Ernst Cassirers Theorie der Klassifikationssysteme
Ernst Cassirer (1874-1945) war ein Philosoph des 20. Jahrhunderts. Er wurde vor allem wegen seiner Arbeiten im Bereich der Kulturphilosophie und seiner Philosophie der symbolischen Formen bekannt. Seine Theorie, dass alle Klassifikationssysteme Allgemeingültigkeit beanspruchen, ist ein zentrales Thema seiner philosophischen Überlegungen. Cassirer untersuchte in der Nachfolge Immanuel Kants, Wilhelm von Humboldts und J.W.v. Goethes, wie der menschliche Geist durch verschiedene symbolische Systeme die Welt ordnet und auf diese Art und Weise Bedeutung schafft. Diese Systeme umfassen Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft. In diesem Beitrag möchte ich Cassirers Theorie nachvollziehen und ihre Implikationen für den Dialog zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und die Konsequenzen für den Umgang mit wissenschaftlichen Konstrukten beschreiben.
Die symbolischen Formen
Cassirers Hauptwerk, die dreibändige “Philosophie der symbolischen Formen”, die er während seiner Zeit als Hochschullehrer in Hamburg in den 20er Jahren verfasste, bietet eine Analyse der verschiedenen Perspektiven, wie Menschen die Wirklichkeit erleben und interpretieren. Jede symbolische Form stellt eine spezifische Weise dar, die Realität zu erfassen und zu strukturieren. Cassirer argumentiert, dass diese Formen nicht nur Werkzeuge sind, um die Welt zu beschreiben, sondern dass sie die Art und Weise prägen, wie wir die Welt tatsächlich erleben.
Transzendentale Perspektive: Aus Cassirers Sicht ist der menschliche Geist von Natur aus symbolisch. Das bedeutet, dass die Fähigkeit, Symbole zu schaffen und zu interpretieren, eine grundlegende Eigenschaft des menschlichen Geistes ist. Diese symbolische Fähigkeit ist nicht auf eine bestimmte Kultur oder Zeit beschränkt, sondern universell und ist begründet in einer angeborenen Fähigkeit, Sprache zu erlernen und zu praktizieren.
Kognitive Struktur: Die Klassifikationssysteme spiegeln die kognitiven Strukturen des menschlichen Geistes wider. Da alle Menschen ähnliche kognitive Strukturen teilen, können die symbolischen Formen und ihre Klassifikationssysteme als allgemeingültig betrachtet werden.
Interkulturelle Kommunikation: Cassirer betont, dass symbolische Formen die Grundlage für interkulturelle Kommunikation und Verständnis bilden. Obwohl die spezifischen Inhalte und Ausdrücke variieren können, sind die grundlegenden Strukturen und Funktionen der symbolischen Formen universell.
Die symbolischen Formen
Sprache: Sprache ist für Cassirer das grundlegende symbolische System. Sie ermöglicht nicht nur Kommunikation, sondern formt auch unser Denken. Durch Sprache klassifizieren wir die Welt in Begriffe und Kategorien, die für uns sinnvoll und verständlich sind.
Mythos: Der Mythos ist eine symbolische Form, die sich in frühen Gesellschaften entwickelt hat und die einfache kausale Erklärungen erzählt. Er bietet eine narrative Struktur, durch die Menschen die Welt und ihre Ereignisse in Wenn-Dann-Relationen verstehen. Mythen schaffen eine kohärente Weltanschauung und geben den Menschen ein Gefühl der Orientierung, Zugehörigkeit und Identität.
Kunst: Kunst ist eine weitere symbolische Form, die die Wirklichkeit auf einzigartige Weise in fiktionalisierter Weise darstellt. Künstlerische Werke vermitteln Emotionen und Ideen, die über die rein sprachliche Kommunikation und die Beschreibung der wirklichen Wirklichkeit hinausgehen. Sie ermöglichen eine ästhetische Erfahrung der Welt, die tiefgründiger und subjektiver ist als ein platter Naturalismus oder Realismus dazu in der Lage wäre.
Religion: Religion stellt eine symbolische Form dar, die metaphysische und spirituelle Dimensionen der Existenz betont. Sie bietet Systeme von Glaubensinhalten, sakralen Ritualen und ethischen Grundsätzen, die den Menschen auf vielfältige Weise hilft, die großen Fragen des Lebens und die nach dem persönlichen Tod zu beantworten.
Wissenschaft: Wissenschaft ist die symbolische Form, die auf systematischer Beobachtung, rationaler Analyse und teilweise auf Experimenten basiert. Sie strebt danach, objektive und universell gültige Aussagen über die Gesetzmäßigkeiten der Realität zu machen.
Cassirers Theorie der symbolischen Formen als Methode zur Ideologiekritik
Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen bietet eine Methodik zur Ideologiekritik. Seine Theorie erlaubt es, die Strukturen und Funktionen von Ideologien zu analysieren und ihre universalen Ansprüche kritisch zu hinterfragen. Hier sind einige Wege, wie Cassirers Theorie als Methode der Ideologiekritik verwendet werden kann:
Analyse der symbolischen Strukturen
Cassirer zeigt, dass alle menschlichen Kulturen und Gesellschaften durch symbolische Formen strukturiert sind. Ideologien können als spezifische symbolische Systeme betrachtet werden, die bestimmte Weltbilder und Werte fördern. Durch die Analyse dieser symbolischen Strukturen kann man erkennen, wie Ideologien Bedeutung schaffen und verbreiten. Eine ideologische Analyse könnte untersuchen, wie Weltanschauungen wie z.B. die Astrologie bestimmte Symbole und Sprachmuster verwendet, um alle Erscheinungen des Lebens, seien es emotionale Stimmungen, Erkrankungen von einzelnen oder politische Auseinandersetzungen zwischen Völkern zu erklären und vorauszusagen.
Enthüllung von Allgemeingültigkeitsansprüchen
Cassirers Theorie behauptet, dass alle symbolischen Systeme dazu tendieren, den Anspruch zu erheben, universell gültig zu sein. Insofern neigen auch Ideologien dazu, ihre spezifischen Perspektiven als einzig wahre und allgemeingültige Auffassungen und Erklärungen der Realität darzustellen. Durch Cassirers Theorie kann man diese Ansprüche kritisch hinterfragen und aufzeigen, dass sie letztlich nur eine von vielen möglichen Perspektiven sind.
Vergleich und Relativierung verschiedener symbolischer Formen
Cassirers Theorie ermöglicht den Vergleich verschiedener symbolischer Systeme. Ideologiekritik kann diese Methode nutzen, um die relativen Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Ideologien herauszuarbeiten. Dies hilft, die spezifischen Merkmale einer Ideologie zu erkennen und ihre Universalitätsansprüche zu relativieren.
Funktion von Mythen in modernen politischen Ideologien
Cassirer analysierte, wie Mythen als symbolische Formen funktionieren und Bedeutung schaffen. Ideologien nutzen oft mythische Erzählungen, um ihre Ideen zu stärken und emotionale Resonanz zu erzeugen. Durch Cassirers Ansatz kann man untersuchen, wie diese mythischen Erzählungen konstruiert sind und welche Funktionen sie innerhalb der Ideologie erfüllen. Eine ideologiekritische Analyse könnte die nationalen Mythen untersuchen, die in Schulbüchern verwendet werden, um bestimmte Geschichtsnarrative zu fördern und nationale Identität zu formen.
Kritische Reflexion der Wissenschaften mit jeweils begrenztem Geltungsanspruch
Cassirers Betonung der Wissenschaft als eine symbolische Form mit universellen Ansprüchen bietet eine Grundlage, um auch die Wissenschaft selbst einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Wissenschaftliche Paradigmen und Methoden können als Systeme analysiert werden, die dazu neigen, bestimmte Sichtweisen und Paradigmen als allgemeingültig aufzufassen und andere Sichtweisen zu diskreditieren.
Cassirer argumentiert, dass jedes dieser Klassifikationssysteme den Anspruch erhebt, allgemeingültig zu sein. Dies bedeutet, dass sie nicht nur für eine bestimmte Kultur oder Epoche gültig sind, sondern dass sie universelle Gültigkeit beanspruchen. Diese Allgemeingültigkeit ergibt sich aus der Struktur des menschlichen Geistes selbst, der immer danach strebt, kohärente und umfassende Systeme zu schaffen, um die Welt zu verstehen. Tatsächlich sind viele Paradigmen und Begriffe in ihrer Geltung begrenzt. Bestimmte Begriffe machen nur Sinn in bestimmten Kontexten, während sie in anderen Kontexten keine Rolle spielen.
Der Begriff des Lebens spielt eine große Rolle in der Biologie, aber keine Rolle in der Physik.
Der Begriff der Konditionierung spielt eine große Rolle in der Dressur, aber keine Rolle in der Theorie vom Spracherwerb.
Der Begriff der Gnade spielt eine große Rolle in der Theologie, aber keine Rolle in der Biologie.
Der Begriff der Empathie spielt eine große Rolle in der Psychologie, aber keine Rolle in der Ökonomie.
Der Begriff des Konflikts spielt eine große Rolle in der Tiefenpsychologie, aber keine Rolle in der Pädagogik.
Der Begriff der Vorhersagbarkeit spielt eine große Rolle in den Naturwissenschaften, aber keine Rolle in den Geisteswissenschaften.
Der Begriff der Regression spielt eine große Rolle in der Psychoanalyse, aber keine Rolle im Behaviorismus.
Mit Cassirers Theorie der symbolischen Formen kann man argumentieren, dass alle Disziplinen dazu tendieren, ihre eigene Wissenschaftsauffassung absolut zu setzen.
Wenn man den Begriff der Vorhersagbarkeit absolut setzt, könnte man daraus ableiten, dass eine Geisteswissenschaft wie die Germanistik keine echte Wissenschaft sei, weil man mit ihr nicht vorhersagen kann, welches Gedicht ein Schriftsteller als nächstes schreiben wird.
Wenn es den Begriff der Regression im Behaviorismus nicht gibt, könnte man daraus fälschlicherweise schlussfolgern, dass es Regression an sich gar nicht gäbe, so wie es Leben gar nicht gäbe, weil dieser Begriff in der Physik nicht vorkommt.
Insgesamt kann man Cassirers Ansatz zu verwenden, um zu beschreiben, wie bestimmte wissenschaftliche Disziplinen immer wieder versuchen, politische Hierarchien innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen zu reproduzieren, um damit wissenschaftspolitische Machtstrukturen zu legitimieren und abzusichern.
Förderung der Pluralität und Toleranz
Cassirers Anerkennung der Vielfalt symbolischer Formen impliziert eine Wertschätzung der kulturellen und weltanschaulichen Pluralität. Ideologiekritik kann Cassirers Theorie nutzen, um für eine tolerantere und pluralistischere Gesellschaft zu plädieren, in der verschiedene Perspektiven und Weltanschauungen koexistieren können. In der politischen Philosophie könnte Cassirers Ansatz verwendet werden, um die Notwendigkeit eines inklusiven öffentlichen Diskurses zu betonen, in dem verschiedene weltanschaulichen Standpunkte gleichberechtigt gehört und diskutiert werden.
Ernst Cassirers Theorie der symbolischen Formen bietet eine reichhaltige Grundlage für die Ideologiekritik. Sie ermöglicht es, die symbolischen Strukturen, Funktionen und Universalitätsansprüche von Ideologien zu analysieren und kritisch zu hinterfragen. Durch diese Methode können wir die vielfältigen Wege verstehen, wie alle symbolischen Systeme Bedeutung schaffen und Machtverhältnisse strukturieren, und in der Aufdeckung dieser Bestrebungen gleichzeitig für eine pluralistischere und kritisch reflektierte Gesellschaft eintreten.
Implikationen von Cassirers Theorie der symbolischen Formen
Die Theorie Cassirers hat weitreichende Implikationen für verschiedene Bereiche der Philosophie und der wissenschaftlichen Disziplinen:
Relativismus versus Universalismus: Cassirers Theorie bietet eine Möglichkeit, den Relativismus zu überwinden, indem sie zeigt, dass trotz kultureller Unterschiede universelle Strukturen des menschlichen Geistes existieren. Dies ermöglicht eine Basis für den Dialog und das Verständnis zwischen verschiedenen Kulturen.
Erkenntnistheorie: Cassirers Theorie erweitert unser Verständnis davon, wie Wissen entsteht und strukturiert wird. Indem er die Rolle der symbolischen Formen betont, zeigt er, dass Wissen nicht nur durch empirische Beobachtung, sondern auch durch symbolische Interpretation entsteht.
Kulturwissenschaften: Für die Kulturwissenschaften bietet Cassirers Theorie ein umfassendes Rahmenwerk, um die vielfältigen Ausdrucksformen menschlicher Kultur zu analysieren und zu verstehen. Sie zeigt, wie verschiedene symbolische Formen zusammenwirken, um eine kohärente kulturelle Realität zu schaffen.
Konkurrenz der Klassifikationsssteme: Ernst Cassirers Theorie, dass alle Klassifikationssysteme jeweils für sich Allgemeingültigkeit beanspruchen und somit immer mit anderen konkurrieren müssen, bietet eine weitsichtige Analyse der Art und Weise, wie der menschliche Geist die Welt ordnet und interpretiert und erklärt, warum die Akzeptanz einer pluralistischen Perspektive fast unmöglich ist und eher einem utopischen Projekt gleichkommt.
Indem er die symbolischen Formen als universelle Strukturen des menschlichen Geistes betrachtet, schafft Cassirer eine Brücke zwischen verschiedenen Kulturen und Wissensbereichen. Seine Philosophie bietet wertvolle Inspirationen für die Erkenntnistheorie, den Dialog zwischen den Religionen, die Kulturwissenschaften und die interkulturelle Kommunikation und ist insofern ein wichtiger Beitrag zur modernen Philosophie.
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