Einleitung
Sigmund Freuds Theorie des Triebantagonismus von Eros und Thanatos ist eine der zentralen Säulen seiner psychoanalytischen Lehre und beleuchtet zusammen in ihrem jeweiligen Spanungsverhältnis zu den Instanzen des Ich und des Überich die unbewussten Konflikte, die das menschliche Dasein prägen sollen. Diese Theorie lässt sich in vielerlei Hinsicht auf philosophische und mythologische Konzepte zurückführen, wie die des antiken griechischen Denkers Empedokles, dessen Dualismus von Liebe (Philotes) und Streit (Neikos) als Vorläufer von Freuds Ideen angesehen werden kann. Beide Denker beschäftigen sich mit den fundamentalen Kräften, die das Leben formen, erhalten und zerstören. Im Folgenden soll Freuds Triebtheorie im Licht von Empedokles‘ kosmologischen Vorstellungen betrachtet werden.
Freuds Triebantagonismus: Eros und Thanatos
Freud führte die Begriffe Eros und Thanatos ein, um zwei grundlegende Triebe zu beschreiben, die das menschliche Verhalten bestimmen sollen. Eros ( Ἔρως) ist in der griechischen Mythologie der Gott der begehrlichen Liebe. Ihm entspricht in der römischen Mythologie Amor, der als Personifikation der erotischen Begierde auch Cupido („Begierde“, „Leidenschaft“) genannt wird.
Thanatos (.Θάνατος ) ist der Gott des sanften Todes und wird darum häufig zusammen mit seinem Bruder Hypnos (Ὕπνος ), dem Gott des Schlafes, abgebildet. Seine Schwester ist Ker (Κήρ), die Göttin des gewaltsamen Todes.
Eros repräsentiert bei Freud den Lebenstrieb, der sich auf Selbsterhaltung, Fortpflanzung und die Schaffung von emotionalen Beziehungen auswirkt. Eros steht somit für die Kräfte der Liebe, der Kreativität und des Zusammenhalts. Im Gegensatz dazu steht Thanatos, der Todestrieb Freuds für den Trieb, der auf Aggression, Auflösung, Zerstörung und die Rückkehr zu einem letztlich leblosen Zustand abzielt. Dieser Trieb manifestiert sich nach Freud in Aggressionen, destruktiven Tendenzen und letztlich dem Wunsch zu sterben.
Freud beschrieb, dass diese beiden Triebe in einem ständigen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Der Mensch wird von diesen gegensätzlichen Kräften geformt, die sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft beeinflussen. Während Eros nach der Integration von Leben und Beziehungen strebt, zieht Thanatos in Richtung Zerstörung und Rückkehr in den anorganischen Zustand. Diese dualistischen Kräfte spiegeln sich in nahezu allen Aspekten des menschlichen Lebens wider – von der inneren Psyche des Einzelnen bis hin zu den kollektiven Ausdrucksformen von Kultur und Zivilisation.
Empedokles: Der Antagonismus von Liebe und Hass
Empedokles (495-435 v.Chr.) aus Agrigent (Akragas) war ein griechischer Naturphilosoph. Er führte die Lehre von den vier Urstoffen (bzw. „Elementen“) Luft, Feuer, Erde und Wasser ein. Diese Vier-Elementen-Lehre wurde für das naturwissenschaftliche Weltbild der Antike bestimmend und beeinflusste bis ins 19. Jahrhundert auch die Medizin. Er entwickelte eine kosmologische Theorie, die bemerkenswerte Parallelen zu Freuds Triebtheorie aufweist. Nach Empedokles wird die Welt in ihrer Entstehung von zwei gegensätzlichen Prinzipien bestimmt: von der Liebe (Φιλότης, Philotes) und dem Hass oder dem Streit (Νεῖκος, Neikos).
Philotes wird als göttliche Personifikation der freundschaftlichen Liebe Philia (φιλία ) aufgefasst. Sie ist die vereinigende Kraft, die die Elemente zusammenführt und das Leben hervorbringt. In Hesiods Theogonie sind die Neikea (Νείκεα) Töchter der Eris (Ἔρις ), der Göttin der Zwietracht und des Streits. Der Singular von Neikea ist Neikos (Νεῖκος Neíkos, deutsch ‚Hass, Streit, Tadel‘) und steht in der griechischen Mythologie für eine göttliche Personifikationen des Hasses bzw. des Streits. Der „Streit“ oder der „Hass“ personifizieren damit die trennende Kraft, die alles wieder auseinandertreibt und für Zerstörung sorgt.
In Empedokles‘ Kosmologie sind diese beiden Kräfte verantwortlich für den Zyklus von Entstehen und Vergehen, der das Universum prägt. Die freundschaftliche Liebe bringt Harmonie, Einheit und Leben hervor, während Hass und Streit Disharmonie, Spaltung und letztlich Tod bewirken. Diese beiden Prinzipien wechseln sich ab und sorgen für den ewigen Kreislauf von Schöpfung und Zerstörung.
Vergleich der Konzepte von Freud und Empedokles
Die Parallelen zwischen Freuds Eros und Thanatos einerseits und Empedokles‘ Liebe und Hass andererseits sind offensichtlich. Beide Theoretiker verwenden Dualismen, um die grundlegenden Prozesse zu erklären, die das Leben bestimmen. In Freuds Psychoanalyse sind es die biopsychosozialen Triebe, die das Verhalten des Individuums maßgeblich beeinflussen, während Empedokles‘ göttliche Prinzipien auf kosmischer Ebene wirken sieht, die aber selbstverständlich ursprünglich aus dem Erleben der Individuen abgeleitet sind. Dennoch lassen sich strukturelle Ähnlichkeiten erkennen: Sowohl bei Freud als auch bei Empedokles gibt es eine kreative, lebensspendende Kraft, die in Opposition zu einer zerstörerischen Kraft steht. Während bei Freud der Eros mehr dem erotischen Begehren entspricht, ist die Philotes des Empedokles eine Allegorie der freundschaftlichen Liebe ohne sexuelles Begehren. Während das negative Prinzip bei Empedokles dem Neíkos, Hass entspricht, so ist bei Freud der Thanatos eher ein Sinnbild für den sanften Tod, den er aber letztlich als Ausdruck des Aggressionstriebes in allgemeinster Form versteht.
Freud könnte als moderner Empedokles betrachtet werden, der die antiken Ideen auf die menschliche Psyche überträgt. Während Empedokles eine metaphysische und kosmologische Perspektive einnimmt, analysiert Freud mithilfe der Triebe und dem gegen sie wirkenden Überich die inneren Konflikte des Menschen. Beide beschreiben jedoch jeweils auf ihre Weise Welten, die durch den Kampf gegensätzlicher Kräfte von Liebe und Hass geprägt sind.
Zusammenfassung
Freuds Theorie des Triebantagonismus von Eros und Thanatos und Empedokles‘ Konzept des Dualismus von Liebe und Hass offenbaren eine zeitübergreifende Einsicht in die Natur des Lebens und der menschlichen Existenz. Beide Ansätze illustrieren, dass das Leben von fundamentalen Gegensätzen bestimmt wird, die sowohl auf der kosmischen (nach Empedokles) als auch auf der psychischen Ebene (nach Freud) wirksam sind. Freud und Empedokles, obwohl durch Jahrtausende getrennt, bieten eine inspirierende Perspektive auf das Zusammenspiel von Schöpfung und Zerstörung, das das Wesen des Lebens ausmacht. Ihre Ideen ermöglichen uns, die Konflikte und Spannungen in uns selbst und im Universum die Kräfte von Werden und Vergehen besser zu verstehen und zu beobachten. Selbstverständlich sind moderne naturwissenschaftliche Theorien über die Auffassungen von Empedokles weit hinausgegangen. Man muss jedoch bedenken, dass die griechischen Naturphilosophen nur die ihnen bekannten Mythen als Ausgangspunkt nehmen konnten und darüber hinaus nur ihre Alltagsbeobachtung der menschlichen praktischen Handlungen und Empfindungen zur Verfügung hatten, um ihre kosmologischen Spekulationen zu formulieren.
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