Zum Geschlechterverhältnis im Schachspiel

Einleitung

Im modernen Schachspiel trägt die Dame (Königin) die größte operative Macht, während der König formal die wichtigste, praktisch aber die unbeweglichste Figur ist. Diese Kombination – höchste Entscheidungsrelevanz bei minimaler Beweglichkeit – lädt zu Deutungen ein: Ist das ein Gleichnis für Familien- oder Geschlechterordnungen, in denen „der Mann“ den Titel („Oberhaupt“) trägt, die Handlungsmacht aber bei seiner Frau „der Dame“ liegt? Als Metapher funktioniert das erstaunlich gut. Aber: Metaphern sind keine analytischen Begriffe. Um den gedanklichen Zusammenhang zu klären, lohnt der Blick in die Entstehungsgeschichte dieser Asymmetrie und die Interpretationsgeschichte dieser Geschlechtermetaphorik.

Der historische Hintergrund der Dame im Schachspiel

Die Machtfülle der Königin ist keine „Naturkonstante“ des Schachs, sondern eine späte europäische Erfindung. In indischen und persischen Vorformen des Schachspiels war an der Seite des Königs ein schwacher Berater (ferz/vizier). Erst im späten 15. Jahrhundert in Europa entstand die „rasende“ oder „toll gewordene“ Dame (scacchi alla rabiosa / ajedrez de la dama rabiosa), die beliebig weit ziehen durfte. Das ist gut belegt in Nachschlagewerken und der Fachliteratur. (Reddit, History News Network)

Zeitgenössische Texte zeigen, wie sehr die neue Superfigur „Königin“ irritierte – und misogyn kommentiert wurde. Ein oft zitiertes mittelalterliches Bonmot lautet noch: „[Ihre] Bewegung ist nur schräg, weil Frauen so gierig sind, dass sie nichts nehmen außer durch Raub und Unrecht.“ Das Zitat verweist auf die moralisch-didaktische Lesart des Spiels im Spätmittelalter – und auf den damals üblichen, herablassenden Ton über Frauen. Erst als die Dame zu Beginn der Neuzeit in alle Richtungen ziehen durfte, wurde sie die stärkste Figur auf dem Schachbrett.

Parallel dazu inszeniert das berühmte valencianische Gedicht Scachs d’amor (späte 1400er) Schach als Liebes- und Machtspiel zwischen Mars und Venus – ein reizvolles Indiz, dass Geschlechtersemantik schon früh im Regel- und Bilderfeld des Schachs gesehen wurde. (Reddit)

Noch früher wurde Schachspiel als Sozialallegorie gelesen: Jacobus de Cessolis’ Liber de moribus hominum… super ludo scaccorum (13./14. Jh.) deutet Figuren als Stände, Pflichten und Tugenden – kein „Familienkampf“, aber ein Modell von Ordnung und Rollen, das in ganz Europa verbreitet war (u. a. in Caxtons englischer Übersetzung The Game and Playe of the Chesse). (Project Gutenberg, Internet Archive)

Die mächtige Dame im Schachspiel ist insofern ein neuzeitliches, europäisches Produkt – vermutlich begünstigt durch reale Königinnenfiguren und Hofkulturen. Der „matriarchale“ Anschein liegt also in der Bildsprache einer Epoche, nicht im Wesen des Spiels. (History News Network)

Das königliche Paar als Form einer asymmetrischen Symbiose

Statt das Brett als Schlachtfeld zweier Heere zu sehen, können wir es als Bühne zweier „Häuser“ oder „Familien“ lesen, in denen je ein königliches Paar versucht, sich vor dem Untergang zu retten. Diese Lesart knüpft an traditionelle Hofikonografie und an psychologische Symbolik an: Der König ist der fragile, aber unverzichtbare Träger der Ordnung; die Königin ist die bewegliche, vermittelnde und exekutive Macht, die die Ordnung auf dem Feld und in der Auseinandersetzung mit der gegnerischen Dame realisiert . In dieser Perspektive kämpfen „die Damen“ – die beiden Königinnen – tatsächlich am sichtbarsten „gegeneinander“, während die Könige als nahezu unbewgliches im Hause eingeschlossenes Sinnzentrum und letzte Grenze desssen, was der Besitz der Frau ist, fungieren.

Historisch gestützt wird diese Paarmetaphorik (König/Königin) durch die moralischen Schachallegorien der Vormoderne (Cessolis) und die poetische Geschlechteraufladung (Mars/Venus). Aber sie bleibt nur eine Deutung des Schachspiels. Sie ist nicht die letztgültige oder einzige Wahrheit dieses Spiels. (Project Gutenberg, Reddit)

Mark Twain über das Geschlechterverhältnis

Als Ergängzung zu den bisherigen Gedanken zur Geschlchtermetaphorik im Schachpiel möchte ich ich auf Gedanken von MarkTwain (1835-1910) zum Geschlechterverhältnis eingehen, so wie er es zu seiner Zeit beobachtet hat. Denn Twain, oft scharfzüngig in seinen Bemerkungen, schrieb sinngemäß: Die Frau betrachtet den Mann als ihr Eigentum. Was sie vom Mann will, ist, ihn zu haben, ihn zu beherrschen, über ihn zu verfügen. In diesem Beherrschungswillen konkurriert sie mit anderen Frauen.

Das ist eine provokante Umkehrung des patriarchalen Narrativs, dass sich in der Regel auf die öffentliche Bühne bezieht und nicht auf das, was sich zuhause abspielt: In den eigenen vier Wänden ist es nicht der Mann, der herrscht, sondern die Frau. Sie sieht den Mann als ihren „Besitz“, dessen Wert und Funktion sich aus ihrer Verfügungsmacht ergibt. Das entscheidende Moment ist der Wettbewerb zwischen Frauen um Herrschaft über den Mann.

Anwendung von Twains Gedanken auf das Schachspiel

Wenn wir das Schachspiel nicht als Krieg zweier Armeen, sondern als Konflikt zweier Familien oder gar zweier Ehepaare oder Haushalte lesen, entsteht folgendes Bild: Der König ist die „Trophäe“, das Objekt, das beschützt und zugleich kontrolliert wird. Sein Fall bedeutet das Ende des Spiels – er ist also von äußerster Bedeutung, zugleich aber passiv und fast unbeweglich. Die Dame ist diejenige, die aktiv eingreift, Bewegungen vollzieht, Räume kontrolliert. Sie ist die handelnde Instanz, die über das Schicksal „ihres“ Königs wacht. Zwischen den beiden Damen auf dem Brett entsteht ein verdeckter Wettstreit: Wer kann ihre Macht stärker entfalten, wer den gegnerischen König zuerst isolieren, wer die Ordnung der gegnerischen Familie brechen? Damit wiederholt das Schachspiel in metaphirischer Form genau Twains Beobachtung: Frauen konkurrieren nicht in erster Linie um abstrakte Macht, sondern um die Verfügung über den Mann – hier den König.

Konsequenz für männliche Identitätfindung im Rahmen bürgerlicher Familienstrukturen

Nimmt man Twain ernst, dann kann männliche Identität – auch in ihrer Reifung – gefährdet sein, wenn sie sich ausschließlich als „Besitz einer Frau“ erlebt: Der Mann ist dann nicht Subjekt eigner Handldungsfähigkeit, sondern Objekt weiblicher Verfügung.
Die Regeln des neuzeitlichen Schachspiels reflektieren die Regeln bürgerlichen Familiendynamik: Der König ist fast machtlos, aber er darf nicht geopfert werden. Er ist der „Besitz“, den die Dame verteidigt und für den sie kämpft – nicht aus seiner eigenen Stärke heraus, sondern weil ihr Wert und Sieg davon abhängen, ihn in der Hand zu behalten. Damit zeigt das Schachspiel die Ambivalenz männlicher Identität im Bann weiblicher Macht: Formal höchste Bedeutung, faktisch Abhängigkeit und Passivität.

Zur Emanzipation des Mannes: Selbstfürsorge und Selbststeuerung als Grundvoraussetzungen einer reifen männlichen Identität

Als Konsequenz bleibt dem Mann noch der männliche Protest, der Kampf um die persönliche Freiheit und subjektive Handlungsmächtigkeit. Inwiefern ihm das möglich ist, diesen Protest zu verwirklichen, ist abhängig von der Bewältigung seiner Angst vor der Freiheit. ohne den häuslichen Rahmen einer dort herrschenden Frau zu verwahrlosen. Ohne ausreichende Selbststeuerung und Selbstfürsorge bleibt der Mann abhängig von einer ihn steuernden Frau, die ihn in der Regel auf Schritt und Tritt zu übewachen versucht.

Mögliche Veränderung durch neue Beziehungsformen und Genderfluidität

Inwiefern Grundstrukturen bürgerlicher Familiendynamik in der heutigen Zeit noch wirksam sind, wird man vermutlich erst im historischen Rückblick genauer beurteilen können. Im Zeitalter von Genderfluidität könnte es aber durchaus sein, das Grundbestandteile bürgerlicher Familiendynamiken infrage gestellt werden. Damit wäre das Schachspiel mit dem ihm inhärenten Geschlechterverhältnis möglicherweise eine mitlerweilse unzeitgemäße Metapher .

Zusammenfassung

Mark Twains These, dass die Frau den Mann als ihren Besitz sieht und mit anderen Frauen um dessen Herrschaft konkurriert, lässt sich im Schachspiel plastisch nachvollziehen: Die Damen kämpfen gegeneinander um die Verfügung über den König – ihr Ziel ist es, den gegnerischen Mann (König) zu Fall zu bringen. Das Spiel wird so zum Gleichnis einer Geschlechterordnung, in der männliche Identität bedroht ist, weil sie nicht als autonome Kraft, sondern als Objekt weiblicher Verfügung erscheint.

Anhang: Quellen

  • Historie der Dame / „Mad Queen“: Britannica-Eintrag zur Dame; Rebecca Mead (New Yorker) zu Marilyn Yaloms Birth of the Chess Queen. (Reddit, History News Network)
  • Mittelalterliche Allegorien: Caxtons Game and Playe of the Chesse (nach Cessolis). (Project Gutenberg, Internet Archive)
  • Scachs d’amor (Mars/Venus): Überblick zur valencianischen Dichtung. (Reddit)

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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