Einleitung
Der Kritische Rationalismus ist eine philosophische Strömung, die wesentlich von Karl Popper (1902-1994) geprägt wurde. Popper war ein ausgebildeter Physik- und Mathematiklehrer und befasste sich vor allem mit ideologiekritischer Wissenschaftsgeschichte. Er war ein eminent politisch denkender Mensch und in seinem Wirken und Forschen geleitet von einem aufklärerischen antidogmatischen Wissenschaftsverständnis. Ein Dialog mit dem Kritischen Rationalismus kann die Psychoanalyse anspornen, ihren Wissenschaftlichkeitsanspruch zu klären und ihre Theorien so zu verbessern, dass sie wissenschaftlichen Kriterien besser entsprechen.
Die Hauptaussagen und philosophischen Grundlagen des Kritischen Rationalismus, sowie seine Anwendung in verschiedenen Disziplinen, lassen sich in folgenden Hauptaussagen zusammenfassen.
Ein zentrales Merkmal des Kritischen Rationalismus ist die Auffassung, dass wissenschaftliche Theorien nie endgültig verifiziert, sondern nur falsifiziert werden können. Theorien müssen so formuliert sein, dass sie durch Beobachtungen oder Experimente widerlegt werden können. Dies steht im Gegensatz zum klassischen Positivismus, der die Verifizierbarkeit von Theorien in den Vordergrund stellte und die Formulierungen von abstrakten Theorien auf dem Wege induktiver Methodik forderte.
Popper schlug vor, allgemeingültige Theorien deduktiv zu formulieren, dabei sollten alle wissenschaftlichen Theorien verstanden als Hypothesen offen für Kritik und Überprüfung sein. Diese kritische Einstellung sei essenziell, um den Fortschritt der Wissenschaft zu gewährleisten.
Der Kritische Rationalismus enthält ein vorwissenschaftliches Bekenntnis zum Fallibilismus: Karl Popper glaubte daran, dass menschliches Wissen immer vorläufig und fehlbar ist. Selbst gut bewährte Theorien könnten sich als falsch erweisen und müssten dann durch neue Hypothesen ersetzt werden.
Der Kritische Rationalismus betont Rationalität und Argumentation: Popper forderte, dass wissenschaftliche Diskussionen rational und argumentativ geführt werden. Dies bedeutet, dass Argumente logisch konsistent und durch empirische Evidenz gestützt sein müssen.
Popper fordert eine klare Abgrenzung von Wissenschaft und Pseudowissenschaft. Er führte das Kriterium der Falsifizierbarkeit ein, um wissenschaftliche Theorien von pseudowissenschaftlichen zu unterscheiden. Eine Theorie, die keine Möglichkeit zur Widerlegung bietet, gilt als pseudowissenschaftlich. Dies ist ein Hauptkritikpunt an der Psychoanalyse, wie weiter unten ausgeführt werden wird.
Die philosophische Grundlagen des Kritischen Rationalismus
Popper ist vor allem bekannt als Kritiker aller dogmatischen Ideologien insbesondere von Hegel und Marx und ein entschiedener Kritiker aller totalitärer Systeme. Er nimmt positiv Bezug auf verschiedene philosophische Strömungen, von denen er sich aber auch immer wieder abgrenzt. Hierzu gehören:
Bezug zum Empirismus: Der Kritische Rationalismus baut auf empirischer Forschung auf, erkennt jedoch die Grenzen der Empirie an und betont die Bedeutung theoretischer Konstruktionen.
Bezug zum Rationalismus: Trotz der Betonung der Empirie spielt auch die rationale Analyse und Logik eine zentrale Rolle im Kritischen Rationalismus. Wissenschaftliche Theorien werden durch deduktive Logik getestet und kritisiert.
Bezug zum Logischen Positivismus: Obwohl sich der Kritische Rationalismus in einigen Punkten vom Logischen Positivismus abgrenzt, übernimmt er viele Grundideen, wie die Bedeutung der Beobachtung und die Bedeutung der Widerspruchsfreiheit von Aussagen. Insgesamt hat Popper sich jedoch als Anti-Positivist gesehen, obwohl er fälschlich von Vertretern der Kritischen Theorie als Buhmann-Positivist abgestempelt wurde.
Es gibt einen Bezug zu einem evolutionärer Erkenntnismodell: Wissen wird analog zum Evolutionsbegriff in der Biologie als ein evolutionärer Prozess betrachtet, in deren Verlauf Theorien durch Versuch und Irrtum weiterentwickelt und verbessert werden sollen.
Anwendungen des Kritischen Rationalismus in verschiedenen Disziplinen
Der Kritische Rationalismus hatte teilweise einen großen Einfluss auf die Methoden und Prinzipien der Naturwissenschaften. Insbesondere Albert Einstein begrüßte die Auffassungen Poppers in ihrer Bedeutung für die Naturwissenschaften. Die Idee der Falsifizierbarkeit und die ständige kritische Überprüfung von Theorien sind zentrale Elemente des wissenschaftlichen Fortschritts in Physik, Chemie, Biologie und anderen Naturwissenschaften. Aber auch in den Sozialwissenschaften, Wirtschaftswissenschaften, Politikwissenschaft etc. wird der Kritische Rationalismus angewendet, um Hypothesen über menschliches Verhalten und gesellschaftliche Strukturen kritisch zu prüfen und zu testen.
Die Anwendung des Kritischen Rationalismus auf die Kulturwissenschaften.
Nach Auffassungs Poppers können auch Kulturwissenschaftler die Methode der Falsifikation verwenden, um kulturelle Theorien und Hypothesen zu prüfen. Statt Theorien als endgültig wahr zu betrachten, suchen sie nach empirischen Belegen, die diese Theorien widerlegen könnten. Der Kritische Rationalismus fördert eine offene, antidogmatische und kritische Haltung und kann daher die Kulturwissenschaften in Richtung einer Entideologisierung stärken. Durch die Zusammenarbeit von Historikern, Soziologen, Anthropologen und anderen Disziplinen sollen Hypothesen kritisch geprüft und weiterentwickelt werden.
Zur Kritik der Drei-Welten-Theorie von Karl Popper und das Problem der Übertragbarkeit eines naturwissenschaftlichen Paradigmas auf die Kulturwissenschaften
Die Drei-Welten-Theorie von Karl Popper ist ein philosophisches Konzept, das die Realität in drei verschiedene „Welten“ oder Ebenen unterteilt. Eine ähnliche Trennung in drei Welten kann man im spätantiken Griechenland als Physis, Psyche und Logos finden, bei den Römern als Materia, Intellectus und Ratio und bei Kant formuliert als Außenwelt, Verstand und Vernunft.
Die Drei-Welten-Theorie wurde von Popper erstmals in den 1960er Jahren formuliert.
Welt 1: Die physische Welt, die Welt der physikalischen Realität.
Diese Welt umfasst alles Materielle und Physische, also alle Objekte und Prozesse, die in Raum und Zeit existieren. Dazu gehören nicht nur natürliche Objekte wie Berge und Flüsse, sondern auch von Menschen geschaffene Dinge wie Gebäude und Maschinen.
Welt 2: Die Welt der mentalen Zustände, die Welt des Bewusstseins und der subjektiven Erfahrung.
Diese Welt bezieht sich auf Bewusstsein, subjektive Erfahrungen, Gedanken, Emotionen und mentale Zustände. Hierzu zählen alle inneren Erlebnisse und Zustände des menschlichen Geistes, wie zum Beispiel Schmerzen, Freude, Überzeugungen und Wünsche.
Welt 3: Die Welt der objektiven Inhalte des Geistes, das Wissen und die kulturellen Produkte, die kollektiv und objektiv existieren.
Diese Welt besteht aus den objektiven Inhalten, die aus den mentalen Zuständen der Menschen hervorgehen, wie etwa wissenschaftliche Theorien, mathematische Konstrukte, Geschichten, Kunstwerke und kulturelle Errungenschaften. Diese Inhalte sind unabhängig von den individuellen Bewusstseinszuständen der Menschen, die sie erschaffen haben.
Popper argumentierte, dass diese drei Welten in komplexen Wechselwirkungen zueinander stehen. Zum Beispiel kann eine wissenschaftliche Theorie (Welt 3) durch menschliches Denken (Welt 2) entwickelt werden, und diese Theorie kann dann genutzt werden, um Technologien zu entwickeln, die in der physischen Welt (Welt 1) existieren.
Ein wichtiger Aspekt von Poppers Theorie ist die Betonung der Objektivität der Inhalte in Welt 3. Obwohl diese Inhalte vom menschlichen Geist geschaffen werden, besitzen sie eine eigenständige Existenz und können unabhängig von individuellen Denkprozessen untersucht und diskutiert werden.
Unklar ist, welcher Welt Popper die Sprache zuordnet. Insofern die subjektive Erfahrung nur sprachlich erfasst werden kann, ist die Welt 2 ohne Sprache nicht beschreibbar. Andererseits ist die Sprache etwas überindividuelles und muss auf jeden Fall auch der Welt 3 zugeordnet werden. Insofern Gefühle und Bewusstseinszustände nicht ohne leiblichen Zusammenhang existieren können, kann die Welt 2 nicht unabhängig von der Welt 1 beschrieben werden. Am Beispiel der Sprache wird deutlich, dass die Welten sich tatsächlich nicht säuberlich voreinander unterscheiden lassen und es auch keinen Sinn macht, sie erst unabhängig von einander zu beschreiben, um sie dann mit einander in Interaktion treten zu lassen. Wenn man im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Modell an Zahlen in Welt 3 denkt, die ein Mathematiker im Kopf hat i.S.v. Welt 2, so kann sie ein Ingenieur für eine Konstruktion in Welt 1 verwenden. Die Übertragung auf eine kulturwissenschaftliche Fragestellung ist aber nicht dem naturwissenschaftlichen Paradigma analog. Insofern kann man die Drei-Welten-Theorie problemlos auf naturwissenschaftliche Methodik in einem interaktiven Modell der Drei-Welten-Theorie anwenden, müsste sie aber in Bezug auf die Übertragung in den Kulturwissenschaften in Richtung eines holistischen Modell modifizieren.
Anwendung des Kritischen Rationalismus in Kognitiver Verhaltenstherapie und Psychoanalyse
Der Kritische Rationalismus kann sowohl auf die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT) als auch auf die Psychoanalyse angewendet werden, wobei er in beiden Bereichen unterschiedliche Implikationen und Auswirkungen hat. Hierbei ist zu bedenken, dass Popper den Behaviorismus grundsätzlich kritisch sah, weil er ihn für reduktionistisch hielt. Dies betrifft z.B. die Theorie des Spracherwerbs, wie auch Noam Chomsky zeigte, macht es keinen Sinn, den Erwerb einer Sprache aus Konditionierungen ableiten zu wollen. Ebenfalls war Popper sehr skeptisch gegenüber der Psychoanalyse, die er wegen ihrer Immunisierung gegen Kritik für unwissenschaftlich hielt.
Anwendungsmöglichkeiten des Kritischen Rationalismus auf die Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
Die KVT, die sich inzwischen selbst in Teilen vom Behaviorismus distanziert hat, legt großen Wert auf empirisch fundierte Techniken und Interventionen. Therapeutische Ansätze und Modelle in der KVT werden durch kontrollierte Studien getestet und müssen ihre Wirksamkeit nachweisen. Dies entspricht der kritischen rationalistischen Forderung nach Falsifizierbarkeit und empirischer Überprüfung.
Kontinuierliche Weiterentwicklung: Interventionen und Techniken der KVT werden kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit hin überprüft und bei Bedarf angepasst oder verworfen. Dies steht im Einklang mit dem evolutionären Erkenntnismodell des Kritischen Rationalismus.
In der KVT werden die Gedanken und Überzeugungen der Patienten kritisch hinterfragt. Negative und dysfunktionale Denkmuster werden identifiziert und auf ihre Richtigkeit geprüft, ähnlich wie wissenschaftliche Hypothesen.
Therapeutische Beziehung: Die KVT fördert eine kollaborative Beziehung zwischen Therapeut und Patient, in der beide gemeinsam an der Überprüfung und Veränderung von Denkmustern arbeiten. Dies entspricht der rationalistischen Haltung des gemeinsamen kritischen Diskurses.
Evidenzbasierte Praxis:
In der KVT arbeitet man häufig mit den Methoden von Manualisierung und Standardisierungen: Viele Techniken der KVT sind manualisiert und standardisiert, was eher eine systematische empirische Prüfung ermöglichen soll. Dies fördert die Replizierbarkeit und Überprüfbarkeit der Therapieansätze, ein zentrales Anliegen des Kritischen Rationalismus. Ob damit auch in jedem Falle den subjektiven Bedürfnissen des Patienten Rechnung getragen wird, bleibt eine offene Frage.
Zur Anwendung des Kritischen Rationalismus auf die Psychoanalyse
Zum Vorwurf des Reduktionismus
Der Vorwurf des Kritischen Rationalismus gegenüber der Psychoanalyse betrifft vor allem ihre Immunisierung gegenüber dem Prinzip der Falsifizierbarkeit. Dazu weiter unten. Zunächst möchte ich mich mit dem Vorwurf auseinandersetzen, die psychoanalytischen Theorien seien reduktionistisch. Reduktionismus war der Psychoanalyse zunächst vor allem von Karl Kraus vorgeworfen worden. Diese Kritik an der Psychoanalyse, sie sei unwissenschaftlich weil reduktionistisch, ist teilweise berechtigt, wenn auch nicht in der Form, dass Freud den Sexualtrieben zu viel Bedeutung beigemessen habe, wohl aber in der Hinsicht, dass er einige Triebe, die neben dem Sexualtrieb auch noch bestehen, in seiner Theorie eher ausgeblendet hatte.
Freuds psycho-dynamisches Neurosenmodell basiert stark auf der konflikthaften Beziehung zwischen den psychischen Instanzen von Es und Überich. Wobei das Es im wesentlichen aus den Triebkomponenten Libido und Aggression bestehen soll. Freud konstatierte zwar auch ein Sicherheitsbedürfnis, das er aber mehr als Ich-Interesse einordnet und nicht aus Es-Trieben ableitete. Insofern das Sicherheitsbedürfnis aber primär auf körperliche Unversehrtheit abzielt und die von Freud stark betonte Kastrationsangst hiermit im engsten Zusammenhang steht, müssen alle Ängste, insofern sie köperbezogen sind, auch dem Triebleben zugerechnet werden, da es einem primären Trieb zur Selbstfürsorge entsprechen muss, die körperliche Unversehrtheit zu schützen.
Die Sorge um Angehörige oder die eigene Gemeinschaft wäre dagegen aus einer primären Sorge um Schutzobjekte, einem Bemutterungstrieb, abzuleiten. Diese primäre Sorge um Schutzobjekte begegnet in höheren Entwicklungsstufen des Menschen in sublimierter Form als Sorge um Unversehrtheit größerer gesellschaftlicher und politischer Einheiten wieder und spielt auch eine Rolle bei der Erforschung geopolitischer Risiken etc.
Die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie
Die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie stellt eine Erweiterung der von Freud entwickelten Triebtheorie dar und beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie Menschen ihre inneren und äußeren Beziehungen zu anderen Menschen (den „Objekten“) gestalten. Die Säuglingsforschung hat die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie bestätigt. Durch die empirische Untersuchung frühkindlicher Interaktionen und Entwicklungen konnte sie viele der theoretischen Annahmen überprüfen, wodurch ein tieferes Verständnis der Bedeutung frühkindlicher Beziehungen und deren Einfluss auf die psychische Entwicklung ermöglicht wurde. Vergleiche hierzu auch den Beitrag über Objektbeziehungstheorien.
Intentionalität
Auch die von Franz Brentano beschriebene Intentionalität, sich mit irgend etwas Sinnhaftem in der fiktionalen, belebten oder unbelebten Welt beschäftigen zu wollen oder sogar zu müssen, ist m.E. als Trieb zur Selbstverwirklichung in der jeweils eigenen Lebenswelt aufzufassen, der in Einzelfällen aber durchaus auch beeinträchtigt oder auch extrem gesteigert sein kann, vor allem bei Hochbegabten. Die Intentionalität als Drang zur Beschäftigung mit etwas ist primär auf einer körperlichen Ebene angesiedelt im Sinn von Handlungen, mit den Händen etwas anzufassen, seine räumliche Ausdehnung und Beschaffenheit zu erforschen, letztlich zu begreifen, was erst im Laufe der Zeit auf sublimiertem Wege abläuft im Hinblick auf Religion, Handwerk, Wissenschaft und Kunst. Aber selbst in der Sublimation bleiben die ursprünglich konkreten Aspekte der Intentionalität erhalten, wenn z.B. Wissenschaftler eine Neigungen zur Bibliophilie, Bücher anzufassen, Bücher zu besitzen etc. verspüren. Es wäre also sehr sinnentstellend, wenn man die Intentionalität als etwas nur Geistiges ohne körperlichen Bezug auffassen würde. Ganz im Gegenteil steckt darin der Trieb, sich als einzelner Mensch aber auch als Gruppe wesentlich in der Außenwelt verwirklichen zu wollen, sich in seinen Taten und Handlungen wiedererkennen zu wollen, in einer Kathedrale, die man zusammen gebaut hat, in einem Garten, den man angelegt hat, in einem Buch, das man geschrieben hat, oder in einem Bild, das man gemalt hat. Vergleiche hierzu auch den Beitrag Theorien der Ästhetik.
Die Wesensschau des Menschen, die Beantwortung der Frage: „Wer bin ich?“ oder auch verallgemeinert „Was ist der Mensch?“ ist nur durch seine Entäußerung hinein ins anschaulich-konkrete Partikulare möglich und ist nicht als abstraktes Wesen an sich als etwas völlig Innerliches oder Abstraktes verfügbar. Das Wesen des Menschen an sich ist insofern wie bei Kant das „Ding an sich“ nicht unmittelbar darstellbar, sondern bedarf immer der Konkretion in der Formel, der symbolhaften Beschreibung. Auch der Versuch, die Intentionalität aus der oralen Phase ableiten zu wollen, wäre reduktionistisch und nicht zielführend. Dies auch schon deshalb, weil der Drang zur Selbstverwirklichung und der Drang zur Stimulation der Lippen-Zungen-Gaumen-Zone sehr weit voneinander entfernt liegen und es keinen Sinn macht, das eine aus dem anderen ableiten zu wollen. Ebenso macht des keinen Sinn, die Intentionalität aus dem Bedürfnis nach engen emotionalen Beziehungen ableiten zu wollen.
Triebtheorie komplex verstanden.
Um dem Vorwurf des Reduktionismus zu entgehen, müsste die psychoanalytische Triebtheorie deutlich modifiziert, d.h. erweitert werden. Der Trieb ist im Unterschied zum Instinkt eine biologisch-körperliche Voraussetzung und Notwendigkeit für ein Verhalten, ohne sich in einem bestimmten Verhalten realisieren zu müssen. Der Trieb ist ein Bedürfnis, das nicht beliebig entstehen kann, sondern primär in körperlichen oder besser gesagt: in biopsychosozialen Voraussetzungen seinen Anfang nimmt.
Sinnvoll sind als Triebe (i.S. v. körperlich begründeten Bedürfnissen) anzunehmen:
Dopamin-Belohnungssystem: Das Dopamin-Belohnungssystem motiviert Individuen dazu, bestimmte Handlungen auszuführen, die als belohnend z.B. im Sinne von Genuss empfunden werden. Dieses System ist von entscheidender Bedeutung für die Planung und Durchführung von zielorientierten Handlungen aber auch für Neugier und Exploration. Vergleiche hierzu den Beitrag über das Dopamin-Belohnungssystem.
Libido: Trieb nach sinnlicher Befriedigung durch Stimulation von erogenen Zonen zur Erregungssteigerung – und in Bezug auf die Genitalität – bis zum Orgasmus.
Bemutterung: Trieb, sich um Nachkommen, Schutzobjekte zu kümmern. (Ist komplementär zum Bedürfnis des Kindes nach emotionalem Austausch und verbaler Kommunikation).
Kommunikation als Trieb/Bedürfnis nach emotional bedeutsamen Beziehungen, beginnend mit emotionalem, körperlichem Austausch zwischen Mutter und Kind vor allem vorgeburtlich und nachgeburtlich. Hierzu gehören Spracherwerb, Symbolverwendung, Bedürfnis nach Regulation von Nähe und Distanz. Orientierung im Rahmen von sozialer Organisation, Balance zwischen sozialen Beziehungen und Individuation. Vergleiche hierzu den Beitrag über Objektbeziehungstheorien.
Aggression: Trieb nach Zerkleinerung der Nahrung, Reaktion auf Frustration und Fähigkeit zur Selbstverteidigung. Überschießend auch als Angriff im Sinne einer vermeintlich besten Verteidigungsstrategie. Viele Angriffe erfolgen aber aus einer fiktiven, unterstellten Bedrohungslage oder sind motiviert durch tatsächliche oder unterstellte Mangelzustände. Traditionell wurden Kriege geführt, um sich in Besitz von Arbeitskräften (Sklaven) und Rohstoffen zu bringen und um unterworfene Völker zu Tributzahlungen zu zwingen. Inwiefern der Aggressionstrieb auch für autodestruktive Impulse verantwortlich gemacht werden kann, muss weiter untersucht werden. Jedenfalls ist Freuds Todestriebhypothese ernsthaft zu überprüfen auch hinsichtlich von Autoimmunerkrankungen in der Psychosomatik. Vergleiche hierzu den Beitrag über den Aggressionstrieb.
Narzissmus als Trieb zur Selbstfürsorge, Verteidigung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit: Trieb nach Sicherstellung der körperlichen Versorgung hinsichtlich Schutz, Nahrung, Wärme, Sorge ums Dasein, Befriedigung von Sicherheitsbedürfnissen (äußerlich) und Stabilisierung des Selbstwertgefühls (innerlich). Vergleiche hierzu auch den Beitrag über Genuss versus Zufriedenheit.
Intentionalität: Trieb nach Bezug zu physischen oder fiktiven Objekten der belebten oder nicht belebten Außenwelt, nach Selbstentäußerung, nach Ausdruck und Selbstverwirklichung in der jeweils eigenen Lebenswelt.
Beispiele für Triebmischungen
In der Sorge um sich und Angehörige wäre schon eine erste Triebmischung von Bemutterung und Selbstfürsorge zu erkennen.
In der reifen genitalen Sexualität käme es zur Triebmischung von Libido und Kommunikation.
Beispiele für Triebkonflikte
Dopamin gesteuertes exploratives Verhalten versus soziale Kommunikation.
Libido versus Narzissmus als Trieb zur Selbstfürsorge, Sexuelle Erregung versus Bedürfnis, sich in Sicherheit zu bringen.
Dopamin-Belohnungssystem (Genuss) versus Selbstfürsorge.
Es ist deutlich, dass alle Triebe eng miteinander verzahnt sind. So sind Libido, Intentionalität und Kommunikation beim Erwachsenen sehr eng miteinander verschmolzen oder vermischt, sollten aber dennoch auf ihre unterschiedlichen Quellen hin differenziert betrachtet werden. Es ist auch zu beachten, dass es möglicherweise verschiedene Triebprofile gibt, bei denen die Triebe unterschiedlich gemischt sind. So könnte es sein, dass bei einem kommunikativeren Profil im Durchschnitt Aspekte der defensiven Verteidigung bzw. Selbstpflege, der Kommunikation und der Bemutterung eine größere Rolle spielen als bei anderen Profil, bei dem stärker auf Libido, Aggression und Intentionalität fokussiert wird. Darüber hinaus wären auch noch andere Profile bzw. bevorzugte Mischungsverhältnisse möglich.
Traditionell haben die jeweiligen Religionen Menschen dabei geholfen, die divergierenden Triebe zu bändigen und ihnen einen integrierenden moralischen Rahmen zugewiesen, der in der Regel mit den jeweiligen politischen Herrschaftsstrukturen kompatibel war und nur in Ausnahmefällen zu Konflikten mit der Staatsmacht führte.
Poppers Kritik an der mangelhaften Falsifizierbarkeit psychoanalytischer Theorien.
Poppers Hauptargument, die Theorien der Psychoanalyse seien unwissenschaftlich, weil nicht falsifizierbar, kann an seinem wichtigsten Beispiel, das er zur Untermauerung für seine These anführt, leicht relativiert werden. Gerade seine Kritik an Freuds zentralem Irrtum in seiner Traumtheorie, der Traum versuche immer, einen Wunsch als erfüllt darzustellen, sei von Freud in seiner irrtümlichen Behauptung nie revidiert worden. Dieses Argument ist, insofern es Freud als Person betrifft, vollkommen zutreffend. Freud hat sich tatsächlich geweigert, seinen fundamentalen Irrtum, anzuerkennen und klarzustellen, dass nur wenige Träume tatsächlich Wunscherfüllungsträume sind, und insofern versäumt, seine Theorie an diesem Punkt selbst zu falsifizieren.
Allerdings gilt dies nicht für die psychoanalytische Theorie als solche. Bereits ein Laie wie Popper kann klar erkennen, dass diese Aussage, alle Träume seien Wunscherfüllungsträume, offenkundig falsch ist. Dies ist also eher ein Beweis dafür, dass zentrale Aussagen der Psychoanalyse tatsächlich falsifizierbar sind. Dass Freud sich, obwohl er im Großen und Ganzen kein Dogmatiker war und immer wieder Revisionen seiner Theorien z.B. mit der Einführung des Todestriebs etwa vorgenommen hat, gerade in Bezug auf die Theorie vom Wunscherfüllungstraum starrsinnig blieb, darf man nicht der psychoanalytischen Theorie als solcher anlasten.
Allerdings ist Popper insofern eingeschränkt Recht zu geben, dass epigonale Psychoanalytiker teilweise sehr stark zum Dogmatismus neigten und die psychoanalytische Theorie historisch in der Regel in Ausbildung und Weiterbildung nicht so vermittelt wurde, dass angehende Psychoanalytiker lernten, sich kritisch mit Freud auseinanderzusetzen. Aber auch das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die theoretischen Konstrukte der psychoanalytischen Theorie durchaus falsifizierbar sind, was ja gerade anhand des Beispiels von der irrtümlichen Hypothese, jeder Traum sei ein Wunscherfüllungstraum, bewiesen wurde.
Die Auseinandersetzung der Psychoanalyse mit dem kritischen Rationalismus Poppers lahmt aber vor allem auch an dem nicht recht zum Abschluss gekommen Wissenschaftsverständnis der Psychoanalyse durch die Psychoanalytiker selbst. Dies hat vor allem wissenschaftshistorische Gründe. Weil zur Zeit Freuds das biologische Beschreibungsmodell in der Medizin das einzig akzeptable war und Freud analog zur Erforschung der Infektionskrankheiten ein Neurosenmodell vorlegen wollte, dass einen neurotischen Komplex mit einer Deutung versprach aufzulösen. Diese Fiktion, dass die eine richtige Deutung gegeben werden müsse, führt aber völlig in die Irre, weil sie zur Selbstmystifizierung in Richtung eines nicht haltbaren naturwissenschaftlichen Modells führte. Dies hatte fatale Folgen in theoretischer Hinsicht, in Richtung auf Dogmatismus in der Behandlung von Patienten und hat zur Infantilisierung von angehenden Psychoanalytikern beigetragen. Bedenkt man, dass viele führende Psychoanalytiker u.a. auch wegen des in der Psychoanalyse tradierten Dogmatismus toxische Persönlichkeitszüge hatten, wird verständlich, warum es die Psychoanalyse bisher sehr schwer hatte, gerade mit dem kritischen Rationalismus in einen konstruktiven Dialog einzutreten.
Als eine Voraussetzung für einen Dialog mit dem Kritischen Rationalismus sollte man sich davon verabschieden, aus der Psychoanalyse immer noch eine Naturwissenschaft oder eine Chimäre aus Naturwissenschaft mit erklärenden Elementen und einer Geisteswissenschaft mit verstehenden Elementen zu machen. Diese Versuche landen nur in einer epistemologischen Sackgasse. Es liegt viel näher, die Psychoanalyse als Kulturwissenschaft aufzufassen, zu der die Psychosomatik und die Traumdeutung genauso gehören wie ein psychoanalytisches Verständnis von Entwicklungspsychologie, Spracherwerb, Kunst und Kultur. Insofern müsste man auch den Blick weiten und die Frage aufwerfen, wie der Kritische Rationalismus nicht nur auf die Psychoanalyse, sondern insgesamt auf die Kulturwissenschaften überhaupt angewendet werden kann und welche erfolgreichen Beispiele hierfür bisher geltend gemacht werden können.
Vor allem darf nicht vergessen werden, dass jedes erkenntnistheoretische Modell zunächst für bestimmte Disziplinen vorrangig entwickelt wurde und dann erst stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit. Die Domäne des Kritischen Rationalismus war zunächst einmal die empirische Naturwissenschaft, die Domäne des Konstruktivismus war die Pädagogik, die Domäne des Poststrukturalismus war die Ideologiekritik. Alle diese Strömungen haben Großartiges innerhalb ihrer jeweiligen Anwendungsbereiche geleistet. Ob ihre Methoden auch auf andere Disziplinen mit Erfolg übertragen werden können, bedarf der weiteren Exploration.
Moderne psychoanalytische Ansätze und Therapien haben begonnen, sich mehr auf empirische Forschung zu stützen und stärker auf überprüfbare Hypothesen zu achten. Diese Entwicklung kann als positiver Einfluss des Kritischen Rationalismus gesehen werden, der eine stärkere wissenschaftliche Fundierung fordert. Einige psychoanalytische Schulen integrieren zunehmend Erkenntnisse aus der empirischen Psychotherapieforschung und versuchen, ihre Theorien und Praktiken an diesen Ergebnissen zu orientieren. Fatal wird es, wenn Ansätze, die mehr Wissenschaftlichkeit versprechen selbst wieder zum Dogmatismus oder Krypto-Positivismus neigen.
Vergleiche hierzu den Beitrag zum Krypto-Positivismus.
Zusammenfassung
Der konstruktive Dialog der Psychoanalyse mit dem Kritischen Rationalismus führt m.E. zu mehr Selbstkritik und Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorien und der aus ihr abgeleiteten Praxis. Der Kritische Rationalismus fördert insofern insgesamt eine Haltung der Selbstkritik und der kontinuierlichen Verbesserung. In der Psychoanalyse kann dies bedeuten, dass Therapeuten und Theoretiker offen für Kritik sind und bereit sind, ihre Theorien und Methoden anzupassen und auszudifferenzieren (z.B. in Form von Modifikationen des Settings in Bezug auf bestimmte Krankheitsbilder etc.).
Ein kritischer rationalistischer Ansatz fördert den interdisziplinären Dialog zwischen Psychoanalyse und anderen psychotherapeutischen Ansätzen, was zu einer stärkeren Integration aber auch besseren Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen methodischen Ansätzen in der Patientenbehandlung führen kann.
Der Kritische Rationalismus bietet einen Rahmen für die Kognitive Verhaltenstherapie, der ihre empirische Überprüfung und kontinuierliche Weiterentwicklung unterstützt. In der Psychoanalyse fordert er eine stärkere Ausrichtung auf empirisch überprüfbare Theorien und Methoden, was zu einer kritischeren und wissenschaftlicheren Herangehensweise führen kann. Beide Disziplinen können durch die Prinzipien des Kritischen Rationalismus profitieren, indem sie eine kritische und selbstreflektierende Haltung gegenüber ihren jeweiligen Hypothesen und dogmatischen Selbstmissverständnissen einnehmen und ihre Methoden und Theorien kontinuierlich hinterfragen und weiterentwickeln.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht