Die Theorie des Spracherwerbs im Vergleich mit der Psychoanalyse

Stephen Krashens Theorie das Erlernen einer Fremdsprache mit den Erkenntnissen des primären kindlichen Spracherwerbs zu verbinden und die Psychoanalyse Freuds sind zwei sehr verschiedene theoretische Beschreibungsweisen und Praktiken in Bezug auf kulturelle Prozesse in Psychotherapie hier und Pädagogik dort. Aber es gibt einige interessante Überschneidungen und potenzielle Beziehungen zwischen beiden Disziplinen in methodischer Hinsicht. Um sie miteinander vergleichen zu können und die Gemeinsamkeiten zu klären, ist es hilfreich, die Kernelemente beider Theorien kurz vorzustellen.

Krashens Theorie des Spracherwerbs

Stephen Krashen (geb. 1941) ist ein Linguist und Pädagoge.  Er ist emeritierter Professor und bekannt für seine Theorie des Erlernens einer Zweitsprache mit den Methoden des primären kindlichen Spracherwerbs, die aus fünf Hypothesen besteht. Die erste Hypothese besagt, dass wir zwischen dem Erwerb einer jeweiligen Muttersprache im Kontext einer Lebenswelt und dem Erlernen einer Fremdsprache im Schulunterricht streng unterscheiden müssen und uns den gravierenden Unterschied zwischen beiden Prozessen sehr bewusst machen sollten.

Was bedeutet es, „eine Sprache zu erwerben“? Beim Erwerb einer Sprache fängt man als Kind ganz natürlich und unbewusst an, eine Sprache zu verwenden. Kinder fangen an, eine Sprache zu sprechen, weil sie mit ihren Eltern oder anderen Kindern reden wollen. Sie wollen sich ausdrücken, um ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Für Krashen ist dies die natürliche Art, eine Sprache zu lernen. Und für ihn ist es die einzig wirksame Möglichkeit, eine Sprache in der jeweiligen Lebenswelt effektiv gebrauchen zu können.

Lernen bzw. hier das Erlernen einer Zweitsprache hingegen ist etwas Bewusstes, es ist ein bewusst gesteuerter Prozess. Wenn ein Kind in der Schule ist und eine zweite Sprache lernt so ist dies etwas geplantes und findet nicht in der natürlichen Umgebung bzw. der Lebenswelt der Kinder statt. Kinder lernen zum Beispiel die Regeln der Grammatik, um zu verstehen, wie die Zweitsprache funktioniert und welche Regeln beachtet werden müssen, um z.B Englisch sprechen zu können. Krashens zentrale Hypothese besteht darin, dass man eine Sprache nicht wirklich zur spontanen Kommunikation nutzen kann, wenn man in der Schule oder anderen Lehranstalt auf diese Weise eine Sprache lernen soll, indem man die Regeln der Grammatik und Vokabeln verinnerlicht. Deshalb fordert Krashen, dass wir eine Sprache auf natürlichere Weise lernen müssen, ähnlich wie Kinder ihre Muttersprache sich aneignen, um sie wirklich für kommunikative Zwecke vollumfänglich beherrschen zu können.

Selbstverständlich ist Krashen nicht der Auffassung, dass die Grammatik vollkommen überflüssig ist, aber er spricht ihr eine prioritäre Bedeutung ab. Seiner Meinung nach muss man auch beim Erwerb einer Zweitsprache als Kind oder Erwachsener zuerst versuchen zu kommunizieren, auch wenn man Fehler macht. Man sollte sich vor allem darauf konzentrieren, eine Botschaft zu vermitteln, sich auszudrücken und dann, wenn man dazu in der Lage ist, die Regeln zu lernen, um sich selbst zu korrigieren, um sich klarer ausdrücken zu können.

Die Controller-Hypothese

Die zweite Hypothese ist die Controller-Hypothese. Wenn ein Kind oder ein Erwachsener versucht, sich eine Fremdsprache anzueignen, gibt es einen Controller im Kopf . Dieser Controller beobachtet, ob der Sprechende alle Regeln der Grammatik etc. befolgt. Krashen hat herausgefunden, dass nicht jeder den gleichen Controller im Kopf hat. Wenn jemand zum Beispiel ein eher extrovertierter Mensch ist, der keine Angst vor dem Sprechen hat, der sich gerne ausdrückt, dann ist die Rolle des Controllers eher schwach ausgeprägt. Wenn jemand hingegen introvertiert ist, kann der Controller sehr dominant sein. Ängstliche Menschen denken zuerst über die Regeln nach und überlegen, wie Sie etwas perfekt sagen können, ohne Fehler zu machen. Leider führt dies zu Hemmungen und behindert das Lernen. Denn um eine Fremdsprache zu sprechen, muss man Fehler machen und versuchen, eine Botschaft zu vermitteln. Wenn man nicht versucht, sich auszudrücken, wenn man keine Fehler riskiert, macht man nur sehr langsam Fortschritte.
Fehler zu machen gehört also zum Spracherwerb und man muss eine positive Einstellung dazu entwickeln, Fehler beim Sprechen zu machen. Um diese zweite Hypothese zusammenzufassen: Wir müssen den Einfluss des Controllers begrenzen.

Die natürliche Reihenfolge von Lernschritten

Nun die dritte Hypothese. Die dritte Hypothese von Stephen Krashen ist die natürliche Reihenfolge von Lernschritten beim Erwerb einer Sprache. Professor Krashen sagt, dass jede Sprache eine natürliche Reihenfolge für ihren Erwerb hat. Das bedeutet, dass jede Person eine bestimmteSprache in der gleichen Reihenfolge erlernt. Diese Reihenfolge ist nicht von der Person abhängig, sondern nur von der Struktur der Sprache selbst. Jede Sprache hat ihre eigene Reihenfolge in der sie erworben werden muss. In manchen Sprachen sind beispielsweise die Artikel etwas, was ziemlich schwer zu lernen und zu meistern sind. Kinder verwenden sie zwar von Anfang an, aber im Allgemeinen machen sie dabei viele Fehler. Es dauert sehr lange, bis sie die Reihenfolge der Worte gut verwenden können und die Syntax vollständig beherrschen. Deshalb soll der Spracherwerb der natürliche Ordnung einer Sprache vom Einfacheren zum Schwierigeren folgen.

Die Input-Hypothese

Nun zur vierten Hypothese. Die vierte Hypothese ist die Input-Hypothese. Diese Hypothese besagt, dass eine Person eine Sprache lernt, wenn sie versucht, Nachrichten zu erfassen oder allgemeiner gesprochen, Inhalte zu verstehen. Es soll nach Krashen aber einschränken sein, wenn man beim Spracherwerb keine Herausforderungen erlebt, wenn man nichts Neues ungewohntes bewältigen muss. Dann wird man keine großen Fortschritte machen. Um eine Sprache vollständig zu erlernen, müsse man versuchen, Dinge zu verstehen, die für das jeweilige Individuum im ersten Moment etwas zu schwierig sind, Dinge, die auf einem etwas höheren Niveau liegen, Dinge, die anfangs etwas kompliziert zu verstehen sind. Denn in diesem Moment wird sich das Gehirn anstrengen und zum Beispiel den Kontext nutzen, um zu versuchen, das zu verstehen, was bisher noch nicht verstanden werden könnte.

Krashens vierte Hypothese besagt, wir müssen versuchen, beim Spracherwerb Dinge zu verstehen, die für uns etwas zu schwierig sind. Damit ist der Grundgedanke verbunden, dass für den Spracherwerb, dass Verstehen wichtiger ist als die Fähigkeit, sich auszudrücken. Nach Krashen machen wir nur mit zunehmendem Verständnis beim Zuhören deutliche Fortschritte beim Spracherwerb. Er glaubt, dass die reduzierte Verwendung der Sprache lediglich zum Sprechen bzw. Kommunikation in Form von Fragen oder Befehlen keinen ausreichenden Fortschritt ermöglicht. Dies ist eine interessante Parallele zur Psychotherapie, wo erlebnisorientierte und einsichtsorientierte Ansätze miteinander verglichen werden können.

Die Hypothese vom “affektiven Filter”

Krashens fünfte Hypothese ist die vom “affektiven Filter”.  Ein „affektiver Filter“ bedeutet, dass das Empfinden positiver oder negativer Emotionen einen Einfluss auf den Spracherwerb hat. Wenn wir zum Beispiel sehr motiviert sind, wenn wir Selbstvertrauen haben und uns in einer guten Stimmung befinden, ist es einfacher, eine Sprache zu verstehen.

Wenn wir andererseits kein Vertrauen in uns selbst haben, wenn wir denken, dass wir nicht in der Lage sind, eine Sprache zu lernen, wird es schwieriger, weil der Filter im Gehirn die sprachlichen Prozesse einschränkt. Deshalb ist die Atmosphäre, das Ambiente, die soziale Situation, in der man eine Sprache zu verstehen versucht, sehr wichtig. Wenn man mit einem Lehrer eine Sprache übt, ist es daher sehr wichtig, eine gute Beziehung zu dieser Person zu haben und sich sicher zu fühlen. Wenn man Angst davor hat, in der Gegenwart des Lehrers Fehler zu machen, sind wir nicht in der richtigen Stimmung, uns die Sprache anzueignen.

Die Schlussfolgerung der Krashen Hypothesen besagt, dass Grammatikkenntnisse eher sekundär sind, um eine Sprache verwenden zu können und dass die Priorität beim Spracherwerb auf dem aktiven Kommunizieren liegen sollte.

Grundkonzepte der Psychoanalyse

Die Psychoanalyse, ursprünglich von Sigmund Freud entwickelt, beschäftigt sich mit den unbewussten Prozessen und inneren Konflikten, die das menschliche Verhalten beeinflussen. Wichtige Konzepte der Psychoanalyse sind die Erkenntnis, dass ein Großteil der menschlichen Motivation und Gedankenprozesse unbewusst abläuft. Unbewusste Impulse werden vom bewussten Ich durch die Abwehrmechanismen ferngehalten. Dieses sind psychologische Strategien, die das Ich automatisiert anwendet, um unangenehme Gefühle und Gedanken zu bewältigen. Weiterhin hat Freud die Vorstellung von einem Überich entwickelt, das etwa dem Begriff des inneren Controllers bei Krashen entspricht und umgekehrt. Um die Bedeutung des Überichs und der Abwehrmechanismen zu relativieren, hat Freud die Methode der Freien Assoziation entwickelt, mit der im Rahmen der analytischen Psychotherapie das kindliche affektiv-spontane Sprechen nachempfunden werden soll. In Freud früher Methode, die er zusammen mit Breuer entwickelt hatte, spielte das Aussprechen von peinlichen Erinnerungen eine zentrale Rolle (kathartische Methode). In seiner späteren psychotherapeutischen Methodik betonte er darüber hinaus, dass nicht nur das bewusste Erleben von eigenen bisher verdrängsten Emotionen von großer Bedeutung sei, sondern auch das Verstehen der eigenen intrapsychischen Zusammenhänge und das Verstehen der Bedeutungen von eigenen Träumen, Metaphern, Symbolen etc.

Mögliche Beziehungen zwischen der Theorie des Spracherwerbs und der Psychoanalyse

Affektive Filter Hypothese und Emotionen:
Krashens Affektive-Filter-Hypothese betont, dass emotionale Zustände den Spracherwerb stark beeinflussen. Dies steht im Einklang mit der psychoanalytischen Betonung der Rolle von Emotionen und inneren Konflikten bei fast allen psychischen Prozessen und vor allem auch in Bezug auf Lernvorgänge. Viel Angst und ein geringes Selbstvertrauen im Sinne Krashens, können nach Freud als neurotische Abwehrmechanismen verstanden werden, die den Zugang zu bewusstem und unbewusstem Wissen blockieren.

Spracherwerb ist intuitiv und unbewusst:
Krashen unterscheidet zwischen erworbenem Wissen (das meist unbewusst und intuitiv erworben wird) und gelerntem Wissen (das bewusst gelernt wird). Diese Unterscheidung entspricht der psychoanalytischen Differenzierung zwischen bewussten und unbewussten Prozessen. Der Prozess des natürlichen, unbewussten Spracherwerbs könnte mit der Art und Weise verglichen werden, wie unbewusste Inhalte nach und nach bewusst werden, wie es in der Psychoanalyse angestrebt wird.

Motivation und Blockade durch innere Konflikte:
Die Motivation, eine neue Sprache zu lernen, können durch innere Konflikte beeinflusst werden, wie sie in der Psychoanalyse untersucht werden. Zum Beispiel können tief verwurzelte Ängste oder Unsicherheiten (z.B. Angst vor dem Versagen) den affektiven Filter verstärken und damit den Spracherwerb verzögern bzw. die Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigen und das Lernen behindern.
Die Psychoanalyse betont die Bedeutung des Überichs als Folge von prägenden Kindheitserfahrungen, die auch die spätere Fähigkeit und Motivation zum Spracherwerb beeinflussen könnten. Krashen berücksichtigt dies indirekt durch den affektiven Filter, der durch frühe Erfahrungen geformt werden kann. Krashen und Freud betonen die zentraler Bedeutung affektiv-spontaner Mitteilungen der Analysanden bzw. Sprechenden beim Erlernen einer Zweitsprache nach der Methode des kindlichen Spracherwerbs.

Verstehen ist wichtiger als als das Sprechen, das Sprechen ist wichtiger als die Grammatik.
Krashen betont eine wesentliche Priorisierung, die eine Entsprechung in der Freudschen Psychoanalyse hat. Das Zensieren des Sprechens durch den inneren Controlleur nach Krashen bzw. durch das Überich nach Freud, sollen jeweils möglichst auf ein Minimum reduziert werden. Weiterhin betonen beide, dass für die Weiterentwicklung im Sinne eines vollständigen Spracherwerbs nach Krashen bzw. für eine ausgereifte Persönlichkeitsentwicklung im Sinne Freuds das Verstehen der Zusammenhänge von Text im Kontext von entscheidender Bedeutung sind. Einfaches Aussprechen, Weinen, Brüllen, Fragen, Befehlen etc. sind allein nicht zielführend, sondern müssen durch das Verstehen des Gesagten ergänzt werden, um einen zielführenden Effekt zu ermöglichen. Beim Spracherwerb geht es nach Krashen letztlich um das vertiefte Verständnis für das Gesagte, also auch um Empathie, während Freud als Ziel der analytischen Psychotherapie darüber hinaus Einsicht und Läuterung anstrebt.

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, obwohl Krashens Theorie des Spracherwerbs und die Psychoanalyse aus verschiedenen Disziplinen stammen und unterschiedliche Schwerpunkte haben, es aber erstaunliche Überschneidungen gibt, insbesondere im Hinblick auf die Rolle von Emotionen, im Hinblick auf die Bedeutung des Controlleurs bzw. Überichs, im Hinblick auf die Bedeutung einer positive Beziehung zum Therapeuten bzw. Lehrer, im Hinblick auf unbewussten Prozesse und auf die individuellen Unterschiede beim Lernen und Verhalten. Diese Schnittmengen können fruchtbare Ansätze bieten, um das Verständnis des Spracherwerbs und der emotionalen und psychologischen Faktoren, die ihn beeinflussen, aus psychoanalytischer Sicht zu vertiefen. Ebenso kann der psychoanalytische Prozess analog zum Spracherwerb des Kindes aufgefasst und interpretiert werden. Beide Ansätze sind im Grunde wesensverwandt im Hinblick auf die Beschreibung organischer Prozesse und können interaktiv verwendet werden, um die jeweils andere Disziplin besser zu verstehen.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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