Zur Kritik popularisierter psychotherapeutischer Konzepte

Als Beispiele für Umgang mit popularisierten Konzepten soll in diesem Beitrag die „Bindungstheorie“, das Konzept der „Arbeit mit dem inneren Kind“ und das Konzept der „Achtsamkeits-Übungen“ besprochen werden.

Wie bei allen Popularisierungen hat man es mit Vereinfachungen zu tun, die auf den ersten Blick vermutlich sofort einleuchten, jedem Laien innerhalb von wenigen Minuten verständlich zu machen sind und die Lösung von fast allen Problemen in kürzester Zeit versprechen. Leider ist diese Methode eine der erfolgreichsten im Zeitalter der Massenmedien, weil Propaganda nur so funktionieren kann: Einfachste Lösungen zu versprechen für komplexe Probleme. Beispiele hierfür sind Politiker, die schnelle und einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Aber auch Marketing funktioniert nach dergleichen Methode: Alle erinnern sich noch an: „Warum gleich in die Luft gehen, greif lieber zur HB!“
Auch im Bereich der Religiosität wird man immer wieder auf Praktiken stoßen, in denen Wunderheiler religiöse Rituale und oder „gesegnete“ Gegenstände verkaufen. Nicht zuletzt Martin Luther wurde zur Reformation angestachelt wegen des Verkaufs von Ablassbriefen für noch nicht begangene Sünden im Auftrag der katholische Kirche, um teure Prunkbauten in Rom finanzieren zu können.

Popularisierungen in der Psychotherapie

Auch in der Psychotherapie gab es Verirrungen. So meinte der Psychoanalytiker Wilhelm Reich, eine universelle Lebensenergie namens „Orgon“ entdeckt zu haben und fing an, Geräte zur Heilung zu bauen, die als Orgon-Akkumulatoren funktionieren sollten. Obwohl die Theorien von Reich leider nie endgültig verifiziert oder falsifiziert werden konnten, entfalteten sie eine populäre Bewegung, besonders in den 60er Jahren. Ein anderer Fall ist der von John Money, ein Psychologe, der die Gender-Theorie und insbesondere das Konzept der Geschlechtsumwandlung bei Kindern vorantrieb. Erst Jahrzehnte später wurde seine Behandlung des berühmten Falls von David Reimer als katastrophal und unethisch erkannt. Auch heute glauben noch viele Menschen daran, dass man das Geschlecht frei wählen können solle und dass geschlechtstypisches Verhalten nur das Ergebnis von Konditionierungen seien.

Kritische Betrachtung der Bindungstheorie

Die Bindungstheorie wurde ab 1940 vor allem in den 1950er Jahren von John Bowlby entwickelt und beschreibt, wie die emotionale Bindung (attachment) zwischen Kindern und ihren primären Bezugspersonen die emotionale und soziale Entwicklung beeinflusst. Dieses Konzept wurde neben dem britischen Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby auch von dem schottischen Psychoanalytiker James Robertson und der US-amerikanisch-kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt. Die Theorie wurde durch umfangreiche Forschung und empirische Studien gestützt, z.B. durch die Arbeiten von Mary Ainsworth und ihren „Fremde-Situations-Test“ (Strange Situation-Test).

Unbestreitbar ist, dass die meisten Menschen enge emotionale Beziehungen benötigen, um sich wohl zu fühlen und um sich persönlich weiterentwickeln zu können. Das Problem mit der sogenannten „Bindungstheorie“ beginnt zunächst einmal mit der Semantik. Der englische Referenzbegriff ist „attachment“, was im weitesten Sinne „Bezug zu etwas“ bedeutet. Eine naheliegende Bedeutung ist „Verbindung“. So könnte man etwa formulieren: „An emotional attachment between parent and child is important.“ Man kann den Begriff aber auch im Sinne von Zubehörteil verwenden: „The blender came wtih several attachments.“ In sozialer Hinsicht ist es die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen Menschen. Neugeborene Säugetiere entwickelt eine emotionale Beziehung in Form von emotional-körperlicher Anhänglichkeit zu nahen Verwandten wie z.B. den Eltern oder älteren Geschwistern. Bei Menschen kann beobachtet werden, dass ein Kleinkind, im Falle objektiv vorhandener oder subjektiv erlebter Gefahr (Bedrohung, Angst, Schmerz) Schutz und Beruhigung bei Bezugspersonen sucht, mit denen es sich eng emotional verbunden fühlt.

Abgesehen von diesen kulturübergreifenden allgemeinsten Beobachtungen, versucht die Attachment-Forschung zu belegen, dass Kleinkinder ein angeborenes Bedürfnis haben, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Betreuungspersonen aufzubauen, dass diese Beziehungen störanfällig sind und je nach Grad der Störung sich daraus auf dem Wege einer Prägung vier verschiedene Attachment-Typen nachweisen lassen: Sicherer, unsicher-anklammernder, unsicher-vermeidender und chaotischer Typ.
Die Attachment-Forscher haben ihre Auffassung, was sich förderlich und was sich abträglich auf die Beziehungsfähigkeit eines Menschen auswirkt, immer wieder verändert. Diskutiert wurden Mutter-Kind-Trennungen, die Qualität der Empathie der Mutter bzw. anderer kindlicher Bezugspersonen. M.E. ist es wichtig zu betonten, das Bowlby, obwohl selbst Psychoanalytiker, die Attachment-Theorie von Anfang an als Kritik an der Freudschen Theorie konzipierte und nicht etwa als deren Ergänzung. Das Modell von Attachment sollte an die Stelle von Freuds Beschreibung der oralen Phase treten und damit die psychoanalytische psycho-sexuelle Entwicklungstheorie überhaupt ersetzen.

Der wesentliche Unterschied zu anderen psychoanalytischen Entwicklungstheorien, wie z.B. zu der von Melanie Klein, besteht darin, dass diese von einer primären Konflikthaftigkeit der kindlichen Wünsche ausgehen. In der Theorie der Attachment-Forschung ist das Verhalten des Kindes lediglich eine Funktion des Verhaltens der Bezugspersonen. Innerhalb der Psychoanalyse hat die Bindungstheorie deshalb nie herausragende Anerkennung erfahren, vor allem auch weil sie sehr schematisch Bindungstypen beschreibt, die qua „Prägung“, ein Leben lang erhalten bleiben sollen. Während die Beschreibung der Bindungstypen bei Kindern vielleicht noch sinnvoll erscheint, ist die Übertragung auf das Erleben von Erwachsenen fragwürdig, weil sich Erwachsene nicht mehr in kindlichen Abhängigkeiten befinden und größeren Gestaltungsspielraum für ihre Bedürfnisse in Bezug auf Nähe und Distanz haben sollten. Den Begriff der „Prägung“, aus der Verhaltensforschung von Tieren (Ethologie) entlehnt, auf Menschen anzuwenden, erscheint deshalb auch befremdlich.

Dennoch hat die Bindungstheorie einen großen Einfluss entfaltet, vor allem in der Sozialpädagogik und Kleinkindpädagogik. In den letzten Jahren wurde die Bindungstheorie verstärkt von Verhaltenstherapeuten und Tiefenpsychologen rezipiert, die nach leicht verständlichen und überschaubaren entwicklungspsychologischen Konzepten Ausschau hielten. Auf der anderen Seite wird die Bindungstheorie, gerade weil sie an einer präferierten Beziehung des Kindes zu frühen Bezugspersonen im Sinne der Eltern festhält, heute von Sozialpädagogen kritisiert, die diese Auffassung für wissenschaftlich widerlegt einstufen, dass eine emotionale Beziehung vor allem immer zwischen Kleinkind und Eltern stattfinden muss, weil es in indigenen Großfamilien u.U. andere Betreuungsformen von Kindern geben kann und deshalb auch andere Formen von attachment zu beobachten wären.

Darüber hinaus wird der Begriff Bindung heute populärwissenschaftlich oft in verdinglichter Form benutzt, in dem Sinne, dass man „Bindungen“ habe oder, im Gegensatz dazu, nur „Kontakte“ etc. Den Begriff der Bindung so zu verwenden, ist aber nicht hilfreich. Vielmehr sollte man diesen Begriff nur verwenden, um die Qualität einer Beziehung zu beschreiben, wie etwa in Redewendungen „ich hänge an ihr“ oder „ich fühle mich ihr sehr verbunden“ etc.

Das Verdienst der Attachment-Forschung besteht aber auf jeden Fall darin, dass sie zumindest implizit von einem angeborenen Trieb (bzw. von einem angeborenen körperlich begründeten Bedürfnis) nach emotional bedeutsamen Beziehungen ausgeht, der unabhängig vom Sexualtrieb angenommen und der als Grundlage für emotionale Austauschprozesse, Kommunikation und Spracherwerb angesehen werden muss.
Dieser Aspekt ist wesentlich für alle Konzepte der Objektbeziehungstheorien in der Psychoanalyse.
Vergleiche hierzu auch den Beitrag über Objektbeziehungstheorien.

Deshalb sollte, ausgehend von dem Wunsch nach Nähe und Verbundenheit, ein leibliches kommunikatives Bedürfnis als primär triebhaft postuliert werden, weil ohne ein solches kommunikatives Bedürfnis, das in erster Linie sich primär im nahen Körperkontakt befriedigen will, keine spontane Vergesellschaftung des Menschen möglich wäre. Vielmehr müsste diese erst in jedem einzelnen Falle jeweils neu gelernt werden, was der Tatsache widerspricht, dass bereits die nächsten Verwandten im Tierreich in Horden leben und insofern, der Herdentrieb und alles was damit zusammenhängt, soziale Organisation und Kommunikation in Form von Warnlauten und Gesten als Ausdruck eines Triebes und seinen kulturellen Sublimationsformen zugerechnet werden muss.

Das kommunikative Bedürfnis und die Notwendigkeit einer sozialen Verbindung kann auch nicht umständlich aus der von Freud beschriebenen oralen libidinösen Phase abgeleitet werden. Die Anerkennung eines primären Triebes nach körperlicher Nähe und sprachlicher Kommunikation sollte aber auf keine Fall gegen Freuds Konstruktion einer oralen Phase ausgespielt werden, wie dies bei Bowlby intendiert ist. Insofern kann auch der Spracherwerb und die von Rene Spitz eingebrachte Forschung zum dialogischen Prinzip in der Interaktion zwischen Kind und seinen Bezugspersonen aus einem primären Bedürfnis / Trieb nach Kommunikation und Austausch abgeleitet werden. Vergleiche hierzu auch den Beitrag zu Spracherwerb und Psychoanalyse.

Ein wesentlicher Aspekt der Attachment-Forschung ist die Hypostasierung einer nicht ambivalenten Beziehung und die Herausbildung von angeblichen Bindungstypen im Sinne von „Prägungen“, wie sie aus dem Tierreich (Konrad Lorenz) bekannt sind. Dies ist mit Nachdruck kritisch zu hinterfragen. Sicher ist, dass jeder Mensch bestimmte Muster von Kommunikation und emotionalen Austausch mit Bezugspersonen entwickelt, die sich aber beim Menschen ständig, je nach sozialer Erfahrung, altersentsprechend ausdifferenzieren. Wenn es nicht zu Reifungsprozessen in Bezug auf diese Muster kommt, sollte man bei Erwachsenen eher von Fixierungen auf frühe infantile Entwicklungsstufen sprechen und diese jeweils beschreiben. Anstelle bei Erwachsenen Bindungstypen zu postulieren, wäre es eher sinnvoll zu untersuchen, in welchem Mischungsverhältnis beim jeweiligen Individuum die von Fritz Riemann untersuchten Ängste vor zu großer Nähe (Verschmelzungsangst, Vereinnahmungsangst, Autonomieverlustangst) und vor zu großer Objektferne (depressive Ängste in Bezug auf Vereinsamung, Isolation, Vergessenwerden, Trennung, Verlust) beschrieben werden können.

Die Unterstellung, es gäbe einen sicher gebundenen Typ, wenn nur die jeweiligen Bezugspersonen ausreichend empathisch waren, übersieht, dass menschliche Beziehungen von Anfang an konflikthaft erlebt werden und deshalb nicht linear verlaufen können. Das Kind selbst reagiert schon früh auf Bezugspersonen ambivalent, d.h. anklammernd oder sich frei strampelnd. Diese Konflikthaftigkeit wird m.E. viel angemessener in Margaret Mahlers Konstruktion der Psychischen Geburt beschrieben. Dem Kind jegliche konflikthafte Subjekthaftigkeit abzusprechen und Sozialisationsergebnisse einseitig als Funktion elterlichen Verhaltes darzustellen, vermittelt die Illusion von Normalität als Ausdruck eines perfekten Erziehungsstils. Beides ist eine Fiktion, weder kann man mit einem Erziehungsstil ein bestimmtes optimales Ergebnis (die sichere Bindung) erzielen, noch kann es so etwas wie eine konfliktfreie Bindung überhaupt geben, weil Menschen in Bezug auf Vergesellschaftung grundsätzlich ambivalent sind. Einerseits brauchen Menschen andere Menschen, andererseits empfindet sie zu viel Abhängigkeit als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit.

Den Schrei nach mehr Individualität und persönlicher Freiheit als Bindungsstörung zu diskriminieren, erscheint mir sehr ideologisch verblendet und passt im Grunde nicht in eine Zeit, die ansonsten in jeder Hinsicht auf Emanzipation ausgerichtet ist. Wenn man davon ausgehen muss, dass Erwachsene sich in einer jeweiligen Situation aversiv beziehungsvermeidend oder ängstlich anklammernd verhalten können, besteht die große Gefahr, diese Reaktionen nicht in ihrem Kontext zu verstehen, sondern vorschnell und pauschal jeweils als Störung zu diagnostizieren. Wenn aber menschliche Reaktionen ohne Notwendigkeit pathologisiert werden, ist davon auszugehen, dass dies aus gesellschaftspolitischen Gründen heraus geschieht und die Betroffenen dabei ihrer Subjektivität entkleidet werden.

Kritische Würdigung der Attachment-Forschung
Problematisch ist es, den Begriff „Bindung“ so zu verwenden, als gäbe es so etwas wie „Bindung“ als solches im realen Leben substanziell. Das ist aber irreführend. Zwar kann man sagen, man habe emotional enge Beziehungen oder Bindungen an seine Familie, aber der Begriff impliziert immer eine Qualität von Beziehungen, d.h. er beschreibt eine Funktion, analog etwa zu einer Aussage, ein Auto könne 200km/h fahren. Wenn damit die Spitzengeschwindigkeit gemeint ist, macht das ja Sinn. Aber eine Aussage „Ich habe 200km/h.“ ist sinnfrei.

Leider wird der Bindungsbegriff in popularisierter Form so verwendet, als sei Bindung eine Substanz. Dies wird jedenfalls suggeriert in den sogenannten Bindungstypen. Doch was soll man sich darunter vorstellen, wenn man sagt, jemand sei sicher gebunden: Dass er niemals seinen Job wechseln wird, sich niemals scheiden lassen wird, niemals umziehen wird? In einer dynamischen Gesellschaft wäre ein sicher gebundener Mensch jemand, der sich nur in Abhängigkeiten befände. Oder was soll es bedeutet, wenn man sagt, jemand habe einen chaotischen Bindungsstil? Wenn jemand enge Beziehungen eingeht und dann wieder Menschen von sich fort stößt, seine Emotionen fluktuieren lässt zwischen intensiver Liebe und abgrundtiefem Hass? Es wäre doch viel zielführender, dies als stark ambivalentes Beziehungsverhalten zu charakterisieren. Wenn man den Bindungsbegriff ins Spiel bringt, versucht man zu suggerieren, dass dieser chaotische Umgang mit Beziehungen eine Folge von elterlichen Erziehungspraktiken sei. Hätte es keine Mutter-Kind-Trennungen gegeben oder sei die Mutter etwas empathischer gewesen, läge jetzt kein chaotisches Beziehungsverhalten vor. Dieser Ursache-Wirkungs-Zusammenhang kann sogar in Einzelfällen richtig sein, leider sind menschliche Schicksale viel zu kompliziert, als dass man auf diese Weise kurzschlüssig Zusammenhänge sinnvoll und zielführend beschreiben könnte. Viele Psychotherapeuten werden heute offenbar so ausgebildet, dass sie bei jeder Störung erst einmal nach einem angeblichen Trauma fahnden. Die Attachment-Forscher geben dieser Fehl-Haltung zusätzliche Argumente.

Ebenso scheint mir die Beschreibung von unsicher gebundenen, anklammernden Personen und unsicher gebundenen, vermeidenden Personen völlig pauschal, weil ein und dieselbe Person, sich in in einer Situation anklammernd und in einer anderen Situation vermeidend verhalten kann. Wie will man erklären, dass Menschen keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie haben wollen und stattdessen in eine Glaubensgemeinschaft eintreten, an deren Regeln und Chefs sie sich klammern?

Angebliche Bindungsstörung als Schutzbehauptung
In meine Praxis kommen immer mehr Menschen, die handfeste Gründe haben, nicht heiraten zu wollen, z.B. weil ihr Beruf als Performance-Künstler dies nicht erlaubt, oder weil ein Mann, sich eigentlich keine Kinder wünscht und seine Freundin am liebsten so bald als möglich verlassen möchte. Aber anstatt dies klar zu kommunizieren, wird gesagt: „Ich glaube, ich mache mal einen Termin beim Psychologen, es könnte sein, dass ich eine Bindungsstörung habe.“ Der Missbrauch des Bindungsbegriffs ist dann im Spiel, wenn Interessengegensätze psychologisiert und pathologisiert werden. Welchen Sinn soll es haben, wenn man nachvollziehbar aversiv-vermeidendes oder sehnsüchtig-anklammerndes Verhalten pathologisiert?

Im professionellen Rahmen werden gerade gegenläufige Tendenzen diskutiert, z.B. in Diskursen, ob man nicht in der Diagnostik mehr fokussieren sollte auf die Beschreibung von Emotionen der Patienten und weniger sich orientieren sollte an Diagnoseschemata. Es scheint mir ein gewisser Anachronismus zu sein, dass ausgerechnet jetzt Laien massenhaft dazu übergehen, ihre privaten Lebensschicksale zu pathologisieren, sich gegenseitig mit Diagnosen zu belegen und es nicht mehr schaffen, eine misslingende Beziehung in ihrer Komplexität differenziert emotional zu beschreiben, sondern nur noch konzedieren, sie seinen mit einem Narzissten, Borderliner oder Bindungsgestörten zusammen gewesen.

Von Patienten wird erwartet, dass man als Psychologe bestätigend formuliert: „Ach so, alles klar, dann müssen wir nicht mehr drüber reden, was eigentlich los war.“ Die massenhafte Verwendung popularisierter psychologischer Begriffe verhindert eher echte Psychotherapie, als dass sie diese ermöglichte. Eine ernsthafte Psychotherapie könnte doch dann beginnen, wenn jemand käme und sagte „Ich war mit einem Narzissten zusammen und habe jetzt den Verdacht, ich könnte ein Co-Narzisst sein.“

Auch wird übersehen , dass die Attachment-Forschung keine komplexe Entwicklungspsychologie entwirft, wie dies etwa Piaget für die kognitive Entwicklung vorgelegt hat oder Freud in seinem Modell der verschiedenen frühkindlichen Entwicklungsphasen. Die Attachment-Forscher sind nur interessiert, an dem Phänomen Attachment als solchem und abstrahieren von anderen Parametern wie z.B. der inneren Konflikthaftigkeit des Kindes, seine eigenen Bemühungen Nähe und Distanz zu Bezugspersonen zu regulieren, Ängste vor bedrohlicher Nähe oder bedrohlichem Verlassenwerden zum Ausgleich zu bringen. In den Bindungstheorien wird Bindung als etwas Substanzielles aufgefasst, was man möglichst haben sollte, und wenn man davon nicht genug bekommen hat, waren vermutlich die Eltern schuld. Solche Inhalte eignen sich vielleicht für Partygespräche, haben aber keine große Relevanz in einer ernsthaften klinischen Psychologie. Diese beginnt immer mit der Beschreibung innerer eigener Konflikthaftigkeit im Feld des Erlebens der eigenen komplexen Emotionen

Wenn Therapeuten unbegründete oder überzogene Versprechungen machen, dass Psychotherapien, die auf der Bindungstheorie basieren, schnell und einfach tiefgreifende psychologische Probleme lösen können, so sollte dies als problematisch angesehen werden. Vor allem, weil die Bindungstheoretiker selbst ja davon ausgehen, dass die von ihnen postulierten Bindungstypen „Prägungen“ entsprechen und demzufolge gar nicht verändert werden könnten.

Zusammenfassung der kritischen Aspekte

Bedürfnis nach emotionalem Austausch und Kommunikation mit nahen Angehörigen

Kinder benötigen enge emotionale Beziehungen zu anderen Menschen. Ob der Begriff der Bindung (als Übersetzung für attachment) an die Eltern dabei aber so sehr hilfreich ist, sollte im ethnologischen Vergleich weiter untersucht werden. Was wir heute unter Bindung verstehen, ist vermutlich nur eine Form von Befriedigung eines primären Bedürfnisses nach emotionalem Austausch und Kommunikation mit nahen Angehörigen.
Bindung beschreibt, wenn überhaupt, eine bestimmte Qualität von sozialen Beziehungen. Bindung als solche gibt es nicht und das Gerede darüber ist leider nur Jargon.

Antagonismus von Bindung und Explorationsverhalten

Der Antagonismus von emotionaler Bindung einerseits und Explorationsverhalten gegenüber einer verdinglichten Umwelt macht Sinn vor dem Hintergrund des Paradigma soldatischen Handelns. Der Soldat soll sicher gebunden an seinen Fahneneid oder militärischen Anführer, mutig das Feindesland erobern. Dass dieses Paradigma in Great Britain noch zur Blüte des Empires entwickelt wurde, sollte nicht verwunden.
Die Beschreibung von Attachment-Typen mag für Kinder noch sinnvoll sein, die Anwendung auf Erwachsene ist völlig willkürlich, weil Sozialisation viel komplizierter ist, als dass man emotionale Kommunikationsstile für das Leben von Erwachsenen auf vier Typen reduzieren könnte, zumal anklammerndes und vermeidendes Verhalten in unterschiedlichen Situationen beim selben Menschen beobachtet werden können.

Gibt es eine konfliktfreie Beziehung?

Die Attachment-Forscher postulieren eine konfliktfreie Beziehung zu den primären Bezugspersonen. Dabei blenden sie aus, dass andere Ansätze der Objektbeziehungspsychologie durchaus von Ambivalenz-Konflikten ausgehen, z.B. in Bezug auf Nähe und Distanz, Spaltungsprozessen etc. Auch die Konflikte im Rahmen einer Drei-Personen-Beziehung mit Eifersucht und unbewussten Beseitigungswünschen werden ausgeklammert. Aus Sicht der Bindungstheoretiker erscheint das Kind lediglich als Funktion des elterlichen Erziehungsverhaltens. Deshalb können später Probleme im Leben des Erwachsenen umstandslos als Erziehungsfehler der primären Bezugspersonen beschrieben werden. Ein intrapsychischer psycho-dynamischer Ansatz in der Psychotherapie ist damit schon unterminiert und im Grunde obsolet.

Passt der Begriff der „Prägung“ für menschliche Entwicklungsprozesse?

Die Übernahme des Begriffs der „Prägung“ aus der Ethologie auf die menschliche Entwicklung ist unzulässig, weil der Begriff der „Prägung“, so wie er von Ethologen verwendet wird, nur Sinn macht im Kontext von tierischen Instinkten. Menschen haben aber keine Instinkte, sondern, wenn überhaupt nur Triebe oder körperlich begründete Bedürfnisse, die erheblich plastischer sind als Instinkte. Der Begriff „Prägung“ wurde aus der Ethologie übernommen, um den Freudschen Begriff der „Übertragung“ ebenso wie seine Konstruktion eines libidinösen Triebes ersetzen zu können. Wenn Freud davon ausging, dass komplexe Beziehungsmuster aus der Kindheit unbewusst ins Leben der Erwachsenen „übertragen“ werden, so ist dies ein sehr viel offeneres Konzept als das Konzept einer „Prägung“, bei dem man davon ausgeht, dass Menschen sich als Erwachsene so und nicht anders verhalten, weil sie entsprechend „geprägt“ wurden. Wie solcherart „geprägte“ Menschen dann ihre Wiederholungszwänge leichter überwinden sollen, bleibt ein Rätsel. Tatsächlich meinen die Bindungstheoretischer aber vermutlich gar keine „Prägung“ im Sinne der Ethologie sondern eine Art von Fehlkonditionierung. Der Begriff der „Prägung“ beinhaltet insofern einen Etikettenschwindelt, weil er ein behavioristisches Konzept des Lernens als ein ethologisches Konzept ausgibt.

Beziehungsmuster aus der Kindheit und ihre Transformation ins Leben von Erwachsenen

Selbst wenn es in der Kindheit Muster emotionaler Kommunikation geben sollte, ist sehr zu zweifeln, ob solche Muster sich direkt im Leben von Erwachsenen als angebliche „Bindungstypen“ wiederfinden lassen. Es ist schon unwahrscheinlich, dass man das emotionale Verhalten von Kindern auf vier Muster reduzieren kann, umso weniger ist glaubwürdig, dass Erwachsene diese angeblichen Bindungstypen ihr Leben lang reproduzieren sollen. Mit der klinischen Erfahrung ist das jedenfalls nicht kompatibel.

Triebmischung oder Triebantagonismus

Der von Bowlby beschriebene Konflikt zwischen Wunsch nach Attachment und Explorationsveralten ist ebenfalls eine Engführung. Wenn man davon ausgehen kann, dass sowohl der Wunsch nach emotionaler Verfügbarkeit und Erreichbarkeit von anderen Menschen und emotionalem und sprachlichem Austausch mit ihnen eine Triebqualität zukommt und ebenso das Explorationsverhalten einen Trieb der Neugierde auf die unbelebte Welt der Dinge repräsentiert. so sollte man daraus eher schlussfolgern, dass es sowohl zu einem Konflikt zwischen zwei Trieben (Suche nach emotionaler Nähe versus Explorationsverhalten) wie auch zu einer Triebmischung (Suche nach emotionaler Nähe im Zusammenhang mit Explorationsverhalten) kommen kann. Gerade die zweite Variante der Triebmischung wird der Erfahrung in der psychotherapeutischen Praxis viel eher gerecht, wo es ja gerade immer wieder darum geht, dass Patienten sich und ihre Umwelt explorieren und sich dabei in sicherer Umgebung unterstützt fühlen möchten. Emotionale Nähe gegen Explorationsverhalten auszuspielen ist viel zu sehr an einer westlichen Kultur interessiert, in der Kinder alsbald alleine lernen sollen und nicht gemeinsam mit anderen. Eine Theorie, die ihre eigenen kulturellen und gesellschaftspolitischen Voraussetzungen nicht reflektiert, sollte man schon aus diesem Grunde kritisch befragen.

Ist die Bindungstheorie reduktionistisch?

In der klinischen Psychologie wirkt der Ideologiecharakter der Bindungstheorie befremdlich, wenn man auf Patienten trifft, die extrem sicher gebunden sind, nie einen Konflikt mit ihrer Mutter hatten, zusätzlich ein ausgesprochen starkes Explorationsverhalten zeigen, aber in sexueller Hinsicht schwere Perversionen aufweisen. Könnte es sein, dass die Bindungsforschung bedeutende Aspekte der conditio humana einfach ausblendet, um zu ihren stromlinienförmigen Normalitätsidealen und scheinbar eingängigen Konstrukten von vermeintlichen Bindungsstörungen zu gelangen?

Kritische Betrachtung der „Arbeit am inneren Kind“

Diese Theorie wird in verschiedenen therapeutischen Ansätzen verwendet, insbesondere in der Gestalttherapie und der Transaktionsanalyse, aber auch in der Traumatherapie etc.
Professionelle Psychotherapeuten sind skeptisch in Bezug auf überzogene Versprechungen, dass die Arbeit am inneren Kind alle psychischen Probleme schnell und einfach lösen kann.
Die Theorie vom inneren Kind ist ein Konzept, dass wesentlich von John Bradshaw massenhaft popularisiert wurde.

Es bezieht sich in diesem Konzept zunächst allgemein auf die Idee aller Psychoanalytiker seit Freud, dass Kindheitstraumata und unerfüllte kindliche emotionale Bedürfnisse das Leben eines Erwachsenen beeinflussen können. In vielen tiefenpsychologisch orientierten Verfahren wird man irgendwann mit Kindheitserinnerungen der Patienten konfrontiert. Vor allem in Träumen ist nachvollziehbar, dass es meist einen Tagesrest gibt, der sich auf unmittelbar Erlebtes vor dem Traum bezieht. Aber andere Elemente des Traums verweisen auf Phasen im früheren Leben bis in die früheste Kindheit des Patienten.

Dies hängt zusammen mit der Funktionsweise unseres Gehirns, das bestrebt ist, neuronal alles mit allem zu verknüpfen. Dabei werden durch die Neuverknüpfungen, die in jeder Nacht stets aktualisiert werden, die Erinnerungen immer wieder umgebaut. Die Erinnerungen an unsere Kindheit sind nichts substanzielles, sondern haben die Funktion, uns das Gefühl einer einheitliche Identität in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu verschaffen. Also z.B. „Ich habe jetzt die Prüfung bestanden, weil meine Eltern mich zu diszipliniertem Arbeite erzogen haben.“ Oder: „Ich habe die Prüfung nicht bestanden, weil es meine Eltern versäumt haben, mich zu diszipliniertem Arbeiten zu erziehen.“ In jedem Fall wird man die Vergangenheit nicht so erinnern wie sie tatsächlich war, sondern wie sie am besten zu den aktuellen Erlebnissen passt und sich in ein geschlossenes Narrativ eingliedert. Vergleiche hierzu auch sie Seite: Falsche Erinnerungen. Im übrigen ist die Qualität von Erinnerungen extrem vom biographischen Gedächtnis einen Menschen abhängig. Und dieses ist bei allen Menschen sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Es war nicht zuletzt Freud, der in der Anfangsphase der Entwicklung der Psychoanalyse von der Vorstellung besessen war, jede psychische Erkrankung sei auf einen sexuellen Übergriff in der Kindheit zurück zu führen. Weil seine Patientinnen dies merkten, dass er darauf hinaus wollte, produzierten sie Einfälle und Erinnerungen, die zu seiner Theorie passten. Dies ging so lange gut, bis er das ganze Verfahren als fragwürdig empfand und an seinen Freund Wilhelm Fließ schrieb, er glaube seinen Patientinnen ihre sexuellen Verführungen nicht mehr. Dies war eine entscheidende Wende in der Geschichte der Psychoanalyse, aber nicht unbedingt zum Guten. Denn anschließend fokussierte man einseitig auf unbewusste Phantasien als pathogene Faktoren und ignorierte weitgehend reale traumatische Erfahrungen. Dieser Fehler wurde erst sehr viel später wieder korrigiert. Wie man auch immer mit der Erinnerung umgehen muss oder möchte, immer sollte klar sein, dass es die Erinnerung als solche substanziell nicht gibt und nicht geben kann, weil das Gehirn Erinnerungen nur als Funktionen in einem Gesamtzusammenhang aufbewahrt und nicht separierend wie in einem Schubladensystem.

Zur Bedeutung der Kindheit in den verschiedenen psychotherapeutischen Theorien nach Freud insofern sie relevant sind für die Theorie vom inneren Kind. Hier sind vor allem zu nennen die Auffassungen von C.G. Jung und Alice Miller.
Alice Miller, eine in den 80er Jahren sehr bekannte Psychoanalytikerin und Autorin, betonte im Gegensatz zur damaligen freudianischen Orthodoxie in ihren Publikationen die Bedeutung der Kindheit in der psychischen Entwicklung und die Notwendigkeit, Kindheitstraumata zu erkennen und zu verarbeiten. Man muss aber dabei bedenken, dass in den Jahren zuvor, der Psychoanalyse gerade dies zum Vorwurf gemacht worden war, nämlich sie beschäftige sich über Jahre ausschließlich mit der Kindheit ihrer Patienten. Als die Psychoanalyse, auf diese Kritik hin, stärker auf das Hier-und-Jetzt in der Psychotherapie fokussierte, konnte Alice Miller leicht auf den Missstand, die Kindheit werde jetzt vernachlässigt, zu Recht aufmerksam machen.

C.G. Jungs Archetypen-Lehre

Im Unterschied zu Freud entwickelte Jung eine Variante der Psychoanalyse, die sehr stark Bezug nahm auf kulturelle Aspekte der menschlichen Existenz. Er fokussierte nicht mehr so sehr auf die jeweiligen individuellen Schicksale und Konflikte seiner Patienten, sondern wollte vielmehr erforschen, inwiefern Individuen bestimmten vorgeprägte Archetypen entsprechen. Dies macht aus freudianischer Perspektive auch Sinn, wenn man von unbewussten Identifikationen ausgeht, die Individuen mit bekannten Helden ausbilden. Jung ging aber noch einen Schritt weiter und entwickelte seine Theorie der Archetypen, die als universelle, ererbte Muster und Bilder angeblich im kollektiven Unbewussten aller Menschen existieren sollen. Diese Theorie ist zumindest schwer zu widerlegen, wenn auch nicht unbedingt in einer multiethnischen Welt so sehr plausibel.

Der Archetypus des „Ewigen Kindes“

Einer dieser von Jung postulierten Archetypen ist das „Ewige Kind“ (Puer Aeternus), das Aspekte von Kindlichkeit und Jugendlichkeit repräsentiert. Dieses Konzept ist insofern hier von Bedeutung, weil es Elemente enthält , die angeblich später in die Theorie des inneren Kindes integriert wurden.
Der Archetypus des „Ewigen Kindes“ (Puer Aeternus) ist ein Konzept in der Theorie von Carl Gustav Jung, das eine spezifische, archetypische Persönlichkeit beschreibt, die durch kindliche Eigenschaften und Verhaltensweisen gekennzeichnet ist. Der Puer Aeternus ist ein archetypischer Charakter, der für ewige Jugend, Unreife und eine Vermeidung des Erwachsenwerdens steht. Die wichtigsten Merkmale dieses Archetyps sind: Kindliche Unbeschwertheit: Ein Hang zu Idealismus, Fantasie und Kreativität, gepaart mit einer Abneigung gegen Verantwortung und Verpflichtungen. Abenteuerlust und Freiheitsdrang: Eine starke Sehnsucht nach Freiheit und neuen Erfahrungen, die oft zu einer Unfähigkeit führt, sich festzulegen oder stabile Beziehungen und Karrieren aufzubauen. Vermeidung von Reife: Schwierigkeiten, die Herausforderungen und Verantwortungen des Erwachsenenlebens anzunehmen, was oft zu einer Flucht in Tagträume oder unrealistische Pläne führt.
Der Archetyp des Ewigen Kindes kann sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf das Individuum haben: Positive Aspekte sind Kreativität, Spontaneität, eine lebhafte Vorstellungskraft und die Fähigkeit, die Welt mit den Augen eines Kindes zu sehen, was zu einem reichen inneren Leben und innovativen Ideen führen kann. Negative Aspekte sind Schwierigkeiten, sich der Realität zu stellen, Unfähigkeit, langfristige Verpflichtungen einzugehen, und eine Tendenz, vor Verantwortung zu fliehen, was zu persönlichen und beruflichen Instabilitäten führen kann.
Jung betonte die Notwendigkeit, archetypische Elemente des Selbst zu integrieren, um ein ausgeglichenes und ganzheitliches Individuum zu werden. Der Puer Aeternus kann in diesem Kontext eine Herausforderung darstellen: Die Integration des Ewigen Kindes bedeutet, die positiven Aspekte wie Kreativität und Unbeschwertheit zu bewahren, während man gleichzeitig lernt, Verantwortung zu übernehmen und sich den Anforderungen des Erwachsenenlebens zu stellen. Dies kann auch die Konfrontation mit den Schattenseiten dieses Archetyps beinhalten, wie der Tendenz zur Flucht vor Schwierigkeiten und der Vermeidung von Reife.

Der Archetyp des Ewigen Kindes in Jungs Theorie beschreibt eine archetypische Persönlichkeit, die durch ewige Jugend, Idealismus und eine Vermeidung von Verantwortung gekennzeichnet ist. Während dieser Archetyp positive Eigenschaften wie Kreativität und Spontaneität verkörpert, stellt er auch eine Herausforderung dar, da er die Integration von Reife und Verantwortungsbewusstsein erfordert. In der Jung’schen Psychologie ist die Arbeit mit diesem Archetyp ein wichtiger Teil des Individuationsprozesses, der zur Selbstverwirklichung und Ganzheit führt. Dies ist ein gewisser Widerspruch, einerseits wird der Archetyp als etwas Ewiges beschrieben, andererseits soll er durch die Therapie modifiziert werden können.

Es ist klar, dass dieser Archetyp in etwa dem entspricht, was in anderen psychotherapeutischem Schulen etwas lakonischer als histrionische Persönlichkeit beschrieben wird. Vergleiche hierzu etwa Fritz Riemann, Grundformen der Angst. Zugleich wird deutlich, dass Jung aber immerhin Funktionen beschreibt wie etwa Angst davor, sich festzulegen und Verantwortung zu übernehmen, und nicht etwa postuliert, dass das Ewige Kind in jedem Menschen substanziell existiere.

Als Herausforderung für die psychotherapeutische Arbeit mit Patienten, die diesem Archetypus entsprechen,
betonte Jung den Prozess der Individuation, bei dem eine Person ihr wahres Selbst entdeckt und integriert. Dieser Prozess beinhaltet die Konfrontation mit verschiedenen Aspekten des Selbst, einschließlich Kindheitserfahrungen und deren Auswirkungen auf das gegenwärtige Verhalten und die emotionale Gesundheit. Im Grunde synonym zu Freuds Konzept des verdrängten Unbewussten, führte Jung das Konzept des „Schattens“ ein, das jene Teile des Selbst umfasst, die verdrängt oder unterdrückt werden. Die Arbeit mit dem Schatten beinhaltet u.a. die Auseinandersetzung mit verdrängten Kindheitserlebnissen.

Obwohl Jung den Begriff des inneren Kindes nicht verwendete, gaben spätere Autoren vor auf seinen Konzepten aufbauend die Theorie des inneren Kindes entwickelt zu haben. Vor allem John Bradshaw popularisierte die Arbeit mit dem inneren Kind in den 1980er Jahren. Er verband das Konzept direkt mit Kindheitstraumata und ungelösten emotionalen Bedürfnissen. Bradshaws Arbeit basiert angeblich teilweise auf Jung’s Theorien über das Unbewusste und die Bedeutung der Integration verdrängter Aspekte des Selbst.

Bradshaw und seine Konstruktion von der „Arbeit am inneren Kind“

Bradshaw definierte das innere Kind als einen Aspekt der Persönlichkeit, der aus ungelösten Kindheitserfahrungen und emotionalen Wunden besteht. Er betonte, dass diese frühen Erfahrungen das Leben von Erwachsenen stark beeinflussen können und dass die Heilung dieser Wunden entscheidend für das persönliche Wachstum und die emotionale Gesundheit ist.

Bradshaw schrieb mehrere Bücher, darunter: „Bradshaw On: The Family“ (1986): In diesem Buch untersucht er die Dysfunktionen in Familien und wie diese das Verhalten und die emotionalen Muster der Kinder beeinflussen, die zu Erwachsenen heranwachsen. „Homecoming: Reclaiming and Healing Your Inner Child“ (1990): Dieses Buch stellt die Theorie des inneren Kindes ins Zentrum und bietet praktische Übungen und Anleitungen zur Heilung von Kindheitstraumata. Bradshaw trat auch in vielen Fernsehprogrammen und Seminaren auf, wodurch er eine breite Öffentlichkeit erreichte und das Konzept des inneren Kindes bekannt machte.
Bradshaw entwickelte spezifische therapeutische Methoden, um Menschen zu helfen, mit ihrem inneren Kind zu arbeiten: Geführte Meditationen und Visualisierungen: Diese Techniken sollten Menschen helfen, in Kontakt mit ihrem inneren Kind zu treten und vergangene Verletzungen zu heilen. Das Schreiben von Tagebüchern und expressive Therapien wurden ins Spiel gebracht: Bradshaw förderte das Schreiben und andere Ausdrucksformen, um Emotionen und Erinnerungen aus der Kindheit zu verarbeiten. Er regte Gruppentherapien und Workshops an, die sich auf die Arbeit mit dem inneren Kind konzentrierten, um gemeinschaftliche Heilung und Unterstützung zu fördern.
Bradshaw integrierte psychologische und spirituelle Perspektiven in seine Arbeit mit dem inneren Kind. Er betrachtete die Heilung des inneren Kindes nicht nur als psychologischen Prozess, sondern auch als spirituellen Weg zur Selbstfindung und Ganzheit. John Bradshaw hat die Theorie des inneren Kindes durch seine umfassenden Arbeiten, Bücher und Medienauftritte maßgeblich entwickelt und verbreitet. Er hat das Konzept des inneren Kindes in die populäre Kultur eingeführt und wie ein spiritueller Heiler konkrete Methoden und Ansätze zur Heilung von Kindheitstraumata bereitgestellt.

Zusammenfassung der kritischen Aspekte

In einer kritischen Betrachtung sollten drei Aspekte hervorgehoben werden: Zum einen ist nicht jede psychische Problematik mit einem Kindheitstrauma verbunden. Wer meint, z.B. eine psychosomatische Erkrankung aus einem Kindheitstrauma ableiten zu können oder zu müssen, ist meist auf dem Holzweg. Zum anderen ist das „innere Kind“ keine Substanz, die man direkt ansteuern könnte, sondern ist eine Form des Erlebens von eigenen infantilen Aspekten, die im Leben von Erwachsenen nur auf dem Wege der Regression zugänglich sind und deshalb regressionsfördernder Umgebungen bedürfen, um sie zu aktualisieren. Jede Regression ist aber mit bestimmten Risiken verbunden und hier gilt wie bei allen anderen Experimenten auch: „Don’t try this at home.“ Arbeit an regressiven Erlebnisweisen und regressiven Erlebnisinhalten ohne professionelles Setting ist nicht empfehlenswert. Drittens: Für Laien kann es sehr schwer sein, authentische von nicht-authentischen Erinnerungen zu unterscheiden. Der Begriff des „inneren Kindes“ suggeriert eine Verfügbarkeit von authentischen Erinnerungen rund um die eigene Kindheit, die es aber tatsächlich valide so gar nicht geben kann. Deshalb ist die Arbeit mit Kindheitserinnerungen und insbesondere solchen, die möglicherweise traumatisierend waren oder sich im Nachhinein traumatisierend ausgewirkt haben, immer eine diffizile psychotherapeutische Herausforderung und Gratwanderung.

Im Vordergrund sollte immer die Frage stehen, was bedeutet die Beschäftigung mit Kindheitserinnerungen im Hier-und-Jetzt? Welche Funktion wird damit abgedeckt? Wird damit Verantwortung auf andere abgelenkt, um eigene Verantwortung auszublenden oder gibt es tatsächlich verdrängte Aspekte der Persönlichkeit, die einer aufdeckenden Psychotherapie bedürfen. Die popularisierende Konzeption des „inneren Kindes“ suggeriert eine einfache Lösung für ein sehr komplexes Problem, was schon an sich skeptisch machen sollte.

Kritische Betrachtung der „Achtsamkeitsübungen“

Übungen zur Lenkung der Aufmerksamkeit zur Beruhigung in Form von verschiedenen Meditationstechniken werden bereits seit vielen Jahrhunderten in verschiedenen Kulturen verwendet. Ab etwa 1980 wurde von dem US-Amerikaner Jon Kabat-Zinn dann ein Set von traditionellen Yoga- und Meditations-Übungen in Verbindung mit einem sogenannten “Body-Scan” publiziert und praktiziert, die er “Mindfulness-Based Stress Reduction” (MBSR) nannte. Im deutschen Sprachraum wurde dieser Ansatz unter der Bezeichnung “Die Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion” oder unter der Abkürzung des englischen Begriffs “MBSR” bekannt.

Im Kern geht es wie im traditionellen Yoga um die gezielte Lenkung von Aufmerksamkeit im Rahmen von z.B. Atemübungen, Bewegungs- und Sitzmeditation sowie bestimmten Yogastellungen (Asanas). Die systematische Einübung einer nachhaltigen Form von Aufmerksamkeit wurde von Kabat-Zinn mit dem Begriff der “Mindfulness” bzw. “Achtsamkeit” belegt und als geeignetes Mittel zur Stressbewältigung und Stressreduzierung angesehen und propagiert.

Obwohl als pädagogische Methode angelegt, wurde MBSR dennoch bald massenhaft im Sinne von Krankenbehandlung propagiert und als Indikation für MBSR wird bis heute von den Vertretern dieser Methode eine breite Palette von Störungen angegeben. Dabei steht außer Frage, dass bei vielen psychogenen und psychosomatischen Erkrankungen die nachhaltige Stressreduzierung eine positive Auswirkung haben kann. Das Problem ist nur, dass in vielen therapeutischen Ansätzen „Achtsamkeitsübungen“ traditionelle Therapien wie Gestaltungstherapie, Musiktherapie, Arbeitstherapie, Bewegungstherapie, Gruppenpsychotherapie etc. ersetzt haben. Der Hype um die „Achtsamkeit“ hat dazu geführt, dass in manchen Psychotherapien bald nur noch von Achtsamkeit die Rede war und massenhaft Coaching-Ausbildung zum Achtsamkeits-Coach angeboten wurden.
Besonders Psychotherapie-Patienten, die Defizite in der körperlichen Eigenwahrnehmung haben oder sich vom hektischen Alltagsleben nur unzureichend abzugrenzen vermögen, sollten von den MBSR-Übungen profitieren können.

Insofern die MBSR-Übungen eine pädagogische körperbezogene Form der Selbsterfahrung darstellen, können sie in vielen Fällen mit einer psychotherapeutischen Behandlung kombiniert werden. Anwendungsgebiete einer solchen Kombination von MBSR und Psychotherapie sind vor allem Beschwerden im Bereich der Psychosomatik und Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Darüber hinaus kann auch die Behandlung von Ruhe- und Schlaflosigkeit, Ängsten und Burn-out-Syndrom von einer derartigen Kombination profitieren. MBSR kann oftmals zur prophylaktischen Reduzierung von Stress eingesetzt werden und wird in diesem Rahmen eine vorbeugende Wirkung entfalten können.

Kritisch muss gegenüber Achtsamkeitsübungen zweierlei eingewandt werden. Zum einen kann eine einzige Methode nicht gut bei allen Probleme helfen. Wenn dies aber suggeriert wird, ist das ein pseudo-religiöses Heilsversprechen, das im positiven Fall unschädlich ist, im problematischen Fall aber verdeckt, dass eine gezieltere Behandlung effektiver gewesen wäre. Gesellschaftspolitisch ist zu bedenken, dass die „Achtsamkeit“ im Grunde ein Synonym ist für „Innehalten“, „Entschleunigung“, Rückbesinnung auf „Subjektivität“. Dies sind alles Aspekte des Lebens, die konträr stehen zu allen Optimierungsbemühungen, die ansonsten darauf aus sind, im gesellschaftlichen Konkurrenzkampf noch mehr Leistung aus sich herauszuholen. Wenn das postmodernde Subjekt mit dem allgegenwärtigen Hyper-Coaching an seine Grenzen stößt, kann es natürlich auch noch durch „Achtsamkeit“ wieder versuchen, die fast verlorene Subjektivität kurz vorm psychosomatischen Zusammenbruch oder Burn-Out noch mal wieder zu stabilisieren. Dabei sollte deutlich man sich klarmachen, dass das Konzept der Achtsamkeit vor allem einem solipsistischen Ansatz folgt, in dem es nicht darum geht, Beziehungskonflikte besser zu verstehen oder Beziehungen besser zu gestalten. Im Grunde ist diese Methode nicht so weit entfernt von der alten HB-Werbung, aber jetzt umformuliert zu: „Bevor du auf die Palme gehst oder umkippst, mach lieber mal einen Achtsamkeitskurs.“

Zusammenfassung

Alle drei angesprochenen popularisierten Konzepte enthalten einen wahren Kern, der aber gerade durch die Popularisierung verloren zu gehen droht. Jede Methode verliert ihre Wirksamkeit, wenn sie zur Masche verkommt. Wenn man nicht mehr versteht, welche inneren Kräfte zum Ausgleich drängen und meint, dies mit verdinglichenden Konzepten „einfach“ erreichen zu können, wird man möglicherweise einen zentralen Aspekt des psychischen Erlebens verpassen. Es ist gerade die Utopie des psycho-dynamischen Verstehens, eine Alternative zu bieten zu immer neuen im Grunde pädagogischen Lernzielen, wie sie in Form von popularisierten Psychotherapie-Konzepten angeboten werden.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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