Der Film „Jack“ aus dem Jahr 2014 von Edward Berger beginnt mit einer ganz ruhigen Einstellung: zwei Kinder liegen mit freiem Oberkörper im Bett, man sieht nur die nackten Rücken in mildem Licht. „Jack“ ist ein Film über Kinder in der Erwachsenenwelt aber kein Kinderfilm. Schon die zweite Szene macht das deutlich. Der 10-jährige Jack – inzwischen mit seinem kleinen Bruder nach einem vermutlich verschlafenen Tagesanfang aufgestanden – rennt in der Küche umher wie eine hektische Mutter, die ihren Kindern in zweieinhalb Minuten zu einem Frühstück verhelfen möchte, das normalerweise eine halbe Stunde dauern würde. Nebenbei befriedigt er noch klaglos Schokoladen-Sonderwünsche seines kleinen Bruders Manuel, der im Film etwa fünf Jahre alt ist. Trotz eines Stresslevels bis zum Anschlag fällt kein barsches Wort. Nachdem der kleine Bruder versorgt ist und vermutlich zur Kita gebracht wurde, isst Jack noch schnell selbst abgehetzt eine Stulle auf dem Weg zur Schule.
In einer späteren Szene wird die Mutter porträtiert. Sie ist eine lockere, zunächst sympathisch wirkende Frau, die mit Freundin und ihren Kindern herumalbert. Sie wirkt wie ein drittes ausgelassenes Kind in der Runde. Im Vergleich zu Jack scheint sie zwar einige Jahre älter aber dennoch viel kindlicher. An dieser Stelle merkt man schon einen deutlichen Kontrast zwischen dem verantwortungsvollen Jack und seiner verspielten Mutter. Sie läßt dann auch wenig erzieherisches Handeln gegenüber ihren Kindern erkennen, was in der nächsten Szene deutlich wird. Bald hat sie nachts unbekümmert lautstarken Sex mit einem ihrer Liebhaber. Jack wird davon geweckt und geht schnurstracks ins Schlafzimmer der Mutter, was den Liebhaber zunächst mal nötigt, von der Mutter herunterzusteigen. Er gibt vor, hungrig zu sein, als ob er sich nicht selbst eine Stulle machen könnte, wenn es wirklich so wäre. Sofort wendet sich die Mutter liebevoll Jack zu, setzt sich nackt neben ihn und läßt ihn sehr zugewandt ein Marmeladenbrot essen. Erotisch verführerischer kann eine Mutter kaum sein. Jack tut so als sei die Mutter angezogen. Mit der nackten Mutter umzugehen, scheint ganz normal zu sein sowohl für Jack als auch für die Mutter. Der Liebhaber ist erst mal abgemeldet. Jetzt ist Jack wieder die Hauptperson und im Zentrum der erotischen Verführungskunst der Mutter. Am nächsten Morgen schmeißt Jack verärgert die Kleidung des noch halbnackten Liebhabers vom Balkon, vermutlich als ein Ausdruck verärgerter Eifersucht. Nach kurzem Wortgefecht zieht der Liebhaber frustriert ab. Die Mutter kommentiert das nur mit einem: „Na, das war sowieso nichts.“ – oder so ähnlich. Jack ist also Mutters heimlicher Liebhaber, ein von der Mutter erotisch verführtes und emotional ausgebeutetes Kind. Der Film „Jack“ ist ein ödipales Drama in unserer heutigen Zeit. Es wird gezeigt wie der erotisch verführte Jack den abwesenden Familienvater und Mann der Mutter so gut es eben geht zumindest in sozialer Hinsicht zu ersetzen versucht. Das Problem ist nur, dass Jack, obwohl sehr verantwortungsbereit und frühreif, seine Möglichkeiten überschätzt. Als Manuel im Bad durch allzu hektisches Badewassereinlassen verbrüht wird, schreitet das Jugendamt ein und verfügt erstmal, dass Jack jetzt in ein Heim kommen soll. Was jetzt aus dem kleinen Manuel werden soll, ist erst mal unklar.
Nächste Szene: Im Heim angekommen, darf Jack sogleich den Ehrenplatz neben der Erzieherin einnehmen. Das gleiche Muster wie zuhause. Er ist von der ersten Minute wieder der Liebling diesmal der Ersatzmutter. Aber diesmal geht das nicht so gut aus. Zwei schon jugendliche Mitglieder der Wohngruppe fühlen sich wohl zurückgesetzt und verhauen Jack ziemlich brutal im Zustand wütender Eifersucht. Mit blutigem Kopf sieht man ihn dann wieder bei der Erzieherin sitzen, die nur beiläufig fragt: „Was ist denn da passiert?“ Jack antwortet nur beiläufig: „Nichts.“ Sie kommentiert das dann mit den Worten: „Na, dann ist ja gut.“ Wie bitte? Diese Erzieherin handelt offenbar genauso verantwortungslos wie die Mutter zuhause. Der Unterschied zwischen beiden Frauen scheint nur darin zu bestehen, dass die Erzieherin eine staatliche Prüfung absolviert hat. Was soll an dieser Situation im Heim jetzt besser sein als zuhause? Außerdem vermisst Jack auch noch seinen kleinen Bruder. So fragt er schon mal zart an, ob Manuel mal mitkommen könnte ins Heim, um dort zu übernachten.
Zu Anfang der nächsten Schulferien soll Jack von der Mutter abgeholt werden. Alle seine Sinne sind auf dieses Ereignis ausgerichtet. Aber die Mutter läßt ihn hängen. Schließlich ruft sie an und teilt mit, sie könne erst in zwei Tagen kommen, angeblich wegen der Arbeit. Jack ist schwer enttäuscht. Der Erzieherin fällt nichts besseres ein, als zu sagen, es sei alles gut. Gar nichts ist gut. Jack versucht aber dennoch das Beste aus der Situation zu machen, leiht sich unerlaubterweise ein Fernglas und stromert auf dem Gelände des Heims herum, bis es dann wieder eine Attacke eines älteren Mitbewohners gegen ihn gibt, in dessen Verlauf der andere Junge Jack beinahe tötet, das Fernglas, das sich Jack unerlaubt von seinem Zimmernachbarn geliehen hatte, unauffindbar ins tiefe Wasser wirft und Jack schließlich, um sich zu wehren, seinen Peiniger mit einem Ast niederschlägt und dann Angst bekommt, diesen Jungen schwer verletzt, möglicherweise sogar getötet zu haben. Erst läuft er in Panik weg, kommt zurück, sieht, dass sein Widersacher inzwischen weg ist. Jetzt muss er Bestrafung, Rache und auch peinliche Befragung wegen des abhanden gekommenen Fernglases fürchten. In dieser Gemengelage beschließt er impulsiv, das Heimgrundstück zu verlassen und sich allein auf den Weg zur Mutter und zum kleinen Bruder zu machen. Er übernachtet die erste Nacht im Freien, dann läuft er weiter in die Stadt. Angekommen vor der Wohnung der Mutter, ist er zunächst hoffnungsvoll überrascht, weil die Tür offensteht. Drinnen ist aber Polizei und auch die Erzieherin aus dem Heim ist anwesend. Offenbar suchen sie Jack. Er versteckt sich schnell. Sie übersehen ihn, er hat Glück, dem Suchtrupp zu entgehen. Dann findet er die Wohnung der Mutter aber verschlossen. Es liegt auch kein Schlüssel im Versteck. Wie die Polizei in die Wohnung kommen konnte, bleibt Geheimnis des Drehbuchs. Jack hinterläßt eine Nachricht für die Mutter im Schuhregal auf dem Flur und versucht dann, sie irgendwo in der Großstadt Berlin zu treffen. Er klappert alle Stationen ab, die infrage kommen könnten. Schließlich findet er zumindest seinen kleinen Bruder. Dann beginnt die Odyssee der beiden Kinder im Berliner Großstadtdschungel. Sie suchen mehrere Tage und Nächte ihre unauffindbare Mutter.
Als die Mutter schließlich wieder auftaucht, ist sie überglücklich, aber nicht darüber, dass ihre beiden Kinder dieses tagelange Umherirren schadlos überstanden haben, sondern darüber, dass sie einen neuen Liebhaber hat, der ihr angeblich sogar einen Ring geschenkt hat. Ganz ausgelassen und euphorisch meint sie erleichert, diesmal sei es etwas Ernstes. Nur nebenbei fragt sie ihre Kinder: „Und, was habt ihr so gemacht?“ Der Satz klingt so, als sei das Leben für diese Mutter eine Art Party ohne Ende. Jack realisiert, dass seine Mutter ihn angelogen hatte mit dem Grund ihres Ausbleibens im Heim, er registriert auch, dass sie seine Nachrichten im Schuhregal gar nicht gelesen hatte. Jetzt kommt Jack ins Grübeln. Am nächsten Morgen, die Mutter liegt diesmal mit Manuel umschlungen im Bett, ergreift Jack die Initiative. Er weckt Manuel und sie gehen zusammen ins Heim.
In verschiedenen Kritiken ist dieser Schritt als Ausdruck von Enttäuschung gegenüber einer vernachlässigenden Mutter interpretiert worden. Dem kann ich aber nicht ganz folgen. Das Heim wird nicht positiver dargestellt als diese verwahrloste Familie. Das Motiv für die Entscheidung Jacks gliedert sich m.E. auf in verschiedene Aspekte. Er möchte zum einen mit seinem Bruder zusammen sein, u.a. auch deshalb, weil er glaubt, dass Manuel allein bei der Mutter keine Chance hat. Dieses Verantwortungsgefühl dem Bruder gegenüber passt auch zu dem zweiten Motiv: er möchte das abhanden gekommene Fernglas durch ein anderes ersetzen, das er zwar stehlen musste, aber er möchte zumindest seinem Zimmernachbarn gegenüber nicht als Lump dastehen. Zuletzt und wesentlich geht es um die Überwindung seiner Eifersucht auf die Liebhaber der Mutter und die Überwindung seiner eigenen Rolle als Verführter der Mutter. Vielleicht hat er die vage Vorstellung, dass die Männer bisher u.a. auch wegen ihm, ihrer verführerischen Fixierung auf ihn und seiner Eifersucht nicht bei ihr geblieben waren. Auch aus Fürsorglichkeit seiner Mutter gegenüber, damit sie endlich einen Mann an sich binden kann, geht er freiwillig zurück ins Heim. Dieser Film verwendet zwar die Inhalte einer verwahrlosten Familie, aber diese bilden eher den Rahmen der Handlung ab und verweisen nicht auf die Kernkonflikte. Diese sind vielmehr zum einen die Fixierung auf die erotische Verführung versus Ablehnung des erotischen Verführtwerdens durch die Mutter und unbewältigte versus bewältigte Eifersucht auf die Mutter und deren potentiellen Mann. Aber vor allem geht es auch um eine von Anfang an bewältigte Geschwisterrivalität. Das Positive an diesem Film ist die Aussage: Wenn diese beiden Geschwister es schaffen zusammenzuhalten, werden sie vieles erreichen können. Ein toller Berlin-Odyssee-Film mit atemberaubenden Bildern, treffsicheren Dialogen und schöner Kameraführung.
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