Einleitung
Die Psychoanalyse, begründet von Sigmund Freud, war über ein Jahrhundert lang eine der einflussreichsten Theorien zur Erklärung des menschlichen Erlebens und ihrer psychischen Beeinträchtigung durch neurotische Symptome. Ihr Fokus auf das Unbewusste, die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen und die dynamischen Konflikte zwischen verschiedenen psychischen Instanzen prägte nicht nur die Psychotherapie über Generationen, sondern auch die Kultur und Gesellschaft insgesamt. In der Nachfolge Freuds wurde die Psychoanalyse auch kreativ weiterentwickelt. Zu nennen sind u.a. Klein, Bion, Hartmann, Kohut, Mahler und Lichtenberg.
Doch im Laufe der Zeit sah sich die Psychoanalyse sowohl von außen als auch von innen wachsender Kritik ausgesetzt. Ein bedeutender innerer Konflikt ergibt sich aus der Einführung und Verbreitung der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD), die in den 1990er Jahren entwickelt wurde. Die OPD zielt darauf ab, psychoanalytische Konzepte in einem standardisierten und empirisch überprüfbaren Format zu operationalisieren. Während dies von vielen als Fortschritt in der psychodynamischen Diagnostik angesehen wird, gibt es auch Bedenken, dass die Psychoanalyse dadurch ihre Essenz und ihre ursprüngliche theoretische Tiefe verlieren könnte.
Die Grundlagen der Psychoanalyse
Die Psychoanalyse basiert auf der Annahme, dass das menschliche Verhalten weitgehend von unbewussten Prozessen bestimmt wird. Freud entwickelte Konzepte wie das Es, Ich und Über-Ich, um die verschiedenen Aspekte der Psyche und ihr konflikthaftes Zusammenwirken zu erklären. Er betonte die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen und wie diese ungelöste Konflikte und Traumata im Erwachsenenalter beeinflussen können. Die Psychoanalyse konzentriert sich auf das Verstehen und Aufdecken dieser unbewussten Prozesse durch Methoden wie die freie Assoziation, Traumanalyse und Übertragungsdeutung.
Diese Ansätze sind tief in einer hermeneutischen Tradition verwurzelt, die das Verständnis und die Interpretation individueller psychischer Prozesse und Lebensgeschichten betont. Die Psychoanalyse ist somit nicht nur eine Therapieform, sondern auch ein umfassendes theoretisches Modell des menschlichen Geistes und Verhaltens.
Die Entwicklung der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD)
Die OPD wurde als Reaktion auf die Notwendigkeit entwickelt, psychodynamische Konzepte in einer Weise zu standardisieren, die eine wissenschaftliche Überprüfung und breitere klinische Anwendung ermöglicht. Sie stellt eine Kombination aus psychoanalytischen Theorien und modernen diagnostischen Ansätzen dar und zielt darauf ab, psychodynamische Diagnosen zuverlässiger und vergleichbarer zu machen.
Die OPD integriert psychoanalytische Konzepte in ein strukturierteres und empirisch überprüfbares System. Dabei werden mehrere Achsen der Beobachtung verwendet: Diese entsprechen den Aspekten von Symptomatik, Beziehung, Konflikt, Struktur.
Diese Achsen sollen eine differenziertere Diagnose und Planung der Behandlung ermöglichen, indem sie verschiedene Aspekte der psychodynamischen Theorie operationalisieren und in eine diagnostische Matrix integrieren.
Es fällt auf, dass in dieser Matrix der Bereich der Konflikte eher schmal ausfällt und unterrepräsentiert wirkt, insbesondere wenn der ödipale Konflikt nur sinnentstellt referiert wird, während der Bereich der Ich-Strukturellen Defizite einen viel größeren Raum einnimmt. Dies ist umso verwunderlicher, weil der Begriff der OPD ja gerade abgeleitet wurde aus dem Psychodynamischen Modell. Wenn man aber die OPD liest, gewinnt man den Eindruck, dass sie eigentlich besser “Operationalisierte Ich-Strukturelle Diagnostik” heißen sollte.
Es entsteht also der Eindruck, dass die Psychoanalyse versucht, in einer Art von defensiver Bewegung, dem Namen nach an einem psycho-dynamischen Modell festzuhalten, sich aber inhaltlich als Verfahren anbietet, die Mehrzahl der Patienten, die tatsächlich mit ich-strukturellen Defiziten in die Praxen kommen, auch ohne Bezug auf das Konfliktmodell behandeln zu können. Wenn das so wäre, könnte man es ja auch direkt offen ansprechen.
Nebenbei gesagt, ist dieser Bereich der ich-strukturellen Diagnostik überhaupt nichts Neues. Dieser Aspekt der Ich-Analyse stammt aus der psychoanalytischen Ich-Psychologie, die sich bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts besonders in den USA neben der psychoanalytischen Selbstpsychologie entwickelt hatte.
Chancen und Vorteile der OPD
Anspruch und Versprechen: Durch die Standardisierung psychoanalytischer Diagnosen sollte es möglich werden, diese besser mit anderen psychiatrischen Diagnosesystemen, wie dem DSM oder ICD, zu vergleichen. Dies soll die interdisziplinäre Zusammenarbeit erleichtern und die Akzeptanz tiefenpsychologischer Diagnosen in der medizinischen und wissenschaftlichen Gemeinschaft erhöhen. Zudem soll die OPD eine klarere und präzisere Kommunikation zwischen Therapeuten ermöglichen, was die Planung und Durchführung von Behandlungen effizienter gestalten soll.
Die OPD soll auch die empirische Forschung im Bereich der Psychoanalyse fördern, da sie verspricht, klar definierte Kriterien anzubieten, die wissenschaftlich überprüfbar sind. Dies soll dazu beitragen, die psychoanalytische Theorie und Praxis zu modernisieren und an aktuelle wissenschaftliche Standards anzupassen.
Die Transformation der Psychoanalyse in Tiefenpsychologie durch die OPD
Trotz der genannten Vorteile gibt es kritische Stimmen, die argumentieren, dass die OPD eine Modernisierung der Psychoanalyse in Form von deren Selbstkannibalisierung darstellt und aus der Psychoanalyse stillschweigend eine Tiefenpsychologie gemacht wird, in der vorwiegend an ich-strukturellen Defiziten gearbeitet wird. Diese Kritik basiert auf der These, dass die OPD die Psychoanalyse in eine Form einer Tiefenpsychologie presst, die ihre ursprünglichen Grundlagen infrage stellt.
Ursprünglich verstand man unter Tiefenpsychologie ein Verfahren, dass Psychoanalytiker anwenden, wenn das analytische Standardverfahren nicht indiziert ist. Wobei der Begriff der Tiefenpsychologie heute keiner Definition mehr standhält, weil mittlerweile auch übende Verfahren wie EMDR oder Psychoedukation unter dieser Ziffer der Tiefenpsychologie abgerechnet werden.
Nach außen wird also proklamiert, es ginge es noch wesentlich um Psychodynamik bei der Tiefenpsychologie, nach innen wird dieser Bereich aber eher abgebaut und durch übende Verfahren und Psychoedukation ersetzt.
Reduktion der Komplexität: Die Psychoanalyse lebte von ihrer tiefen, komplexen und oft mehrdeutigen Interpretation menschlicher Erfahrungen und innerer Konflikte. Die Transformation in Tiefenpsychologie und deren Standardisierung durch die OPD könnte dazu führen, dass diese Komplexität verloren geht. Indem marginalisierte psychodynamische Konzepte und ich-strukturelle Defizite operationalisiert und quantifiziert werden, läuft man Gefahr, die individuellen Nuancen und die Komplexität der menschlichen Psyche zu übersehen.
Verlust der hermeneutischen Tiefe: Die OPD könnte die Psychoanalyse in Gestalt einer modernisierten Tiefenpsychologie auf eine diagnostische Methode reduzieren, die den komplexen hermeneutischen Ansatz der ursprünglichen Psychoanalyse verdrängt. Diese Reduktion könnte dazu führen, dass dann auch die therapeutische Arbeit weniger komplex wird und sich mehr auf oberflächliche Symptome wie Affektregulation etc. konzentriert, anstatt die tieferen unbewussten Prozesse zu erforschen.
Was kaum stattfindet, ist ein breiterer Diskurs zu dem Thema, ob diese Prozesse der Transformation, vielleicht tatsächlich den heutigen Bedürfnissen moderner Menschen eher entgegenkommt. Möglicherweise ist die Beschäftigung mit dem Unbewussten, die im 19.Jahrhundert noch eine große Faszination auslöste, für den heutigen Menschen, der Selbsterfahrung eher durch Selbstreflexion ersetzt, mehr und mehr obsolet.
Anpassung an ein medizinisch-psychiatrisches Modell: Durch die Anpassung an ein medizinisch-psychiatrisches Modell besteht die Gefahr, dass die Psychoanalyse in Form einer vorwiegend ich-strukturell und übend arbeitenden Tiefenpsychologie ihre Autonomie und ihre Identität verliert. Die ursprüngliche Psychoanalyse war kein rein medizinisches Modell, sondern ein umfassenderer Ansatz, der psychische und soziale Phänomene in ihrer gesamten Komplexität betrachtet. Die OPD könnte diesen Ansatz verwässern und die Psychoanalyse als Tiefenpsychologie zu einer weiteren Methode in der medizinischen Diagnostik und Behandlung machen.
Wissenschaftliche Validierung vs. therapeutische Wirksamkeit: Ein weiteres Problem ist, dass die wissenschaftliche Validierung durch die OPD nicht notwendigerweise mit einer höheren therapeutischen Wirksamkeit einhergeht. Die psychoanalytische Therapie basiert oft auf subtilen, nicht direkt messbaren Veränderungen im Patienten, die durch die OPD möglicherweise nicht erfasst werden können.
Ist die OPD nun ein Fortschritt oder Rückschritt?
Die Entwicklung der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik wird in der wissenschaftlichen Welt als ein bedeutenden Fortschritt in der psychodynamischen Diagnostik gefeiert und soll viele Vorteile bieten, insbesondere in der interdisziplinären Zusammenarbeit und der wissenschaftlichen Forschung. Tatsächlich fokussiert sie aber mehr auf ich-strukturelle Defizite. Dies eröffnet zwar Chancen, birgt aber auch die Gefahr, dass die Psychoanalyse durch ihre Transformation in eine Tiefenpsychologie, die nur noch dem Namen nach psychodynamisch arbeitet, ihre ursprüngliche Tiefe und Komplexität verliert. Diese Entwicklung wird von vielen Psychoanalytikern als eine Form der Selbstkannibalisierung betrachtet, bei der die Psychoanalyse ihre Essenz zugunsten einer Anpassung an moderne wissenschaftliche und medizinische Standards opfert.
Es bleibt eine zentrale Aufgabe der psychoanalytischen Gemeinschaft, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Notwendigkeit, sich weiterzuentwickeln und den Anforderungen der modernen Wissenschaft gerecht zu werden, und der Bewahrung der komplexen und oft schwer fassbaren Natur der menschlichen Psyche, die die Psychoanalyse ursprünglich auszeichnete. Die Herausforderung besteht darin, die Psychoanalyse zu modernisieren, ohne sie ihrer grundlegenden Prinzipien zu berauben.
Ausblick und Trost
Aber selbst wenn es schlimmstenfalls so sein sollte, dass die etablierten Psychoanalytiker in ihrer Passivität einfach verharren oder vielleicht noch eine Genugtuung darin finden, dass Psychoanalyse in Tiefenpsychologie transformiert oder in Psychodynamische Therapie umbenannt wird, um damit ihre vermeintliche Wissenschaftlichkeit zu retten, so sei doch angemerkt, dass die geistigen Inhalt der Psychoanalyse längst vor Freud entwickelt worden waren und zwar u.a. von Schopenhauer, Nietzsche und Dostojewski. Letztlich geht die Tradition des kulturkritischen Denkens und des Gespürs für das Unbewusste zurück bis auf Sophokles. Diese Heroen des Geistes wird man auch durch eine Selbstkannibalisierung der Psychoanalyse nicht zum verstummen bringen können. Weiterlesen in meinem Beitrag über Wegbereiter bei der Erforschung des Unbewussten.
Es gibt übrigens eine Parallele in der Entwicklung des Christentums: Letztlich wurde durch die Transformation der jasuanischen Botschaft und der paulinischen Theologie in die Doktrinen der katholischen Kirche durch Augustinus zwar ein großer vermeintlicher Fortschritt im Sinne des Aufbaus einer Orthodoxie erzielt. Doch die Freude währte nicht lange. Zwar war die katholische Kirche dann Staatsreligion, aber wenige Jahre später fiel Rom an die Ostgoten, was den Untergang der Spätantike beschleunigte und dann auch letztlich dazu führte, dass für etliche Jahrhunderte die meisten Schriften von Aristoteles nicht einmal mehr in lateinischer Übersetzung zugänglich waren. Dies war ganz explizit auch eine Folge der Hinrichtung des Philosophen Boethius durch den Ostgotenkaiser Theoderich. Zum Christentum weiterlesen in meinem Beitrag über die Entwicklung des Urchristentums bis zur katholischen Kirche
Das Christentum hat sich trotz allem dennoch erneuern können, wenn auch nicht aus der katholischen Kirche heraus. Dafür ist eine gewachsene Orthodoxie, wenn sie sich erst einmal herausgebildet hat, vermutlich nicht mehr kreativ genug. Aber der menschliche Geist ist und bleibt neugierig und insofern kann man darauf vertrauen, dass auch die kreativen geistigen Inhalte der Vorläufer Freuds überleben werden, selbst wenn die psychoanalytische Orthodoxie jetzt meint, unter dem Schutzmantel einer OPD epistemologisch überleben zu müssen. Spätestens bei der nächsten Nietzsche oder Schopenhauer Renaissance könnte man die kulturkritischen Gehalte auch der Psychoanalyse Freuds wieder ausgraben. Freud, der ja selbst Hobby-Archäologe war, könnte dann selbst irgendwann zum Objekt von Archäologen des Geistes werden, die sich mit der Verwissenschaftlichung moderner reduktionistischer Konstrukte in Form von Manualen zur Therapiegestaltung nicht begnügen mögen.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht