeiten an der Strutur” wird deutlich, dass es im wesentlichen um die positive Beeinflussung von Ich-Funktionen geht. Deshalb möchte ich kurz auf das Konzept der Struktur-Funktionalität eingehen. Dieses ist ein theoretischer Rahmen, der sowohl in der Anthropologie als auch in der Psychologie verwendet wird, um zu verstehen, wie verschiedene Teile eines Systems oder einer Gesellschaft zusammenarbeiten, um das Überleben und das Funktionieren des gesamten Systems zu gewährleisten. Hier ist eine kurze Betrachtung der Anwendung dieses Konzepts in beiden Disziplinen.

Struktur-Funktionalismus in der Anthropologie

In der Ethnologie, insbesondere in der sozialen Anthropologie, wird das Konzept der Struktur-Funktionalität verwendet, um zu analysieren, wie soziale Institutionen und kulturelle Praktiken zur Stabilität und Integration von Gesellschaften beitragen. Zwei prominente Vertreter dieser Theorie sind Bronisław Malinowski (1884-1942) und A.R. Radcliffe-Brown (1881-1955).
Malinowski entwickelte die Theorie des Struktur-Funktionalismus und argumentierte, dass alle kulturellen Praktiken bestimmte Bedürfnisse des Individuums oder der Gesellschaft erfüllen. Diese Bedürfnisse könnten biologisch (Nahrung, Schutz), instrumental (soziale Ordnung, Bildung) oder integrativ (Religion, Kunst) sein. Malinowski betonte die Rolle von Mythen, Ritualen und Institutionen in der Erfüllung dieser Bedürfnisse.
Radcliffe-Brown entwickelte den strukturellen Funktionalismus, der sich mehr auf die sozialen Strukturen und deren Funktion in der Gesellschaft konzentrierte. Er sah Gesellschaften als Systeme, in denen verschiedene Institutionen (Familie, Rechtssystem, Wirtschaft) interagieren und zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung beitragen. Radcliffe-Brown legte Wert auf die Untersuchung der sozialen Beziehungen und der Netzwerke, die die Strukturen bilden.

Struktur-Funktionalismus in der Psychologie

In der Psychologie wird das Konzept der Struktur-Funktionalität häufig in der Analyse der menschlichen Kognition, der Erlebnisverarbeitung und der Handlungsmöglichkeiten eines Individuums angewendet. Es hilft zu verstehen, wie psychische Prozesse und Kommunikation zur Anpassung und zum Überleben des Individuums beitragen.
In der kognitiven Psychologie wird untersucht, wie mentale Strukturen und Prozesse (wie Wahrnehmung, Gedächtnis, Denken) organisiert sind und funktionieren, um das Individuum bei der Bewältigung der Umwelt zu unterstützen. Zum Beispiel könnte das Gedächtnis als eine Struktur betrachtet werden, deren Funktion darin besteht, Informationen zu speichern und abzurufen, um effektive Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen.
Die evolutionäre Psychologie nutzt das Konzept der Struktur-Funktionalität, um zu verstehen, wie bestimmte Verhaltensweisen und psychologische Mechanismen als Anpassungen an die evolutionären Herausforderungen entwickelt wurden. Zum Beispiel könnten soziale Bindungen und Kooperation als Mechanismen betrachtet werden, die die Überlebenschancen in einer Gruppe erhöhen.
In der klinischen Psychologie kann das Konzept verwendet werden, um zu analysieren, wie psychische Störungen, vor allem Zwänge, die Funktionsfähigkeit eines Individuums beeinträchtigen. Strukturen wie das Selbstkonzept oder die emotionalen Regulationsmechanismen haben bestimmte Funktionen, und ihre Dysfunktion kann zu psychischen Erkrankungen führen. Therapeutische Interventionen zielen darauf ab, diese Strukturen zu rekonstruieren und ihre Funktionalität wiederherzustellen.

Zusammenfassung zum Struktur-Funktionalismus

In der Anthropologie und in der Psychologie hilft das Konzept der Struktur-Funktionalität dabei, ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wie verschiedene Komponenten eines sozialen Systems oder einer individuellen Psyche interagieren und welche Rolle sie für das Gesamtsystem spielen. In der Anthropologie liegt der Fokus auf sozialen Strukturen und kulturellen Praktiken, während in der Psychologie Beziehungsgestaltung, Kommunikation, mentale Prozesse und die Erlebnisverarbeitung im Mittelpunkt der Betrachtung stehen.

Das Konzept der Ich-Funktionen in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie

In der Psychoanalyse, insbesondere in der Theorie von Sigmund Freud (1856-1939) und seinen Nachfolgern, beziehen sich die Ich-Funktionen auf die Fähigkeiten und Prozesse des Ich, die dazu dienen, einen Ausgleich zu schaffen zwischen Triebbedürnissen (Es) und Gewisssensaspekten (Überich) sowie das Individuum in die Lage zu versetzen, sich optimal an die Realität anzupassen bzw. auf die Realität gestaltend einzuwirken und eine stabile Persönlichkeit aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Diese Funktionen sind letztlich auch entscheidend für die Vermittlung zwischen den inneren Trieben und den äußeren Anforderungen der Realität.

Die wichtigsten Ich-Funktionen

Die Hauptfunktionen des Ich umfassen eine Vielzahl von psychischen Prozessen, darunter vor allem:
Die Verbalisierungsfähigket von eigenen Emotionen, Motiven, Gedanken, Absichten, Zielen sowie der Umgang mit Zeichen und Symbolen für zielgerichtete Kommunikation im sozialen Feld. Verstehen der kommunikativen Äußerungen anderer Menschen in verbaler und non-verbaler Form, sowie das Verstehen gesellschaftlicher Ordnungsschemata, vor allem hinsichtlich dessen, was erlaubt und was verboten ist.
Wichtig ist besonders die Ich-Funktion der Realitätsprüfung: Die Fähigkeit des Ich, zwischen inneren Wünschen, Vorstellungen und der äußeren Realität zu unterscheiden ist von zentraler Bedeutung. Es geht darum, die Wahrnehmung und das Denken an die objektive Realität anzupassen und Illusionen oder Fehldeutungen zu vermeiden.

Konzentrationsfähigkeit

Von zentraler Bedeutung ist auch die Ich-Funktion von Konzentrationsfähigkeit, Impulssteuerung und Impulskontrolle zur Ermöglichung von zielorientiertem Handeln: Dies betrifft vor allem die Fähigkeit, Triebimpulse zu regulieren und zu kontrollieren, anstatt ihnen unmittelbar nachzugeben. Dies beinhaltet die Unterdrückung, Verzögerung oder Umleitung von Trieben in sozial akzeptable Aktivitäten unter Berücksichtigung der Funktion des Gewissens (Überich).

Affektregulation

Die Affektregulation als Ich-Funktion: Dabei geht es um die Fähigkeit, emotionale Zustände zu erkennen, zu verstehen und zu modifizieren, um angemessen auf verschiedene Situationen reagieren zu können. Dies umfasst die Verarbeitung und den Ausdruck von Gefühlen auf eine Weise, die mit der Realität und den sozialen Normen und Erwartungen anderer Menschen im Einklang stehen.

Abwehrmechanismen

Die Abwehrmechanismen gehören zu den wichtigsten Ich-Funktionen: Dies sind Prozesse, durch die das Ich versucht, Es-Impulse, unangenehme Gefühle oder Gedanken zu bewältigen und zu mildern, die durch innere Konflikte oder äußere Stressoren verursacht werden. Beispiele für Abwehrmechanismen sind Verdrängung, Verschiebung, Verleugnung, Projektion und Rationalisierung.

Denken und Urteilen

Die Ich-Funktion von Denken und Urteilen: Diese beinhalten Fähigkeiten zu rationalem Denken und logischen sinnhaften Urteilen, einschließlich der Fähigkeit zur Planung, Problemlösung und Entscheidungsfindung. Sie beinhaltet die Nutzung von Logik und Vernunft, um Handlungen zu planen und Probleme zu bewältigen.

Realitätsorientierung

Zur Ich-Funktion der Realitätsorientierung: Die Fähigkeit, sich in Zeit und Raum zu orientieren und ein realistisches Bild von sich selbst und der Welt zu entwickeln und aufrechtzuerhalten ist von elementarer Bedeutung. Dies schließt die Wahrnehmung der eigenen Identität und der Umwelt ein.

Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein

Zur Ich-Funktion von Selbstwahrnehmung und Selbstbewusstsein: Die Fähigkeit, sich selbst als eigenständiges Individuum wahrzunehmen und ein kohärentes Selbstbild zu entwickeln ist für die psychische Stabilität von entscheidender Bedeutung. Dies beinhaltet das Bewusstsein der eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen sowie die Reflexion darüber.

Beziehungsfähigkeit

Auch die Beziehungsfähigkeit kann als zentrale Ich-Funktion aufgefasst werden: Die Fähigkeit, stabile und realistische Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten ist für das psychische Wohlbefinden von grundlegender Bedeutung. Dies umfasst Empathie, Kommunikation, Kritikfähigkeit, Frustrationstoleranz und die Fähigkeit zur langfristigen emotionalen Beziehungsgestaltung.
Die kognitiven Funktionen: Zu diesen Ich-Funktionen gehören Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Konzentration und Lernen. Das Ich nutzt diese kognitiven Fähigkeiten, um Informationen zu verarbeiten und zu speichern, was für das tägliche Alltagsbewältigung absolut notwendig ist.

Grundüberzeugungen

Eine besondere Ich-Funktion stellen die Grundüberzeugungen dar, die im Gegensatz zu den Wiederholungszwängen nicht im Unbewussten angesiedelt sind, sondern dem Vorbewussten zugerechnet werden müssen. Dies bedeutet, dass sie im Rahmen von Träumen, die in besonderer Weise die Konfliktdynamik des Unbewussten verarbeiten, nicht sehr stark repräsentiert sind und andererseits normalerweise auch nur wenig den bewussten Gedanken und Überlegungen des Individuums zugänglich sind bzw., falls sie bewusst werden, anderen Menschen gegenüber nicht freimütig genug kommuniziert werden. Sie können Denkinhalt und gleichzeitig auch Funktion eines verzerrten Selbstbildes sein und sind somit als Prämissen für andere Ich-Funktionen und als deren zentraler Organisator anzusehen.

Als Beispiel aus der Literatur sei genannt die Entwicklung von Dostojewskis Romanfigur Raskolnikow, dessen Grundüberzeugung darin besteht, dass er meint, er sei eine Art von Machtmensch, der frei sei von Gewissenbissen. Als Beweis dafür, dass seine Grundüberzeugung richtig sein könnte, begeht er zwei Morde und muss dann feststellen, dass die Last des Gewissens ihn erdrückt. Er nimmt dies als kränkenden Beweis dafür, dass er entgegen seiner tatsächlich falschen Grundüberzeugung, doch kein von Gewissensbissen freier Machtmensch sein kann.

Zur Bedeutung der Ich-Funktionen im Rahmen von Psychoanalyse und Tiefenpsychologie

Die Ich-Funktionen sind zentral für das psychische Gleichgewicht und die Anpassungsfähigkeit eines Individuums. Ein gut funktionierendes Ich kann Triebwünsche mit den Anforderungen des eigenen Überichs sowie mit denen der Realität in Einklang bringen und somit ein harmonisches und kreatives Leben ermöglichen. Störungen in diesen Funktionen können zu psychischen Erkrankungen führen, wenn das Individuum Schwierigkeiten hat, mit inneren Konflikten und äußeren Anforderungen umzugehen und zum Ausgleich zu bringen.

In der tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Therapie wird angestrebt, die Ich-Funktionen zu stärken, um Patienten dabei zu unterstützen, besser mit inneren Konflikten und der äußeren Realität umzugehen. Andererseits müssen dyxfunktionale Ich-Funktionen auch revidiert und infrage gestellt werden.Dies kann durch verschiedene Interventionen erfolgen, einschließlich der Förderung der Selbstwahrnehmung durch Verbalisierung des eigenen subjektiven Erlebens vorwiegend im Rahmen der freien Assoziation, der Verbesserung der Affektregulation, insbesondere der Frustrationstoleranz und der Entwicklung reifer Abwehrmechanismen wie der Verdrängung sowie dem Hinterfragen von falschen Grundüberzeugungen.

Anhang 1: Zum Konzept der Grundüberzeugungen

Das Konzept der Grundüberzeugungen als eine wichtige Ich-Funktion spielt sowohl in der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse als auch in der Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle, wobei jede Disziplin dieses Konzept aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet und unterschiedlich darauf eingeht. Es folgt eine Betrachtung der Grundüberzeugungen in beiden Disziplinen.

Das Konzept der Grundüberzeugungen in der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie

In der älteren Psychoanalyse wurden Grundüberzeugungen oft als tief verankerte Reaktionsmuster betrachtet, die sich in der frühen Kindheit entwickeln und im Unbewussten als Teil der Wiederholungszwänge verankert sind. Diese Wiederholungszwänge wurden stark mit frühen Erlebnissen und Beziehungen des Individuums, insbesondere zu den primären Bezugspersonen, verknüpft.
In der modernen Psychoanalse werden Grundüberzeugungen mehr als dem Vorbewussten zugehörige Ich-Funktionen angesehen, insofern sie sich in Form von Weltanschauungen, introjizierten (verinnerlichten) Objekten und Beziehungsmustern als Teil des Selbst-Bildes manifestieren. Diese teils unbewussten aber prinzipiell bewusstseinsfähigen Überzeugungen werden wie Glaubenssätze einer nicht ausgesprochenen und nicht hinterfragten Privatreligion angesehen und beeinflussen als Wahrnehmung von anderen vor allem die Reaktionsmuster des Selbst im Vorbewussten und beeinflussen damit sowohl das Denken als auch die Emotionen des Individuums auf tiefgreifende Weise.

Entwicklung und Ursprung: Laut psychoanalytischer Theorie entstehen diese Überzeugungen durch Erfahrungen in der frühen Kindheit, in der Jugend oder auch erst im frühen Erwachsenenalter und formen des Selbst-Bild eines Individuums. Insbesondere in der Interaktion mit den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen wie Lehrern entstehen Grundüberzeugungen als Bestandteil eines mehr oder weniger unrealistischen Selbst-Bildes und eines verzerrten Bildes von der UMwelt, insbesondere von anderen Menschen. Aber auch durch Identifikation mit Vorbildern, dem Folgen von Influencern, Coaching etc. können vor allem auch falsche Grundüberzeugungen und damit unrealistische Selbst-Bilder und verzerrte Wahrnehmungen entstehen.

Weiterhin tragen auch unverarbeitete Traumata, Konflikte und belastende emotionale Erlebnisse zur Ausbildung von unrealistischen Grundüberzeugungen und damit zu einem verzerrten Selbstbild und entsprechendem Wirklichkeitsverständnis bei. Vgl. hierzu vor allem die Arbeiten aus dem Bereich der psychoanalytischen Selbstpsychologie wie Heinz Kohut (1913-1981) u.a. Besonders erwähnt werden sollten auch die Arbeiten von Donald Winnicott (1896-1971). Er entwickelte das Konzept des falschen Selbst im Rahmen seiner Arbeit vor allem mit Kindern und deren Müttern. Er beobachtete, wie sich Kinder an die Erwartungen und Bedürfnisse ihrer Bezugspersonen anpassten und dabei ihr wahres Selbst unterdrückten oder versteckten und sich statt dessen unbewust mit ihren Bezugspersonen identifizieren. Falsche Grundüberzeugungen in Verbindung mit einem verzerrtes Selbst-Bild entstehen häufig auch als Folge von emotionalem Missbrauch.

Grundüberzeugungen, vor allem auch im Sinne eines falschen Selbst, werden oft durch Abwehrmechanismen geschützt und können durch psychoanalytische Vorgehensweisen wie freie Assoziation, Traumanalyse und Übertragungsanalyse aufgedeckt und auf ihre fragwürdige Realitätsmächtigkeit bzw. Dysfunktionalität hinterfragt werden.

Das Konzept der Grundüberzeugungen in der Verhaltenstherapie

In der Verhaltenstherapie, insbesondere in der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), werden Grundüberzeugungen als tief verwurzelte Glaubenssätze betrachtet, die das Denken, Fühlen und Handeln eines Individuums beeinflussen. Diese Überzeugungen sind kognitiver Natur und werden oft als „Kernsätze“. “Glaubenssätze” oder „Grundannahmen“ bezeichnet.

Grundüberzeugungen sind im Rahmen dieser Auffassung vor allem kognitiver Schemata, die die Art und Weise beeinflussen, wie ein Individuum Informationen verarbeitet und auf die Welt reagiert. Diese Schemata sind die Grundlage für automatische Gedanken und Interpretationen von Ereignissen.
In der KVT wird besonderer Wert auf die Identifikation und Veränderung dysfunktionaler Grundüberzeugungen gelegt, die zu negativen Emotionen und Verhaltensweisen führen können. Zum Beispiel könnten Überzeugungen wie „Ich bin wertlos“ oder „Die Welt ist gefährlich“ tiefgreifende Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden haben.

Grundüberzeugungen entstehen in der Auffassung der KVT oft auf der Basis von frühen Lebenserfahrungen und werden durch wiederholte Erlebnisse und Lernprozesse verstärkt. Vor allem negative Erlebnisse, insbesondere in der Kindheit, können zur Bildung solcher dysfunktionalen Grundüberzeugungen führen.
In der Verhaltenstherapie wird meist ein strukturierter Ansatz verfolgt, um diese Grundüberzeugungen zu identifizieren, zu hinterfragen und zu verändern. Techniken wie kognitive Umstrukturierung, Verhaltensexperimente und sokratisches Fragen werden verwendet, um alternative, realistischere und funktionalere Überzeugungen zu entwickeln.

Zusammenfassung zum Konzept der Grundüberzeugungen

Grundüberzeugungen im Verständnis der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse sind tief verwurzelte vorbewusste und deshalb prinzipiell bewusstseinsfähige kognitiv-emotionale Muster im Selbst-Bild, die den unbewussten Widerholgungszwängen nahestehen und meist aus frühen Kindheitserfahrungen, der Jugend oder dem frühen Erwachsenenleben stammen. Die Therapie zielt darauf ab, diese die freie Entscheidungsfähigkeit einengenden Muster aufzudecken, d.h. vollständig bewusst zu machen und ihre emotionalen und kognitiven Ursprünge zu bearbeiten und ihre Integration in eines verzerrtes Selbst-Bild und eine verzerrte Fremdwahrnehmung transparent zu machen und nach und nach zu transformieren in Richtung eines nicht verzerrten Selbst-Bildes und einer angemesseneren Fremdwahrnehmung.

Grundüberzeugungen in der Verhaltenstherapie sind grundlegende kognitive Schemata, die das Denken und Verhalten beeinflussen. Die Therapie zielt darauf ab, dysfunktionale Überzeugungen zu identifizieren und durch realistischere und positivere Überzeugungen zu ersetzen.
In beiden Ansätzen sind Grundüberzeugungen zentral für das Verständnis und die Behandlung psychischer Probleme, obwohl sie auf etwas unterschiedliche Weise betrachtet und adressiert werden.

Anhang 2: Psychische Erkrankungen

Beschreibung von Ich-Störungen im Bereich der Psychiatrie

Im Rahmen dieses Anhangs soll noch darauf verwiesen werden, dass Ich-Funktionen auch in einem krankheitswertigen, psychopathologischen Sinn beeinträchtigt sein können.
Bei psychopathologischen Ich-Störungen außerhalb der ambulanten Psychotherapie sind verschiedene Ich-Funktionen beeinträchtigt. Die wichtigsten Funktionen umfassen:
Störungen des Ich-Bewusstseins: Hierzu gehören Störungen der Ich-Identität, das Gefühl, dass das eigene Ich bzw. Selbst verändert, fremd oder gespalten ist. Depersonalisation: Das Gefühl, von sich selbst losgelöst oder entfremdet zu sein.

Selbststeuerung

Störungen der Selbststeuerung: dies betrifft Störungen des eigenen Willens, es gibt Probleme, eigene Entscheidungen zu treffen oder Handlungen zu initiieren, verstärkte Impulsivität, d.h. die Unfähigkeit, eigene Impulse zu kontrollieren oder zu unterdrücken.
Störungen in Bezug auf die Ich-Grenzen bzw. auf die Grenze zwischen Ich und Umwelt: hierzu gehören Derealisation, die Umwelt erscheint unwirklich oder verfremdet, und die Grenzverwischung mit der Beeinträchtigung zwischen dem eigenen Ich und der Umwelt zu unterscheiden.

Selbstwertgefühl

Störungen des Selbstwertgefühl: Hierzu gehören vor allem Störungen des Selbstwerts in Richtung auf ein entweder übermäßig depressiv-vermindertes oder maniform-übersteigertes Selbstwertgefühl.
Störungen der Selbstreflexion und der Realitätsprüfung: Hierzu gehören Wahnideen und die nachlassende Fähigkeit, die adäquate Wahrnehmung der Realität von eigenen Ideen oder Vermutungen zu unterscheiden. Schließlich noch Halluzinationen, d.h. vermeintliche Wahrnehmungen, die nicht auf reale Reize zurückzuführen sind.

Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung

Störungen können auch im Bereich der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung auftreten: Hierzu gehören Empathieprobleme, Schwierigkeiten, die Gefühle und Gedanken anderer zu erkennen oder nachzuvollziehen.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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