Einleitung: Freud und Lacan
Die wichtigste Überschneidung zwischen Freud und Lacan ist die unterschiedliche Konzeptionen des Unbewussten bei Lacan und Freud: Das Unbewusste entsteht einerseits bei Freud aus Körpererfahrung und bei Lacan aus der Sprachpraxis. Bei Freud befindet sich der Mensch im unbewussten Konflikt zwischen dem,was er meint zu begehren und dem von dem er meint, es sich versagen zu müssen. Bei Lacan ist der Mensch im existenziellen Konflikt zwischen der Erfahrung des Zugetextet werden und seiner befreiten Existenz als sprechenden Subjekt. Persönlichkeitsentwicklung bei Lacan bedeutet einen Weg zurückzulegen vom Begehren-müssen zum selbstbestimmten Handeln des emanzipierten Subjekts.
Die Unterscheidung zwischen Freuds und Lacans Auffassung des Unbewussten lässt sich entlang der Achse – Körperlichkeit versus Sprache – nachzeichnen. Diese Differenz spiegelt die verschiedenen theoretischen Ausgangspunkte und Zielsetzungen der beiden Vertreter der Psychoanalyse wider.
Freud: Das Unbewusste als biopsychosozialer Funktionszusammenhang
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, entwickelte das Konzept des Unbewussten als einen zentralen Bestandteil seiner Theorie der menschlichen Psyche. Für Freud war das Unbewusste vor allem in seiner Konzeption des Es stark mit dem Körper und den biologischen Trieben verbunden. Einige zentrale Punkte hierzu:
Triebtheorie
Freud betrachtete das Unbewusste im Sinne des Es als einen Ort, an dem grundlegende biologische Triebe, insbesondere die Sexualtriebe und der Todestrieb (Eros und Thanatos), operieren. Diese Triebe sind tief im Körper verankert und bestimmen weitgehend die psychische Dynamik des Individuums. Die Energie dieser Triebe (Libido) sucht nach Befriedigung, und das Unbewusste ist der Ort, an dem diese Triebe, wenn sie durch soziale Normen und die bewusste Kontrolle nicht direkt ausgelebt werden können, ihre Befriedigung in symbolischen Formen oder neurotischen Symptomen suchen. Die libidinöse Befriedigung erfolgt nach Freud rein körperlich betrachtet entlang der erogenen Zonen, die er mit der des Mundes beginnen lässt. Für Freud ist deshalb das Begehren nicht etwas beliebiges, ein kulturell geprägtes Phänomen, sondern es ist durch bestimmte biologische Voraussetzungen vorgegeben. Wäre der Mund nicht die erste erogene Zone, würde vermutlich das Stillen, bzw. die Nahrungsaufnahme des Säuglings beeinträchtigt sein und damit eine existenzielle Bedrohung vorliegen. Dass Säuglinge auch noch andere Wahrnehmungsorgane haben und Objektbeziehungen eingehen ist später differenzierter erforscht worden, widerlegt aber nicht grundsätzlich die Bedeutung der oralen Phase für den Beginn der psycho-sexuellen Entwicklung. Vielmehr macht es durchaus Sinn, andere Motivationssysteme wie den Wunsch nach Nähe, Wärme, Geborgenheit, emotionalen Austausch ebenfalls als triebhaft anzunehmen.
Symptome und Körperlichkeit
Viele freudsche Konzepte wie die „Konversion“ (in der Hysterie) zeigen, wie psychische Konflikte, die im Unbewussten bzw. im Konflikt der Instanzen zwischen dem Es und dem Überich angesiedelt sind, sich in körperlichen Symptomen ausdrücken. Freud verstand das Unbewusste im Sinne des Es auch als einen Bereich, in dem psychische Konflikte, die aus der Verdrängung entstehen, somatische Manifestationen haben können. Hier zeigt sich die enge Verbindung zwischen Körper und Psyche in Freuds Theorie.
Biopsychosozialer Ansatz
Freud sah das Individuum eingebettet in einen biopsychosozialen Kontext. Das Unbewusste war für ihn nicht nur ein isolierter psychischer Bereich von unbewussten Gedanken innerhalb des Ich, sondern stand in enger Wechselwirkung mit körperlichen Prozessen (Triebe), sozialen Normen (Über-Ich) und der Realität, die intrapsychisch vom Ich repräsentiert wird. Diese integrative Sichtweise verbindet das Körperliche, das Psychische und das Soziale.
Zivilisationskritische Perspektive
Freud ist von verschiedenen Kritikern, so z.B. von MacIntyre, vorgeworfen worden, dass er das Unbewusste unhistorisch konzipiert habe und bestimmte Konflikte im Bürgertum am Ende des 19. Jahrhundert illegitim verallgemeinert habe. Diese Kritik ist allerdings zu pauschal. Denn in seinem Rückgriff auf Sophokles und dessen Theaterstück “König Ödipus”, lokalisiert er das inzestuöse Begehren und seine Abwehr durch Tabu und angedrohte Bestrafung historisch am Beginn der westlichen Zivilisation. Darüber hinaus hat er in seiner Schrift, das Unbehagen in der Kultur explizit versucht, die Unterdrückung der Triebe in der Zivilisation als wesentlichen Grund für neurotische Störungen zu beschreiben. Damit ist für Freud aber eine Aporie verbunden. Weder kann man die Zivilisation bewahren, ohne die Triebunterdrückung fortzusetzen, noch kann die Triebunterdrückung jemals so perfekt gelingen, dass z.B. Kriege nicht mehr ausbrechen würden.
Lacan in der Nachfolge oder Antithese zu Freud?
Obwohl Lacan sich als einzigen legitimen Nachfolger Freuds sah, ist er wie kein anderer von dessen Theorien abgewichen. Dies betrifft sowohl Freuds Konzeption des Unbewussten als auch seine Triebtheorie.
Insofern Freud zwischen dem deskriptiv und dem verdrängt Unbewussten unterscheidet und darüber hinaus das Es als Urgrund allen psychosomatischen Geschehens annimmt, kann auf keinen Fall unterstellt werden, dass für Freud das Unbewusste mit dem Es identisch sein könnte. Vielmehr wird das Unbewusste zum großen Teil aus Gedanken und Gefühlen bestehen, die entweder momentan nicht bewusst sein oder aber der Verdrängung unterliegen. Nur die verdrängten Ich-Inhalte könnte man dem Es zurechnen. Da die Ich-Inhalte insofern sie bewusst werden können, immer auch symbolisch strukturiert sein müssen, kann man davon ausgehen, dass auch Freud von einer prinzipiellen symbolischen Struktur des Unbewussten ausgeht, so weit es sich um Anteile des Ich und des Überichs handelt.
Lacans Auffassung vom Unbewussten
Lacans These, das Unbewusste sei ganz allgemein strukturiert wie eine Sprache, unterstellt aber, dass jegliches Unbewusstes, auch das außerhalb des Ich und vor allem die im Es angesiedelten Triebimpulse auch wie eine Sprache strukturiert seinen. Dies ist aber im höchsten Maße unfreudianisch und auch unplausibel.
Lacans Theorie des Realen
Dass es eine natürliche Grenze gibt zwischen der symbolischen Ordnung psychischer Funktionen und einem davon nicht mehr erfassten, integriert Lacan mit seiner Theorie des Realen. Das Reale ist für ihn das Unaussprechliche, das Unheimliche schlechthin, der Bereich des Erlebens, der sprachlich nicht mehr beschrieben oder erfasst werden kann. So wie Lacan das Reale beschreibt, denkt er aber dabei nicht an tieferliegende psychosomatische Prozesse wie etwa den Gallenfluss, die symbolisch nicht mehr repräsentiert werden können, sondern er beschreibt das Reale mehr im Sinne eines absolut tabuisierten Wahrnehmungsgegenstandes, der so stark tabuiert ist, dass er sich jeglicher Beschreibung entzieht. Das Reale ist damit im Grunde nicht etwas inner-körperliches psychosomatisches, sondern das Reale ist etwas Kulturelles, was sich aber als Kulturobjekt qua Tabu nicht symbolisch repräsentieren lässt. Die Aporie beginnt jetzt an der Stelle, wo das Begehren sich auf diesen Aspekt der Kultur richtet, der außerhalb der symbolischen Ordnung sich befindet. Zu denken wäre etwa an Freuds Beschreibung von frühkindlichen Verführungen, wo Kinder sexuell stimuliert wurden, ohne dass sie die Fähigkeit gehabt hätten, zu verstehen, was da mit ihnen gemacht wurde. Auch Lacan könnte sich von seiner Mutter vorsprachlich verführt gefühlt haben, ohne das er diese Verführung sprachlich hätte beschreiben können.
In seiner Auseinandersetzung mit dem Apostel Paulus weist er hin auf dessen Kritik am jüdischen Gesetz, dass es eben auch den Nachteil in sich enthalte, dass der Sünder durch das Verbot erst hingewiesen werde auf die Möglichkeit der Sünde und das sündhafte Begehren. Wenn z.B. Lacan von der Mutter das Verbot sich anhören musste, dass es verboten sei, die Mutter nackt anzusehen, so wird er sich durch dieses Verbot erst eine Vorstellung von der nackten Mutter gemacht haben können und ein entsprechendes Begehren entwickeln können, ohne dass er selbst von sich aus die Gelegenheit gehabt haben konnte, die Mutter nackt zu sehen und die Erfahrung zu machen, ob ihn das erregt oder nicht. Am Beispiel des Paulus wird deutlich, dass die Verbote dem Begehren vorausgehen können und es leiten können. Ähnliche Gedanken finden sich übrigens auch in Goethes Wahlverwandtschaften als Kritik am Katechismus. Ein so kontaminiertes Begehren wird immer unsicher sein, ob es ein Reflex ist auf ein Verbot oder ob es aus einem authentischen Triebwunsch entstanden ist.
Insofern kein Kind in eine Welt hineingeboren wird, in der nicht schon implizite oder explizite Verbote wirksam sind, ist natürlich eine Auffassung, wie Freud sie entwickelt, dass es zunächst einen authentischen Triebwunsch gibt, der dann von den Eltern oder dem Vater oder der Gesellschaft sanktioniert wird, etwas naiv. Aber andererseits würde es auch zu weit gehen, wenn man postulierte, dass jedes sündhafte Begehren erst durch das Verbot entstünde. Vermutlich sind tabuisiertes Begehren und Tabu schon immer aufeinander bezogen und die Frage, wer zuerst da war, ist der Streit um Henne oder Ei. Auf jeden Fall sind Lacans Überlegungen zum Begehren nicht trivial.
Lacans Sprachtheorie
Noch interessanter ist eigentlich Lacans Sprachtheorie, in der er davon ausgeht, dass die symbolischen Formen nicht nur dazu da sind, dass sie verwendet werden, um sich auszudrücken. Eine etwas naive Vorstellung des Spracherwerbs würde davon ausgehen, dass ein Kind die Sprache erlernt, um seine Bedürfnisse mitzuteilen. Dies ist sicherlich auch der Fall. Aber bevor ein Kind so weit entwickelt ist, sich selbst auszudrücken und die Sprache im eigenen Sinne zu verwenden, ist es schon lange von der Sprache der Erwachsenen, insbesondere von der Sprache der Mutter, kolonialisiert worden. Es hat bereits die Sprache der Mutter, die ja alle Wünsche und Verbote bezüglich des Kindes schon enthält, verinnerlicht, die es dann benutzen kann, um sich selbst zu artikulieren. Auch hier könnte man vermuten, dass ein authentischer Sprachgebrauch gar nicht möglich ist. Vielmehr zu erwarten wäre, dass das Kind die Sprache so verwendet, wie es sie von der Mutter gelernt hat und unbewusst deren Begehren und Verbote, die mit deren Sprachverwendung untrennbar verbunden sind, reproduziert und so sich in einem unentwirrbaren Chaos von eigenen Wünschen und Erwartungen der Mutter verstrickt fühlen muss, ohne eine Sprache dafür zu haben, dieses Chaos aufzulösen, weil das Kind nur die Sprache der Mutter verwenden kann, um sich selbst zu artikulieren. Wenn diese Sprache aber schon von vornherein durch das Begehren und die Verbote der Mutter kontaminiert war, müsste das Kind, um sich von einer übergriffigen, unempathischen Mutter abgrenzen zu können, eine neue eigene Sprache für sich selbst neu erfinden. Das mit Worten der Mutter vollgestopfte oder “vollgetextete” Kind wäre unfähig, sich selbst als authentisch zu erfahren und ohne Aussicht auf eine eigene Sprache nur im Konflikt leben könnte zwischen resignativem Mutismus oder hilfloser, unverstandener Imitation.
Lacan: Das Unbewusste wird verstanden als Niederschlag der Sprachpraxis
Jacques Lacan reformulierte und erweiterte Freuds Theorie des Unbewussten, indem er den Fokus von der biologischen Dimension auf die linguistische und symbolische Dimension verlagerte. Für Lacan ist das Unbewusste weniger ein Ort der Triebe, sondern ein Effekt der Sprache:
Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache: Lacans bekanntes Diktum „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ betont, dass das Unbewusste in der symbolischen Ordnung der Sprache existiert. Es besteht aus Signifikanten, die sich in der Sprache manifestieren und deren Bedeutung nie vollständig fixiert ist. Das Unbewusste äußert sich durch sprachliche Symptome wie Versprecher, Fehlhandlungen und Träume, die alle als Text gelesen werden können.
Symbolische Ordnung: Für Lacan wird das Subjekt durch den Eintritt in die symbolische Ordnung (die Welt der Sprache und der sozialen Normen) konstituiert. Diese Ordnung ist, anders als bei Freud, nicht primär biologisch-leiblich, sondern sprachlich-kulturell. Das Begehren des Subjekts ist daher in den Strukturen der Sprache verankert und wird durch sie geformt und vermittelt.
Körperlichkeit und das Reale: Während Lacan das Unbewusste primär in der Sprache verortet, negiert er nicht die Bedeutung des Körpers. Er unterscheidet zwischen dem Symbolischen (Sprache), dem Imaginären (Bilder) und dem Realen (das, was sich der Symbolisierung entzieht). Das Reale umfasst Aspekte der Körperlichkeit, die nicht vollständig in Sprache gefasst werden können und daher als eine Art „Rest“ bestehen bleiben. Dennoch bleibt das Hauptaugenmerk bei Lacan auf der symbolischen, sprachlichen Dimension des Unbewussten.
Zusammenfassung
Man kann sagen, dass Freud das Unbewusste stark in der Körperlichkeit und den biologischen Trieben des Individuums verwurzelt sieht, wobei diese Triebe in einem biopsychosozialen Zusammenhang stehen. Das Unbewusste ist bei Freud der Ort, an dem verdrängte Triebimpulse, die im Körper verankert sind, wirken und sich durch Symptome äußern.
Lacan hingegen verschiebt den Schwerpunkt auf die Sprache und die symbolische Ordnung, in die das Subjekt eingebunden ist. Für ihn ist das Unbewusste ein Effekt der Sprachpraxis, eine Struktur aus Signifikanten, die das Begehren des Subjekts organisieren. Während das Körperliche bei Lacan nicht negiert wird, ist es doch die Sprache, die das Unbewusste konstituiert und strukturiert. Der Mensch bei Lacan funktioniert wie eine Romanfigur eines Schriftstellers, der auch nur durch die Sprache des Autors lebendig werden kann, einen Körper, eine Sprache, Emotionen erhalten kann.
Diese Verschiebung von der biologischen zur sprachlichen Dimension des Unbewussten zeigt, wie Lacan Freuds Theorie weiterentwickelt und neu interpretiert hat, um die Rolle der Sprache in der psychischen Dynamik stärker zu betonen.
Konzept des „Begehrens“ bei Lacan
Das Konzept des „Begehrens“ („désir“) ist eines der zentralen und komplexesten Themen in Jacques Lacans psychoanalytischer Theorie. Es spielt eine entscheidende Rolle in seiner Analyse des menschlichen Subjekts und seiner Beziehungen zu sich selbst und zu anderen. Um das Begehren bei Lacan zu verstehen, ist es wichtig, mehrere Schlüsselideen und ihre Verknüpfungen zu betrachten:
Begehren und das Unbewusste
Wie eine Sprache strukturiert: Für Lacan ist das Unbewusste „wie eine Sprache strukturiert“. Das bedeutet, dass das Begehren nicht direkt zugänglich ist, sondern sich in den symbolischen Strukturen der Sprache ausdrückt. Das Begehren ist immer unbewusst und manifestiert sich in den Lücken, Brüchen und Fehlleistungen der Sprache, etwa in Versprechern, Träumen oder Witzen.
Begehren als Mangel
Begehren und das „Objekt klein a“: Lacan beschreibt das Begehren als strukturell mit einem Mangel verbunden. Das Subjekt begehrt, weil es einen Verlust oder einen Mangel empfindet, der nie vollständig befriedigt werden kann. Dieser Mangel wird durch das „Objekt klein a“ (Objekt klein „a“, auf Französisch „objet petit a“) symbolisiert, das Lacan als das Objekt des Begehrens bezeichnet. Es ist ein imaginäres Objekt, das das Subjekt begehrt, um seinen Mangel zu füllen, aber es ist letztlich unerreichbar und bleibt immer ein wenig außerhalb des Greifbaren.
Begehren des Anderen
„Das Begehren ist das Begehren des Anderen“: Ein berühmtes Lacanianisches Axiom lautet: „Das Begehren ist das Begehren des Anderen“ („le désir de l’Autre“). Dies bedeutet, dass das Subjekt nicht einfach „seine eigenen“ Wünsche hat, sondern dass seine Wünsche durch den Anderen (die symbolische Ordnung, die Gesellschaft, andere Menschen) vermittelt werden. Das Subjekt begehrt, was es annimmt, dass der Andere begehrt. Das Begehren ist somit immer auf den Anderen ausgerichtet und in einem Netzwerk sozialer Beziehungen verstrickt.
Das Begehren und das Spiegelstadium
Spiegelstadium und Ich-Bildung: Lacan betont, dass das Begehren mit der Bildung des Ichs im „Spiegelstadium“ beginnt. In diesem Stadium erkennt das Kind sein Spiegelbild als Ganzes und beginnt, sich als einheitliches Ich zu erleben. Doch diese Ganzheit ist eine Illusion, da das Subjekt von nun an immer das begehren wird, was es in dieser Illusion des vollkommenen Selbst zu finden glaubt, aber in der Realität nie erreichen kann. Dies trägt zum anhaltenden Gefühl des Mangels bei, das das Begehren antreibt.
Begehren und das Symbolische
Symbolische Ordnung und Gesetze des Begehrens: In der symbolischen Ordnung (der Welt der Sprache und der Gesetze) wird das Begehren strukturiert. Hier treten die „Namen-des-Vaters“ (Nom-du-Père) auf, welche die ursprüngliche Bindung des Kindes an die Mutter durchbrechen und das Subjekt in die Welt der symbolischen Gesetze einführen. Diese Gesetze bestimmen, was begehrenswert ist und was nicht. Das Begehren ist also nicht einfach biologisch oder individuell, sondern durch kulturelle und sprachliche Normen geprägt.
Begehren und Genuss (Jouissance)
Genuss und Begehren: Lacan unterscheidet zwischen „Begehren“ und „Genuss“ (jouissance). Während das Begehren immer auf einen Mangel hinweist und darauf zielt, etwas zu erreichen, das ihm fehlt, ist der Genuss ein Exzess, der über das Begehren hinausgeht und oft mit Schmerz oder Zerstörung verbunden ist. Das Begehren hält das Subjekt in Bewegung und auf der Suche, während der Genuss eine gefährliche Grenze darstellt, die das Subjekt überfordert.
Zusammenfassung
Das Begehren bei Lacan ist ein komplexes, strukturell verankertes Phänomen, das das Subjekt in einer ständigen Suche nach etwas hält, das es nie vollständig erreichen kann. Es ist untrennbar mit der symbolischen Ordnung, dem Anderen und dem Gefühl des Mangels verbunden. Das Begehren treibt das Subjekt an und formt seine Identität und seine Beziehungen, bleibt aber letztlich immer unbefriedigt und führt das Subjekt auf eine endlose Suche nach dem, was ihm fehlt.
Das Begehren ist immer schon kontaminiert durch die Erwartungen der anderen.
Die Vorstellung von einem kontaminierten Begehren Erinnert an Schopenhauer der konstatiert, dass Menschen zwar einen Willen haben, dass sie aber nicht selbst wollen können, was sie wollen. die Kontamination bei Schopenhauer entsteht durch das Unbewusste, das Triebhhafte, während es bei Lacan keinen authentischen Trieb gibt. Die Kontamination des Wollens geschieht durch die Erwartungen der anderen.
Das Begehren bei Lacan ist ein komplexes Konzept, das sich nicht einfach auf die Vorstellung reduzieren lässt, dass Menschen nur das begehren, was sie meinen, aus der Sicht ihrer Eltern begehren zu sollen. Dennoch spielt die Beziehung zu den Eltern, insbesondere im Rahmen der symbolischen Ordnung, eine wesentliche Rolle in der Formierung des Begehrens.
Begehren und die symbolische Ordnung
Eintritt in die symbolische Ordnung: In Lacans Theorie tritt das Subjekt in die symbolische Ordnung ein, sobald es die Sprache erlernt und sich den sozialen und kulturellen Normen unterwirft. Die symbolische Ordnung wird stark durch die Eltern und deren Werte, Erwartungen und Wünsche geprägt, insbesondere durch die Figur des „Namen-des-Vaters“ (Nom-du-Père), der die ursprüngliche symbiotische Beziehung zur Mutter unterbricht und das Kind in die Welt der Gesetze und Normen einführt.
Das Begehren des Anderen
„Das Begehren ist das Begehren des Anderen“: Dieses Lacanianische Axiom bedeutet, dass das Subjekt nicht einfach aus sich heraus begehrt, sondern das Begehren in Bezug auf den Anderen entwickelt, d.h. es begehrt, was es glaubt, dass der Andere begehrt. Dieser „Andere“ beginnt oft mit den Eltern, aber es ist nicht auf sie beschränkt. Das Begehren ist somit immer in einem sozialen und symbolischen Kontext verankert, und es spiegelt die Erwartungen, Normen und Wünsche wider, die das Subjekt durch den Anderen vermittelt bekommt.
Nicht-authentisches Begehren?
Begehren und Authentizität: Das Begehren bei Lacan kann als „nicht authentisch“ erscheinen, weil es stark von den symbolischen Strukturen und den Wünschen des Anderen geprägt ist. Es gibt jedoch bei Lacan keine klare Unterscheidung zwischen „authentischem“ und „nicht-authentischem“ Begehren im Sinne einer moralischen oder psychologischen Wertung. Vielmehr zeigt Lacan, dass das Begehren immer schon in einem Netz von Beziehungen und Bedeutungen verstrickt ist, das durch die Sprache und die symbolische Ordnung vermittelt wird. Das bedeutet, dass das Begehren nie rein individuell oder unabhängig ist.
Elterliche Wünsche und das Subjekt
Elterliche Prägung des Begehrens: Die Eltern spielen eine zentrale Rolle bei der Formung des Begehrens des Subjekts, insbesondere in den frühen Stadien der psychischen Entwicklung. Das Kind nimmt unbewusst die Wünsche, Erwartungen und Verbote der Eltern auf und integriert sie in sein eigenes Begehren. Das, was das Kind begehrt, ist oft eine Reaktion auf das, was es wahrnimmt, dass seine Eltern (oder die elterlichen Stellvertreter) von ihm erwarten. Dennoch ist dieses Begehren nicht vollständig determiniert oder vorherbestimmt durch die Eltern; es bleibt immer ein Raum für Subversion, Missverständnisse und Umdeutungen.
Der „Namen-des-Vaters“ und die Subversion des Begehrens
Gesetz und Subversion: Der „Namen-des-Vaters“ repräsentiert das Gesetz und die symbolische Ordnung, die das Begehren formt und kanalisiert. Aber gleichzeitig gibt es in Lacans Theorie auch die Möglichkeit der Subversion oder Umdeutung dieses Gesetzes. Das Subjekt kann das Begehren, das ihm von der symbolischen Ordnung aufgezwungen wird, auf unvorhersehbare Weisen umleiten oder neu interpretieren. Dies bedeutet, dass das Begehren nicht vollständig durch die elterlichen Wünsche oder sozialen Normen determiniert ist, sondern immer Raum für kreatives oder abweichendes Begehren bleibt.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Begehren bei Lacan zwar stark von den symbolischen Strukturen und den Wünschen des Anderen geprägt ist, aber es wäre verkürzt zu sagen, dass es einfach ein „nicht authentischer Triebwunsch“ ist, der nur darauf basiert, was Menschen meinen, aus der Sicht ihrer Eltern begehren zu sollen. Das Begehren ist komplex und vielschichtig, es ist immer in ein Netz von Beziehungen und Bedeutungen eingebettet, das sowohl durch elterliche Erwartungen als auch durch die symbolische Ordnung im Allgemeinen geformt wird. Doch innerhalb dieses Netzes bleibt das Begehren dynamisch und offen für Subversion und Neuinterpretation.
Konzepte des Begehrens bei Lacan und Paulus
Jacques Lacan setzte sich intensiv mit verschiedenen philosophischen, literarischen und religiösen Texten auseinander, um seine psychoanalytische Theorie zu entwickeln. Der Apostel Paulus war eine dieser zentralen Figuren, die für Lacan besonders wichtig wurden, insbesondere im Hinblick auf den Begriff des Begehrens. Lacan entdeckte in den Schriften des Paulus, vor allem in dessen Briefen, Konzepte, die seine eigenen Überlegungen zum Begehren und zur Struktur des Subjekts beeinflussten und bereicherten.
Paulus und das Gesetz
Das Gesetz und die Sünde: Paulus diskutiert in seinen Briefen, insbesondere im Römerbrief, die Beziehung zwischen dem Gesetz (dem göttlichen Gebot) und der Sünde. Er argumentiert, dass das Gesetz die Sünde erst hervorruft, indem es das Verbotene benennt und dadurch Begehrlichkeiten weckt, die vorher nicht existierten. Paulus schreibt: „Ich hätte die Sünde nicht erkannt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren“ (Römer 7:7).
Begehren durch das Gesetz: Für Paulus ist das Gesetz also paradox: Es versucht, das Begehren zu regulieren, aber gerade durch diese Regulierung ruft es das Begehren hervor. Diese Idee fand bei Lacan großen Anklang, da sie eng mit seiner Auffassung von der symbolischen Ordnung und dem Begehren verbunden ist. Lacan sah das Gesetz der symbolischen Ordnung als eine Struktur, die das Subjekt zwingt, sich in bestimmten Kategorien zu bewegen und dabei das Begehren hervorruft und formt. Das Verbotene wird durch das Gesetz erst begehrenswert gemacht.
Lacans Interpretation des Begehrens bei Paulus
Das Begehren als Reaktion auf das Gesetz: Lacan interpretiert Paulus dahingehend, dass das Begehren nicht einfach ein natürlicher Trieb ist, sondern durch das Gesetz selbst produziert wird. In der psychoanalytischen Theorie Lacans ist das Begehren ein zentraler Motor des menschlichen Handelns, der durch das Fehlen oder den Mangel (den das Gesetz markiert) angeheizt wird.
Die Existentialität des Begehrens: Lacan erkannte in Paulus’ Überlegungen eine tiefere, existenzielle Dimension des Begehrens. Für Lacan wird das Subjekt durch das Begehren konstituiert, und dieses Begehren ist untrennbar mit dem Gesetz und der symbolischen Ordnung verbunden. Das Subjekt existiert im Spannungsfeld zwischen dem Gesetz und dem Begehren nach dem, was das Gesetz verbietet. Lacan sah in Paulus’ Schriften eine frühe Auseinandersetzung mit dieser Dynamik, die in seiner eigenen Theorie zentral war.
Paulus, das Gesetz und die Gnade
Die Rolle der Gnade: Ein weiteres Konzept bei Paulus, das Lacan interessierte, ist die Gnade („charis“), die das Gesetz transzendiert. Paulus argumentiert, dass die Erlösung nicht durch die Erfüllung des Gesetzes, sondern durch die Gnade Gottes möglich ist. Lacan nahm diese Idee auf, um über die Möglichkeit nachzudenken, wie das Subjekt aus den Zwängen des Begehrens und des Gesetzes ausbrechen könnte. Während Lacan jedoch keine religiöse Lösung anbot, blieb er fasziniert von der Frage, wie das Subjekt eine Form der Freiheit oder Erlösung innerhalb der symbolischen Ordnung finden könnte.
Jenseits des Gesetzes: Lacan sah in der paulinischen Gnade eine Möglichkeit, über das Gesetz hinauszugehen, ähnlich wie er in seiner eigenen Theorie das Konzept des „Realem“ (le réel) entwickelte – jener Bereich, der sich der symbolischen Ordnung entzieht und der nicht vollständig durch Sprache und Gesetz erfasst werden kann. Das Begehren strebt nach diesem „Realem“, nach etwas, das jenseits des Gesetzes liegt, doch bleibt es immer gebunden an die symbolische Ordnung, aus der es hervorgeht.
Bedeutung der Theologie des Paulus für Lacan
Paulus als Schlüssel zum Verständnis des Begehrens: Für Lacan hatte die Auseinandersetzung mit Paulus eine existenzielle Bedeutung, weil sie ihm half, das Begehren nicht nur als psychologisches Phänomen, sondern als fundamentale Struktur des menschlichen Daseins zu begreifen. Paulus’ Diskussion des Gesetzes und des Begehrens bot Lacan eine theologische und philosophische Basis, um sein eigenes Konzept des Begehrens als etwas zu entwickeln, das das Subjekt in einem ständigen Spannungsfeld hält und das von der symbolischen Ordnung und dem Gesetz bestimmt wird.
Begehren als zentraler Antrieb: Letztlich sah Lacan in Paulus einen frühen Denker, der das Paradox des Begehrens – das Begehren als durch das Verbotene und das Gesetz erzeugt – erkannte und analysierte. Dies bot Lacan einen Schlüssel zum Verständnis der tiefen, strukturellen Dynamiken, die das Subjekt antreiben, und machte das Begehren zu einem zentralen Konzept seiner psychoanalytischen Theorie.
Zusammenfassung
Jacques Lacan entdeckte in den Schriften des Apostels Paulus ein tiefes Verständnis des Begehrens, das mit dem Gesetz und der symbolischen Ordnung verflochten ist. Diese Auseinandersetzung half Lacan, sein eigenes Konzept des Begehrens als einen grundlegenden und existenziellen Antrieb des Subjekts zu entwickeln, der durch das Gesetz geformt und gleichzeitig von ihm herausgefordert wird. Paulus bot Lacan einen theologischen und philosophischen Rahmen, der seine psychoanalytischen Theorien auf eine tiefere, existenzielle Ebene hob.
Lacans Wirkungen auf die Literatur, Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft.
Jacques Lacan hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Literatur, Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft. Sein Werk, insbesondere seine theoretischen Konzepte, wurden in verschiedenen Disziplinen weit über die Psychoanalyse hinaus rezipiert und adaptiert.
Einfluss auf die Literatur und Literaturwissenschaft
Lacan und die literarische Theorie: Lacans Theorien wurden besonders in der strukturalistischen und poststrukturalistischen Literaturtheorie rezipiert. Kritiker wie Julia Kristeva, Hélène Cixous und Jacques Derrida adaptierten Lacans Ideen, um literarische Texte zu analysieren. Seine Konzepte des „Spiegelstadiums“, des „Realem“, „Symbolischen“ und „Imaginären“ sowie seine Theorie des „Begehrens“ wurden in der literarischen Hermeneutik verwendet, um Texte zu dekonstruieren und die Subjektivität der Figuren sowie die Dynamik von Macht und Begehren in literarischen Werken zu verstehen.
Psychoanalytische Literaturkritik: Lacans Lektüre von Freud führte zur Weiterentwicklung der psychoanalytischen Literaturkritik. Diese Kritikform analysiert die unbewussten Wünsche, Ängste und Konflikte der Figuren sowie die psychologischen Strukturen, die in literarischen Texten offenbart werden. Lacans Fokus auf die Sprache als Medium des Unbewussten beeinflusste auch die Art und Weise, wie Texte auf ihre sprachlichen und symbolischen Strukturen hin untersucht wurden.
Lacan und die Subjektivität: Die literarische Figur als Subjekt, das durch Sprache und symbolische Ordnung konstituiert ist, wurde ein zentrales Thema in der Literaturwissenschaft. Die Idee, dass das Subjekt durch die Sprache geformt und in ihr gefangen ist, ermöglichte eine neue Art des Verständnisses von Identität und Charakterentwicklung in literarischen Werken.
Einfluss auf die Sprachwissenschaft
Lacan und die Linguistik: Lacans Werke wurden stark von der strukturalistischen Linguistik Ferdinand de Saussures beeinflusst. Lacan adaptierte das Saussure’sche Modell des Signifikanten und Signifikats, um zu zeigen, wie das Unbewusste in der Sprache strukturiert ist. Seine Aussage „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ unterstreicht die enge Verbindung zwischen psychoanalytischen Prozessen und linguistischen Strukturen.
Der Einfluss auf die Sprachphilosophie: Lacans Konzepte wie das „Spiegelstadium“ und das „Begehren des Anderen“ wurden genutzt, um sprachphilosophische Fragen zu untersuchen. Er argumentierte, dass das Subjekt durch das Begehren des Anderen konstituiert wird und dass Sprache ein primäres Mittel ist, durch das dieses Begehren artikuliert und organisiert wird. Diese Ideen beeinflussten Theorien über die Beziehung zwischen Sprache, Subjektivität und sozialer Struktur.
Diskursanalyse: Lacans Einfluss ist auch in der Diskursanalyse spürbar, insbesondere in der Art und Weise, wie Diskurse Machtstrukturen und Subjektivitäten formen. Die Idee, dass Sprache nicht neutral ist, sondern Machtverhältnisse und soziale Normen reproduziert, hat die Diskursanalyse erheblich beeinflusst.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lacans Werk auf vielfältige Weise die Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft beeinflusst hat. Seine Theorien boten neue Werkzeuge und Perspektiven, um Texte und Sprache zu analysieren, und beeinflussten die Entwicklung moderner Theorien über Subjektivität, Identität und Macht. Die Interdisziplinarität seiner Arbeit machte ihn zu einer zentralen Figur in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts.
Lacans zentrale These: Das Subjekts wird innerlich kolonialisiert durch die Sprache
Die symbolische Ordnung: Lacan beschreibt die symbolische Ordnung als ein Netz von Signifikanten (Wörtern, Symbolen), die das Subjekt strukturieren. Diese Ordnung ist unabhängig von den individuellen Wünschen und Vorstellungen und zwingt dem Subjekt eine bestimmte Identität auf. Sobald ein Kind in die Sprache eintritt, wird es Teil dieser symbolischen Ordnung und ist dadurch gezwungen, seine Erfahrungen und sein Selbstverständnis in den vorgegebenen Kategorien der Sprache auszudrücken.
Das unbewusste Subjekt: Das Unbewusste ist für Lacan „wie eine Sprache strukturiert“, was bedeutet, dass die Wünsche und Triebe des Subjekts ebenfalls durch die Sprache und ihre Struktur beeinflusst werden. Das Subjekt ist nicht Herr seiner eigenen Sprache; vielmehr ist es von der symbolischen Ordnung geprägt, die seine Wahrnehmung und Ausdrucksmöglichkeiten begrenzt. Diese „Kolonialisierung“ bedeutet, dass das Subjekt in einer Sprache sprechen muss, die nicht vollständig seine eigenen Bedürfnisse und Erfahrungen widerspiegelt, sondern von den sozialen und kulturellen Normen der symbolischen Ordnung bestimmt wird.
Befreiung durch Bewusstwerdung: Lacans Ansatz zur Befreiung aus dieser Unterwerfung besteht darin, dass das Subjekt sich der Zwänge und Begrenzungen seiner eigenen Sprachpraxis bewusst wird. Dies geschieht durch die psychoanalytische Arbeit, bei der das Subjekt die Lücken und Widersprüche in seiner Sprache erkennt und die Mechanismen durchschaut, die es daran hindern, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse authentisch auszudrücken. Der Prozess der Bewusstwerdung kann dazu führen, dass das Subjekt einen neuen Umgang mit seiner Sprache entwickelt, der es weniger von den unbewussten Zwängen und den normativen Strukturen der symbolischen Ordnung abhängig macht.
Lacans Theorie im Vergleich zum Ansatz von Aaron T. Beck
Lacans Theorie besagt, dass der Mensch durch den Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache eine bestimmte Identität und ein Selbstverständnis erlangt, die jedoch von den Strukturen und Regeln dieser Ordnung bestimmt und begrenzt werden. In diesem Sinne wird der Mensch “kolonialisiert” oder unterworfen durch die Sprache, da seine subjektive Erfahrung und seine Identität durch die sprachlichen Strukturen geformt und eingeschränkt werden. Der Mensch kann sich nur befreien, indem er sich dieser sprachlichen Beschränkungen bewusst wird und versucht, die Lücken, Brüche und Widersprüche in seiner eigenen Sprachpraxis zu erkennen und zu bearbeiten.
Aaron T. Beck, der Begründer der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), verfolgt einen Ansatz, der ebenfalls auf der Bewusstwerdung und Veränderung dysfunktionaler mentaler Muster beruht, jedoch auf einer anderen theoretischen Grundlage basiert.
Kognitive Verzerrungen: Becks Theorie konzentriert sich auf die kognitiven Verzerrungen, durch die Menschen ihre Erfahrungen und sich selbst auf eine verzerrte und oft negative Weise interpretieren. Diese Verzerrungen sind erlernte Denkmuster, die durch frühere Erfahrungen und die Interpretation dieser Erfahrungen entstanden sind. Beck argumentiert, dass diese Verzerrungen zu psychischen Störungen wie Depressionen und Angstzuständen beitragen, indem sie die Wahrnehmung und das Denken des Individuums auf ungesunde Weise beeinflussen.
Therapeutische Veränderung: Becks Therapieansatz zielt darauf ab, dass sich die Patienten ihrer negativen Denkmuster bewusst werden und diese durch rationalere und realistischere Überzeugungen ersetzen. Der therapeutische Prozess beinhaltet das Identifizieren dieser kognitiven Verzerrungen, das Überprüfen ihrer Gültigkeit und das Erlernen neuer, gesünderer Denkweisen. Die Veränderung der kognitiven Muster führt zu einer Verbesserung des emotionalen und verhaltensbezogenen Wohlbefindens.
Vergleich mit Lacan: Obwohl Beck und Lacan unterschiedliche theoretische Grundlagen haben (Beck kommt aus einer empirisch-kognitiven Tradition, Lacan aus der psychoanalytischen), gibt es Parallelen in ihren Ansätzen. Beide sehen das Subjekt als gefangen in bestimmten mentalen oder sprachlichen Strukturen, die seine Wahrnehmung und sein Verhalten beeinflussen. Bei Lacan sind es die Strukturen der symbolischen Ordnung und der Sprache, bei Beck die kognitiven Verzerrungen und Denkmuster.
In beiden Ansätzen geht es darum, dass sich das Subjekt dieser Strukturen bewusst wird und durch eine Form der „Arbeit an sich selbst“ – sei es durch psychoanalytische Deutung oder kognitive Umstrukturierung – eine Befreiung oder zumindest eine Verbesserung seines Zustands erreicht. Allerdings legt Beck mehr Wert auf die rationale Veränderung von Denkmustern, während Lacan die Rolle der Sprache und der unbewussten Strukturen betont, die nicht vollständig rationalisiert oder kontrolliert werden können.
Zusammenfassung
Lacans Konzept der „Kolonialisierung“ durch die Sprache und die Möglichkeit der Befreiung durch Bewusstwerdung weist interessante Parallelen zu Becks kognitiver Verhaltenstherapie auf. Beide Theorien beschäftigen sich mit den Einschränkungen und Verzerrungen, denen das Subjekt durch seine mentalen und sprachlichen Strukturen unterworfen ist, und beide bieten Wege zur Veränderung durch Bewusstwerdung und Reflexion. Die wesentlichen Unterschiede liegen jedoch in der theoretischen Ausrichtung: Lacan betont die Rolle der symbolischen Ordnung und der unbewussten Strukturen, während Beck den Fokus auf kognitive Prozesse und deren rationale Modifikation legt.
Anhang: Biographisches zu Lacan
Die Biographie von Jacques Lacan gibt einige Hinweise darauf, wie seine Beziehung zu seinen Eltern, insbesondere zu seiner Mutter, seine spätere Theorie und sein Denken beeinflusst haben könnten. Lacan war eine komplexe und einflussreiche Figur, und seine familiären Beziehungen spielten wahrscheinlich eine wichtige Rolle in der Entwicklung seiner psychoanalytischen Theorien.
Familiärer Hintergrund und Beziehung zur Mutter
Jacques Lacan wurde 1901 in eine wohlhabende katholische Familie in Paris geboren. Seine Mutter, Émilie Lacan (geborene Baudry), spielte eine zentrale Rolle in seinem Leben, und es gibt Berichte, die nahelegen, dass sie eine dominante Persönlichkeit war. Sie soll sehr religiös und äußerst besitzergreifend gewesen sein, was sich möglicherweise in Lacans späteren Überlegungen zur Rolle der Mutter in der Bildung des Subjekts widerspiegelte.
Mutterschaft und Übertragung in Lacans Theorien: In Lacans Werk spielt die Figur der Mutter eine zentrale Rolle, insbesondere in seinen Theorien über das „Spiegelstadium“ und die Bildung des Ichs. Die Mutter wird oft als die erste große Andere gesehen, die das Kind spiegelt und auf die symbolische Ordnung, d.h. auf die Existenz des Vaters und dessen Vorrechte, verweist. Lacans Betonung der Rolle der Mutter könnte also eine Reflexion seiner eigenen Erfahrungen sein, in denen seine Mutter eine starke und möglicherweise übermächtige Figur war, die sich aber selbst als Vertreterin der Autoritäten der katholischen Kirche und des Vaters sah.
Beziehung zum Vater
Lacans Vater, Alfred Lacan, war ein erfolgreicher Geschäftsmann. Über die Beziehung zwischen Lacan und seinem Vater ist weniger bekannt, und es gibt kaum Berichte über eine direkte Dominanz des Vaters. In der psychoanalytischen Theorie Lacans spielt der Vater jedoch eine entscheidende Rolle als Vertreter des Gesetzes und der symbolischen Ordnung, insbesondere im Konzept des „Namen-des-Vaters“ (Nom-du-Père), der das Kind in die symbolische Ordnung einführt und den Ödipuskomplex vermittelt.
Der Vater und das Gesetz: In Lacans Theorie stellt der Vater die Autorität und das Gesetz dar, das die Bindung zwischen Mutter und Kind durchtrennt und das Kind in die symbolische Ordnung und die Sprache einführt. Obwohl es keine klaren Hinweise darauf gibt, dass Lacans eigener Vater eine übermäßige Rolle in seinem Leben spielte, spiegelt sich die Bedeutung des Vaters in seinen Theorien wider, was darauf hindeutet, dass Lacan die Rolle des Vaters als zentral für die Entwicklung des Subjekts betrachtete.
Einfluss der Eltern auf Lacans Theorie
Obwohl konkrete Details über die Dominanz seiner Eltern spärlich sind, kann man davon ausgehen, dass Lacans intensive Auseinandersetzung mit den Themen Macht, Autorität und symbolische Ordnung zumindest teilweise durch seine familiären Erfahrungen geprägt wurde. Lacans Theorien über die Mutter-Kind-Beziehung und die Rolle des Vaters in der symbolischen Ordnung könnten also eine Verarbeitung seiner eigenen familiären Dynamiken darstellen.
Zusammenfassung
Es gibt Hinweise darauf, dass Lacan eine enge und möglicherweise dominierende Beziehung zu seiner Mutter hatte, die ihn zutexten oder auf andere Weise stark beeinflussen könnte. Diese Beziehung könnte seine späteren Theorien zur Rolle der Mutter und der symbolischen Ordnung geprägt haben. Weniger ist über eine direkte Dominanz durch den Vater bekannt, aber Lacans Betonung der väterlichen Autorität in seinen Theorien deutet darauf hin, dass er die Rolle des Vaters in der psychischen Entwicklung als zentral ansah. Insgesamt ist Lacans Werk tief in den komplexen Beziehungen von Familie, Sprache und Identität verwurzelt, die möglicherweise durch seine eigenen biografischen Erfahrungen beeinflusst wurden.
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