Einleitung
Der Wiederholungszwang beschreibt das Phänomen, dass Menschen immer wieder dieselben Verhaltensmuster oder Gedanken wiederholen, auch wenn diese schädlich oder dysfunktional sind. In einer neurobiologischen Beschreibung lässt sich der Wiederholungszwang mit der Funktionsweise neuronaler Netzwerke und der Selbst-Aktivierung von Gedächtnisinhalten in Verbindung bringen. Zuvor noch ein kurzer Hinweis auf den bekanntesten Fall eines Wiederholungszwangs aus der Geschichte der Psychoanalyse.
Freuds bekanntester Fall eines Wiederholungszwangs
Der bekannteste von Sigmund Freud beschriebene Fall eines Wiederholungszwangs ist der Fall des “Rattenmanns”. Dieser Fallbericht, den Freud 1909 veröffentlichte, befasst sich mit einem Patienten, der unter schweren Zwangsgedanken und Zwangshandlungen litt.
Fallbeschreibung des Rattenmanns
Der Rattenmann, ein junger Jurist, litt unter intensiven Zwangsvorstellungen, die sich um grausame Phantasien drehten, insbesondere eine, in der er sich vorstellte, dass Ratten in die Körper seiner Liebsten eindringen würden. Trotz seines Wissens, dass diese Gedanken irrational waren, konnte er sich ihnen nicht entziehen.
Freud untersuchte in diesem Fall die unbewussten Konflikte, die die Zwangshandlungen und Gedanken des Patienten antrieben. Er interpretierte den Wiederholungszwang des Rattenmanns als Ausdruck eines unbewussten inneren Kampfes, bei dem der Patient immer wieder in eine Situation geriet, in der er seine Angst und Schuldgefühle, besonders in Bezug auf den Tod und Bestrafungsphantasien, erneut durchlebte.
Der Wiederholungszwang als Hinweis auf ungelöste Konflikte
Freud führte den Wiederholungszwang auf ungelöste Konflikte in der frühen Kindheit zurück, die sich in Form von Zwängen manifestierten. Der Rattenmann wiederholte diese destruktiven Denkmuster, weil sein Unbewusstes versuchte, ein traumatisches Erlebnis zu bewältigen, das er jedoch nicht auf bewusster Ebene verarbeiten konnte.
Dieser Fall ist ein klassisches Beispiel für Freuds Konzept des Wiederholungszwangs, bei dem Menschen gezwungen sind, traumatische oder konflikthafte Erfahrungen wiederholt zu durchleben, oft in einer symbolischen oder verzerrten Form.
Hypothese zur Selbstaktivierung neuronaler Cluster
Neuronal Cluster und Gedächtnis
Das Gehirn speichert Informationen und Erfahrungen in neuronalen Netzwerken oder Clustern, die durch wiederholte Aktivierung verstärkt werden. Diese Cluster bestehen aus miteinander verbundenen Neuronen, die durch synaptische Verbindungen kommunizieren. Je öfter ein bestimmtes neuronales Netzwerk aktiviert wird, desto stabiler wird es – ein Prinzip, das als “Hebbsche Plastizität” bekannt ist: „Neurons that fire together, wire together.“
Selbstaktivierung zur Erhaltung von Information
Ein zentraler Punkt dieser Hypothese ist, dass neuronale Cluster, um nicht überschrieben oder “vergessen” zu werden, Mechanismen entwickeln, um sich selbst in Erinnerung zu rufen. In einem funktionierenden System ermöglicht diese Selbstaktivierung eine regelmäßige Auffrischung und Stabilisierung von Erinnerungen oder Verhaltensweisen, die für das Überleben oder Wohlbefinden wichtig sind.
Dysfunktionale Muster und der Wiederholungszwang
Im Fall des Wiederholungszwangs kann ein neuronales Cluster, das dysfunktionale Verhaltensmuster oder traumatische Erinnerungen repräsentiert, immer wieder aktiviert werden, auch wenn das Verhalten oder die Gedanken schädlich sind. Dieses Phänomen könnte darauf zurückzuführen sein, dass die neuronalen Cluster versuchen, sich selbst zu erhalten, indem sie sich in das Bewusstsein “drängen” und erneut aktiviert werden, selbst wenn dies für das Individuum unangenehm ist.
Störung durch übermäßige Aktivierung
In normalen, funktionalen Systemen wird die Aktivierung von neuronalen Clustern durch eine Balance von inhibitorischen und exzitatorischen Signalen reguliert. Wenn diese Balance jedoch gestört ist, kann es zu einer Überaktivierung kommen, die als zwanghaftes Verhalten oder ständiges Wiedererleben von Gedanken empfunden wird. Das Gehirn nimmt diese übermäßige Selbstaktivierung als störend wahr, weil sie in den regulären Fluss kognitiver Prozesse eingreift und möglicherweise die Flexibilität beeinträchtigt, auf neue oder andere Verhaltensweisen umzuschalten.
Symptomatik
Der Wiederholungszwang kann somit als Symptom einer Fehlregulation der neuronalen Netzwerke verstanden werden. Das Gehirn empfindet diese Dysregulation als Störung, weil sie verhindert, dass flexiblere, adaptivere Muster entstehen. Menschen, die unter Zwangsverhalten leiden, berichten oft, dass sie sich „gefangen“ oder „unfähig“ fühlen, ihr Verhalten zu ändern, was auf eine starke Aktivierung bestimmter neuronaler Cluster hindeutet, die sich resistent gegenüber Modifikationen oder Abschwächung zeigen.
Zusammenfassung
Zusammenfassend könnte die Hypothese lauten, dass neuronale Cluster sich selbst aktivieren, um ihre Konsolidierung und Erhaltung zu gewährleisten. Bei dysfunktionalen Mustern führt dies zu zwanghaften Gedankenschleifen oder Verhaltensmustern, die als Symptom empfunden werden, weil das Gehirn die übermäßige Aktivierung nicht mehr kontrollieren kann.
Weitere Gründe für eine Fixierung auf den Wiederholungszwang
Der Wiederholungszwang kann durch eine Vielzahl von Faktoren unterstützt oder verstärkt werden, die sowohl psychodynamischer als auch verhaltenspsychologischer Natur sind. Die genannten Aspekte lassen sich wie folgt erläutern:
Aktuelle Konflikte sind den ursprünglichen Konflikten strukturell sehr ähnlich
Wenn eine Person sich in einer gegenwärtigen Lebenssituation befindet, die den ursprünglichen Traumata oder Konflikten ähnelt, kann dies den Wiederholungszwang reaktivieren oder verstärken. Die Person fühlt sich dann auf unbewusster Ebene gezwungen, frühere Verhaltensmuster zu wiederholen, um den aktuellen Stress oder Konflikt zu bewältigen, was die Verknüpfung zwischen alten und neuen Stressoren verstärkt.
Sekundärer Krankheitsgewinn
Ein sekundärer Krankheitsgewinn bezieht sich auf die unbewussten Vorteile, die ein Patient aus seinem Zwang oder seinem Verhalten zieht. So können Zwangsverhalten Mitleid oder Aufmerksamkeit von anderen generieren, eine Verantwortung vermeiden helfen oder unbewusste Wünsche erfüllen, was die Motivation, die zugrunde liegenden Ursachen zu lösen, mindern kann.
Gewöhnungseffekt
Durch ständige Wiederholung wird das zwanghafte Verhalten zu einer Art “Gewohnheit”, die schwer zu durchbrechen ist. Der Patient empfindet Sicherheit in der Wiederholung, da das Verhalten vertraut und kontrollierbar ist, selbst wenn es schädlich ist. Die kognitive Dissonanz wird minimiert, da das Gehirn an dieses Muster gewöhnt ist und es als “normale” Reaktion speichert.
Der Patient fühlt sich ohne den Wiederholungszwang nicht authentisch
Der Wiederholungszwang kann so stark in die Persönlichkeit und das Selbstbild eines Patienten integriert sein, dass er sich ohne dieses Muster nicht mehr als “er selbst” empfindet. Die Identität ist mit dem Zwang verbunden, und der Versuch, den Zwang zu ändern, kann als Bedrohung der eigenen Authentizität wahrgenommen werden.
Allgemeiner Widerstand gegen Veränderungen im Leben
Menschen neigen oft dazu, Widerstand gegen Veränderungen zu entwickeln, besonders wenn diese Veränderungen Unsicherheit oder Angst auslösen. Der Wiederholungszwang bietet eine Art stabilen Anker, der dem Patienten trotz des Leidens das Gefühl gibt, Kontrolle zu haben. Veränderungen bedeuten, das Vertraute loszulassen und sich dem Unbekannten zu stellen, was von vielen als zu riskant empfunden wird.
Der Wiederholungszwang fugiert als ständiger Begleiter (“Alter Ego”)
Für manche Patienten wird der Wiederholungszwang zu einem festen Bestandteil ihres Lebens und fungiert als eine Art Schutzschild gegenüber der Außenwelt. Der Zwang dient dazu, emotionale Distanz zu schaffen oder sich vor bedrohlichen äußeren Reizen abzuschirmen. Der Zwang wird somit zu einem Teil des Selbst, einem “Alter Ego”, das dem Patienten das Gefühl gibt, eine eigene Identität gegenüber äußeren Anforderungen und Erwartungen zu bewahren.
Es fehlen Anreize, den Wiederholungszwang durch neue funktionale Muster zu ersetzen
Wenn es keinen äußeren oder inneren Druck oder Anreiz gibt, das zwanghafte Verhalten zu ändern, kann der Patient in den gewohnten Mustern verharren. Die Schaffung funktionaler Alternativen erfordert Motivation, Energie und Unterstützung, die nicht immer vorhanden sind. In Fällen, in denen der Wiederholungszwang nicht zu einem deutlichen Verlust im Alltag führt, gibt es oft weniger Anreiz, diesen zu durchbrechen.
Zusammenfassung
Diese Faktoren verstärken den Wiederholungszwang, indem sie entweder die psychische Notwendigkeit zur Wiederholung unterstützen oder den Widerstand gegen Veränderungen erhöhen. Oftmals greifen mehrere dieser Mechanismen gleichzeitig ineinander und schaffen ein selbstverstärkendes System, das es dem Patienten schwer macht, den Zwang loszulassen und neue, gesündere Verhaltensweisen zu entwickeln.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht