Zur Erinnerung an Georg Stefan Troller (1921-1925)

Einleitung

In disem Beitrag soll ein biographischer, historischer und kulturpsychologischer Blick auf Toller und seinen möglichen Bezug zu Freud, aus dessen gemeinsamer Heimatstadt er stammte, unternommen werden. Als Georg Stefan Troller im Oktober 2025 im Alter von 103 Jahren starb, endete ein Jahrhundertleben, das selbst wie ein Dokument der europäischen Zeitgeschichte anmutet. Troller, 1921 in Wien geboren, war nicht nur Zeuge, sondern sensibler Chronist des 20. Jahrhunderts – ein Mensch, der durch Flucht, Krieg, Fremde und Rückkehr ein tiefes Verständnis für die Verletzlichkeit des Menschseins gewann. Seine mehr als 170 Filmbeiträge, seine Interviews und Bücher verkörpern ein Menschenbild, das geprägt ist von Empathie, Skepsis und der unablässigen Suche nach dem, was hinter den soziialen Rollen sich verbirgt.
Dieses Menschenbild, das er im Medium des Fragens und Zuhörens gestaltete, trägt Spuren der großen seelischen Erschütterung seiner Zeit – und in nicht geringer Weise auch jene des psychoanalytischen Denkens, das aus derselben Wiener Kultur hervorgegangen war, die er hatte verlassen müssen.

Die Flucht aus Wien – Ursprung eines Lebens im Exil

Troller wuchs im Wien der Zwischenkriegszeit auf, in einer jüdischen Familie der intellektuellen Mittelschicht. Diese Welt, noch durchdrungen von Musik, Kaffeehaus und europäioschem Geist, stand unter einem fragilen Stern: das alte Habsburgerreich war zerfallen, der Antisemitismus nahm zu, und mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 verwandelte sich Trollers Heimat in eine Bedrohung.
Mit siebzehn Jahren wurde er Zeuge der Demütigungen und Gewalttaten gegen jüdische Mitbürger. Sein Vater, ein Pelzhändler, wurde von SA-Männern misshandelt; Verwandte und Freunde verschwanden. Georg Stefan Troller musste fliehen – erst nach Frankreich, dann über Umwege in die USA. Die Flucht bedeutete nicht nur den Verlust der Heimat, sondern auch den Verlust einer kulturellen Identität: jenes spezifischen Wiener Geistes, der sich aus Ironie, Melancholie und intellektueller Reflexivität speiste.
Dieser Bruch, dieser existentielle Riss, zieht sich durch sein ganzes Werk. Troller selbst nannte ihn einmal den „ursprünglichen Schmerz“, aus dem seine Neugier auf Menschen erwuchs.

Begegnungen als Heilung – Das Menschenbild des Emigranten

Nach seiner Rückkehr nach Europa in den 1950er Jahren – diesmal als US-Soldat und später als Journalist – begann Troller, die Geschichte Europas mit der Kamera zu dokumentieren. Doch seine Berichte waren nie bloß Dokumentationen. Sie waren Erkundungen des Inneren, Annäherungen an die Seele derer, die er befragte.
In seiner legendären Fernsehsendung Personenbeschreibung suchte er das Gespräch mit Berühmten und Vergessenen, mit Künstlern, Politikern, Außenseitern. Seine Fragen zielten selten auf Fakten; sie zielten auf das, was im Menschen verborgen liegt – auf Zweifel, Angst, Schuld, Sehnsucht. Troller verstand das Interview nicht als Informationsbeschaffung, sondern als existentielle Begegnung.

Er selbst formulierte das so: „Ich bin durch andere Menschen wieder Mensch geworden.“ Diese „Menschwerdung über andere“, wie er die therapeutische Funktion seines Berufs umschreib, war sein persönlicher Weg der Heilung. Der Verlust der Heimat hatte ihn entwurzelt; die Begegnung mit anderen Lebensgeschichten gab ihm einen neuen Ort im Menschlichen. Seine Kamera wurde zu einem Instrument, durch das er – und seine Zuschauer – das Rätsel des Daseins betrachteten.

Wiener Geist und die Anklänge an Freud

Es wäre verfehlt, Troller als Schüler Freuds zu bezeichnen. Doch es wäre ebenso verfehlt, ihn außerhalb jenes geistigen Klimas zu sehen, das Freud in Wien geschaffen hatte – einer Stadt, in der um 1900 die Seele quasi „wissenschaftlich“ neu entdeckt wurde: das Unbewusste, die Triebe, die Verdrängung, die Abwehrmechanismen des Ich.
Freuds Denken war Teil der Wiener Atmosphäre, die auch den jungen Troller prägte. Selbst wer keine Psychoanalyse las, atmete diese geistige Luft, in der Kunst, Philosophie und Psychologie ineinandergriffen.

So zeigen sich in Trollers Werk unübersehbare Parallelen zu freudianischen Themen:
Das Verborgene: Wie Freud glaubte auch Troller, dass der Mensch mehr ist als das, was er zeigt. Seine Interviews sind Versuche, hinter die Oberfläche zu schauen – dorthin, wo im Unbewussten Angst und Sehnsucht beheimatet sind.
Das Trauma: Die Erfahrung von Flucht und Krieg machte Troller zum Zeugen des Traumas – nicht nur des eigenen, sondern des kollektiven. Er verstand, dass Geschichte nicht vergeht, sondern in den Menschen weiterlebt.
Das Gespräch als Heilung: Freud setzte auf das Wort, auf das Sprechen als Befreiung des Verdrängten. Auch Troller glaubte an die heilende Kraft des Gesprächs. In seiner Arbeit liegt etwas Therapeutisches: Zuhören, Nachfragen, Verstehen-Wollen.
Ambivalenz des Menschseins: Wie Freud sah auch Troller den Menschen als widersprüchliches Wesen – fähig zu Güte und Grausamkeit, Liebe und Hass. Seine Porträts verweigern einfache Urteile; sie zeigen den Menschen in seiner ganzen Fragilität und Konflikthaftigkeit.

Zwischen Distanz und Mitgefühl

Doch Trollers Blick blieb ein journalistischer, kein analytischer. Er beobachtete, deutete aber nicht. Seine Kunst lag im Fragen, nicht im Erklären. Während Freud das Innere mit den Werkzeugen der Wissenschaft zu sezieren bemüht war, tastete Troller es mit Empathie ab. Er suchte Nähe, ohne sie zu erzwingen; er zeigte Verletzungen, ohne sie zu pathologisieren.

Gerade in dieser Haltung offenbart sich die tiefere Humanität seines Werkes: ein Menschenbild, das aus der Erfahrung des Exils, der Entwurzelung, der Fremdheit heraus entstanden ist – und das dennoch an die Möglichkeit der Verständigung glaubt.
Troller war überzeugt, dass jeder Mensch eine Geschichte trägt, die erzählt werden will und gehört werden sollte. Diese Haltung, die vom Vertrauen in das Wort und in das Zuhören lebt, ist das vielleicht schönste Erbe der psychoanalytischen Kultur Wiens – und Troller war ihr stiller und tätiger Bewahrer.

Zusammenfassung

Georg Stefan Troller blieb bis ins hohe Alter ein Fragender. Er hat nie aufgehört, das Rätsel des Menschen zu erkunden – nicht, um es zu lösen, sondern um es zu ehren. Seine Filme und Bücher sind Denkmäler des Zuhörens.
Vielleicht war das, was Freud in die Theorie fasste, bei Troller zur gelebten Haltung geworden: der Glaube, dass Wahrheit im Sprechen entsteht, dass jedes Leben von unbewussten Kräften bewegt wird, dass das Erzählen selbst Heilung sein kann.

In dieser Verbindung von Erinnerung und Empathie, von Intellekt und Mitgefühl, bleibt Troller ein Kind jener Wiener Kultur, die ihm die Welt geraubt und zugleich ihre geistigen Werkzeuge geschenkt hatte.
Er floh aus Wien, aber dieses Wien – mit Freud, mit seiner Musik, mit verständnisvoller Ironie und Melancholie – blieb in ihm bewahrt bis an sein Lebens Ende.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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