Einleitung
Dieser Beitrag ist der Kunstauffassung des Künstlers Philip Gustons gewidmet. Dabei beziehe ich mich vorranging auf sein Buch I Paint What I Want to See. Vergleichen möchte ich seine Auffassungen mit denen von Charles Reid: Painting what you (want to) see, 1983 und nit den kunsttheoretischen Betrachtungen von John Dewey: Art as Experience, 1934.
„I Paint What I Want to See“ – Philip Guston zwischen Sinnlichkeit, Erfahrung und Selbstbefragung
Wenn der Künstler Philip Guston (1913-1980) in seinen Schriften formuliert: „Painting is an activity of unknowing, of being lost and finding yourself again and again“, so entwirft er weniger ein allgemeingültiges Programm, sondern proklamiert mehr ein persönliches Bekenntnis. Sein Denken über Kunst ist eine Meditation über das Nichtwissen, über das tastende Sehen, über den unaufhörlichen Versuch, das Unsichtbare im Sichtbaren zu finden. In dieser Haltung zeigt sich eine eigentümliche Verbindung von Skepsis, Leidenschaft und Selbstprüfung – und sie unterscheidet ihn deutlich sowohl von Charles Reid, der die Leichtigkeit des Sehens feiert, als auch von John Dewey, der in der Kunst eine Erweiterung menschlicher Erfahrung erkennt.
Das Malen als existenzieller Prozess
Für Guston ist Malerei keine Methode, sondern eine Form des Daseins. Er malt, um zu sehen, und er sieht, um sich selbst besser zu verstehen. Das Bild entsteht aus einem inneren Drang, nicht aus einem vorgefassten Plan. Diese Haltung ist zutiefst existenzialistisch: das Bild ist ein Ort des Erkennens, nicht der Darstellung. Oder anders formuliert: Jedes Bild ist eine Art von Selbstportrait.

Damit wendet sich Guston gegen jede Form der ästhetischen Reinheit, wie sie in seiner Generation durch den Abstrakten Expressionismus und dessen Theoretiker wie Clement Greenberg vertreten wurde. Malerei, so Guston, darf nicht zur „reinen“ Form erstarren – sie muss den Zweifel, die Schuld, das Banale, ja das Hässliche des Lebens aufnehmen. Seine späten, rohen, cartoonhaften Bilder – die Kapuzenmänner, Schuhe, Zigaretten und Ziegel – sind Zeugnisse dieser Wendung zum Figurativen als moralischem Akt. Kunst soll wieder die Last des Lebens zum Ausdruck bringen bzw. diese Last erträglicher erscheinen lassen.
Charles Reid und die Leichtigkeit des Sehens
Charles Reid (1937-2019), Maler und Lehrer einer ganzen Generation von Aquarellisten, steht äußerlich weit von Guston entfernt. Doch auch Reid betont die Unmittelbarkeit des Sehens: „Don’t think too much — just paint what you (want to) see.“ In dieser Forderung nach Spontaneität und Direktheit teilt er mit Guston die Abneigung gegen theoretische Kälte. Beide glauben, dass das Sehen selbst ein schöpferischer Akt ist, der das Denken übersteigt. Wenn er betont, dass der Maler auch das malt, was er sehen möchte, so ist das nicht im Sinne Gustons gemeint, also ein Erforschen eigener unbewusster Projektionen, sondern im Sinnne gestalterischer ästhetischer Prinzipien, die der Künstler immer beachten sollte, unabhängig von seiinem Motiv. Bei Reid und bei Guston ist also das Sehen nicht in einem optischen Sinne zu verstehen. Beide unterwerfen das Sehen teils gestalterischen Prinzipien (Reid), teils der Notwendigkeit der Erforschung des eigenen Unbewussten (Guston).
Während Reid die Leichtigkeit und Klarheit der Wahrnehmung hervorhebt, sucht Guston gerade das Dunkle, das Widersprüchliche. Reid vertraut weitgehend dem Auge und seinen gestalterischen Kräften, Guston dem Unbewussten. Reid will das sichtbare Motiv befreien von intellektueller Überformung, Guston will das Motiv zerlegen, um darin das Unsichtbare bzw. das Unbewusste zu finden. So wird bei Reid das Malen zum Akt der Befreiung von Hemmungen – eine Schule der weitgehend spontanen Wahrnehmung. Bei Guston hingegen wird es zum Akt der Selbstbefragung – eine Schule der Selbstbeobachtung und des Selbstzweifels.
Reid malt, um das Äußere zu verstehen; Guston malt, um sein eigenes Innere zu entblößen.
John Dewey und die Kunst als Erfahrung
John Dewey (1859-1952) formulierte in Art as Experience, 1934 eine der wichtigsten amerikanischen Ästhetiken des 20. Jahrhunderts: Kunst ist kein isoliertes Objekt, sondern ein Erfahrungsprozess, der Denken, Fühlen und Handeln vereint. Für Dewey ist das Kunstwerk kein Produkt, sondern eine Verdichtung lebendiger Erfahrung – ein dynamischer Austausch zwischen Künstler, Material und Umwelt.
Hier berührt sich Deweys Denken stark mit Gustons Haltung. Auch Guston begreift Malerei als eine Art „Erfahrung in Bewegung“: nicht das Endprodukt zählt, sondern der Akt des Tuns, das Ringen mit der Leinwand, das Sichtbarmachen des Unsagbaren.
Doch wo Dewey optimistisch bleibt – Kunst als Erweiterung des Lebens, als Möglichkeit der Integration von Sinneseindruck und Bewusstsein –, da bleibt Guston tendenhiell tragisch-existenzialistisch. Seine Erfahrung ist eine des möglichen Scheiterns, des möglichen Nichtverstehens, des ständigen Zurückgeworfenseins auf das eigene fragwürdige von Projektionen beherrschte Ich.
Dewey glaubt an die Kontinuität von Kunst und Leben; Guston erlebt die Kunst als Ort der Unterbrechung, als Bruchstelle zwischen Welt und Selbst. Er verwendet die Kunst in ähnlicher Weise wie in der Psychoanalyse Freuds der Traum verwendet werden kann.
Zwischen Erkennen und Nicht-Erkennen — Gustons Ästhetik des Scheiterns
Der Titel I Paint What I Want to See lässt sich sowohl als Bekenntnis zur Autonomie des Sehens lesen als auch als ironische Selbstbefragung. „What I want to see“ – was will ich überhaupt sehen? Was kann ich überhaupt aufgrund eigener Obsessionen sehen und was nicht. Guston malt nicht, um die Welt darzustellen, sondern um herauszufinden, welche Voraussetzungen in ihm vorhanden sind, um etwas sehen zu können und was ihn darin hindert, etwas zu sehen im Sinne von Erkennen. Er begreift den Prozess des Sehens vor allem als Möglichkeit, die eigenen Projektionen zur Anschauung zu bringen. Im Grunde formuliert er eine Ästhetik des Scheiterns beim Bemühen, etwas durch Sehen zu erkennen.
Die Auffassungen von Reid, Dewey und Guston sind unterschiedlich nuanciert. In dieser Triangulation entsteht ein Bild amerikanischer Kunstphilosophie, das von drei Polen bestimmt ist: Reid vertritt den Standpunkt: Vertrauen in die sinnliche Wahrnehmung und in die Grundprinzipien der Gestaltung, Dewey proklamiert: das Vertrauen in die Erfahrung, Guston formuliert das Misstrauen gegenüber beidem – und fühlt sich dennoch der Obsession verpflichtet, weiterzumachen im Sinne einer permanentenl Selbstbefragung und Selbstterfahrung trotz des permanenten Scheiterns.
Philip Guston steht damit an einem paradoxen Punkt: Er malt, um zu sehen, aber er weiß, dass Sehen immer auch Verleugnung und Projektion bedeutet. Zwischen Reid, der in der Unmittelbarkeit des Sehens eine Befreiung findet, und Dewey, der in der Erfahrung eine harmonische Ganzheit sucht, verkörpert Guston die tragische Moderne – den Künstler, der ähnlich wie Albert Camus (Mythos von Sisyphos, 1942) im Scheitern versucht, sich selbst zu entdecken. In diesem Sinn ist I Paint What I Want to See kein theoretisches Manifest, sondern ein philosophisch-existenzielles Bekenntnis: Kunst als ständiger Versuch, dem eigenen Unbewusssten ein Gesicht zu geben.
Der ethische Aspekt in Gustons Kunst
Als Guston Ende der 1960er Jahre wieder Figuren malt – inmitten des politischen und sozialen Umbruchs in den USA –, versteht er das nicht als Rückschritt, sondern als moralische Notwendigkeit. Abstraktion, so meint er, sei nicht mehr unschuldig. In einer Welt voller Gewalt könne Kunst nicht nur rein, schön oder formal sein.
Hier klingt Deweys Gedanke wieder an, dass Kunst sozial eingebettet ist: Sie entsteht im Spannungsfeld menschlicher Konflikte, nicht im isolierten Atelier. Doch Guston geht einen Schritt weiter – er zeigt, dass dieses soziale Feld nicht „da draußen“ ist, sondern vor allem auch im Inneren des Künstlers existiert. Seine Bilder sind Albträume des Bewusstseins, Ausformulierungen einer moralischen Zerrissenheit seines Selbst, seiner Zeit und seiner Kultur.
Zusammenfassung
Im folgendene sollen die Auffassungen von Guston, Reid und Dewey in tagellarischer Form miteinander verglichen werden.
| Autor | Leitidee | Haltung zur Malerei | Verhältnis zu Guston |
|---|---|---|---|
| Charles Reid | Unmittelbarkeit des Sehens | Spontane, sinnliche Wahrnehmung; Vertrauen in das Auge unter dem Primat gestaltender Prnzipien der Ästhetik | Guston teilt das Anti-Intellektuelle, lehnt aber das „helle Sehen“ zugunsten des Unbewussten ab |
| John Dewey | Philosophie einer Kunst als Erfahrung | Integration von Gefühl, Handlung, Wahrnehmung | Guston teilt das Prozesshafte, aber nicht den Optimismus – bei ihm bleibt Kunst ein Ort des Scheiterns |
| Philip Guston | Malerei als Selbstbefragung und Beobachtung der eigenen Projektionen | Sehen als moralisch-existenzielle Handlung | Bricht mit Reinheit, sucht Wahrheit im Fragmentarischen und in der veranschaulichung des Unbewussten |
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