In seiner kurzen Erzählung „Schakale und Araber“ (1917 ) wandelt der Autor Franz Kafka sehr ironisch motivisch auf den Spuren teils des Jugendbuchschriftstellers Karl May wie auch auf denen der Brüder Grimm in Gestalt des Märchens „Rotkäppchen“.
Ein Reisender aus dem Norden befindet sich in der arabischen Wüste. Gerade will er zur Nacht schon liegend, dann wieder sitzend, ein Feuer anzünden, um damit wilde Tiere fernhalten zu können, da drängt sich ein Schakal von hinten an ihn heran, presst sich unter seinem Arm hindurch, um sich dann vor ihn zu setzen und ihn anzusprechen.
„Ein Gewimmel von Schakalen um mich her; in mattem Gold erglänzende, verlöschende Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetzmäßig und flink bewegt.
Einer kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem Arm durch, eng an mich, als brauche er meine Wärme, trat dann vor mich und sprach, fast Aug in Aug mit mir:“
Seine verblüffende Rede: Er und mit ihm alle Schakale warteten angeblich seit vielen Generationen auf ihn als ihren Erretter, der sie von den ihnen verhassten angeblich schmutzigen Einheimischen befreit. Auf den Hinweis des Reisenden, mit seiner Rede vorsichtig zu sein, um sich nicht in Gefahr zu begeben, die schlafenden Beduinen auf diese Mordpläne aufmerksam zu machen, wird entgegnet, dies sei vollkommen unnötig, denn noch niemals hätten die Araber die Schakale gefürchtet. Auf die Frage des Reisenden aus dem Norden, er verstehe nicht, wie er ihnen – den Schakalen – helfen könnte, sich der Araber zu entledigen, wird entgegnet, es sei für die Schakale unmöglich, die Araber selbst zu töten, weil das ganze Wasser des Nils nicht ausreichen würde, sich sprichwörtlich von dieser Blutschuld wieder reinzuwaschen.
Statt dessen wird dem Reisenden der Vorschlag unterbretet, er solle mit einer Tatwaffe, die als kleine verrostete Nagelschere an einem Eckzahn eines Schakals seit Generationen zu diesem Zweck mitgeführt wird, den Einheimischen die Hälse durchschneiden und die Schakale auf diese Art von ihren Peinigern befreien.
An dieser Schilderung sind einige Aspekte auffällig: Die Notwendigkeit eines Auftragsmords, um nicht selbst von Schuldgefühlen belastet zu werden. Die Schakale werden offenbar von einer Art heiliger Scheu davor zurück gehalten, den Mord selbst auszuführen. Wer jetzt an die Befreiung der versklavten Jungen aus der pharanonischen Knechtschaft denkt, wird leicht in die Irre geführt. Denn die mörderische Auflehnung gegen die Unterdrücker damals besorgte zwar entweder Gott selbst oder ein von ihm beauftragter Engel. Beim biblischen Exodus war das Motiv der Delegation von Gewalt aber nicht die Vermeidung von Schuldgefühlen. Vielmehr wären die versklavten Juden viel zu schwach gewesen, um sich gegen eine hochgerüstete Streitmacht der Antike zu wehren. Der andere merkwürdige Aspekt ist die seltsame Tatwaffe. Eine kleine verrostete Nagelschere würde vielleicht noch nicht einmal dazu taugen, um ein einzelnes Barthaar eines Arabers zu stutzen aber bestimmt nicht ausreichen, um damit Hälse durchzuschneiden. Es ist so, als wolle man mit einer Spielzeugkanone die napoleonischen Heere vernichten.
In der Interpretation dieser Erzählung ist man vielfach einer m.E. naheliegenden, aber irreführenden Fährte aufgesessen, indem man der Tradition folgend, die Schakale als Stellvertreter für das Volk der Juden aufgefasst hat, die auf ihren Messias warten, der sie von den Babyloniern, Römern oder Arabern erlösen soll.
Mich überzeugt dieser Deutungsansatz wenig. Vielmehr erinnert das Ansinnen der Schakale eher an die Szene des Thrillers „Ein fremder im Zug“ (1951) in dem einem Mitreisenden überraschend der Vorschlag eines Auftragsmords zur Entledigung eines verhassten Vaters unterbreitet wird. In dem Thriller geht es allerdings nicht um die Vermeidung von Schuldgefühlen, sondern darum jeden Verdacht vom Auftraggeber durch die Konstruktion eines felsenfesten Alibis fernzuhalten.
Die Kontaktaufnahme der beiden Fremden im Zug ist von übergroßer Vertraulichkeit begleitet, beinahe möchte man an eine fast homoerotisch getönte Intimität zwischen den Protagonisten denken. Ähnlich verläuft die Annäherung des Wortführers der Schakale in seiner Körpersprache getragen von einer nähesuchenden Vertraulichkeit, wie ein Kind dem Vater von hinten unter der Achsel durchschlüpft, um ihm dann auf den Schoß zu krabbeln.
Der in dieser Erzählung anklingende Vater-Sohn-Konflikt könnte aus der Perspektive des Sohnes auf die Formel gebracht werden: „Wenn ich nicht beim Vater wie in Abrahams Schoß sitzen darf und er mich zärtlich beschützt und mich neben sich als seinen über alles geliebten Sohn nicht nur dulden mag, sondern geradezu ersehnt, dann möchte ich gar nicht, dass er überhaupt existiert. Dann soll er tot sein. Dann möchte ich mich seiner entledigt wissen.“
Dem Modell von Melanie Klein folgend, die beim Kind eine frühe Spaltung in das Bild einer guten Mutter und das Bild einer bösen Mutter vermutet hat, so könnte man hier von einer ähnlichen Spaltung in Bezug auf zwei Bilder vom Vater schließen. Der Reisende aus dem Norden repräsentiert den guten Vater, zu dem körperliche Nähe und eine sehr vertrauliche Beziehung gesucht wird und der mit allen Qualitäten eines erhofften Retters ausgestattet wird, während der dann in der Erzählung dann noch auftauchende Araber das Bild des bösen Vaters repräsentieren könnte.
Interessant in diesem Zusammenhang ist die ambivalente Schilderung der Söhne in Gestalt der Schakale. Zum einen werden ihre Augen und ihre Leiber mit unverhältnismäßig starker erotischer Aufladung geschildert, sodass man fast suggestiv an das erotische Fell diesere Tiere denken mag, was für Kafka extrem ungewöhnlich ist, weil ansonsten positive Beschreibungen von Erotik in seinem Werk so gut wie nicht vorkommen. Zum anderen werden die Schakale selbst als sehr schmutzig-triebhaft, blutrünstig und gierig beschrieben.
Der in der Erzählung schließlich auftauchende Araber bringt für die Schakale, die er freundlich als seine Hunde bezeichnet, ein frisch verendetes Kamel mit, über das sie sogleich wie im Blutrausch herfallen. Um sich einen Spaß zu erlauben, verjagt der Beduine die auf dem Kadaver kauernd fressenden Schakale mehrfach mit seiner Peitsche, wobei es ihm schon auch darum geht die gierigen Tiere an ihren empfindlichsten Stellen, ihren gierigen Schnauzen, mit der Peitsche zu treffen. Es wird sehr unverblümt ein sadomasochistisches Ritual zwischen dem symbolisch nährenden Vater und seinen gierig fressenden Kindern/Söhnen entfaltet. Während der Vater seine Überlegenheit genießt, entlarven sich die Söhne als triebhaft schmutzige Gesellen, die zuvor ihre eigenen negativen Eigenschaften auf den symbolischen Vater projiziert hatten um damit seine Beseitigung zu begründen.
Im Gegensatz zu anderen Autoren wie z.B. Freud wird das Motiv für den Vatermord bei Kafka nicht als Kampf um etwas Drittes, z.B. die Mutter, abgeleitet. In Kafkas Erzählung geht es mehr um die Frage, wer ist hier eigentlich der schmutzige, eklige, triebhafte: ist es der symbolische Vater oder sind es die die symbolischen Söhne? Aber diese Frage ist nur ein Aspekt des Konflikts. Vor allem aber scheint das Motiv für den Vatermord als enttäuschte Liebe: Der Sohn möchte eigentlich beim Vater wie in Abrahams Schoß sitzen und nicht nur geduldet sein. Hierin besteht ja auch gerade die Tragik des Landvermessers in Kafkas Roman „Das Schloss“, dass er im Dorf, das zum Schloss gehört, nur geduldet ist, und alle Versuche, ins Schloß selbst zu gelangen, zum Scheitern verurteilt sind, schon allein deshalb weil die vom Dorf zum Schloss führende Straße nicht wirklich zum Schloss führt, sondern nur um das Schloss herum, so wie die Schakale in heiliger Scheu im Kreis Abstand halten von dem sie nährenden und sie gleichzeitig mit der Peitsche auf Distanz haltenden Araber.
Dieser sagt zum Schluss der Erzählung: „Eine unsinnige Hoffnung haben diese Tiere; Narren, wahre Narren sind sie. Wir lieben sie deshalb; es sind unsere Hunde; schöner als die eurigen. Wunderbare Tiere, nicht wahr? Und wie sie uns hassen!“
Kafkas Erzählung „Schakale und Araber“ ist aus meiner Sicht eine Allegorie zum Thema Hassliebe und sado-masochistische Beziehung zwischen Vätern und Söhnen und knüpft damit thematisch auch an Iwan Turgenew gleichnamigen Roman von 1862 an.
Nach einer vernichtenden, verachtungsvollen Kritik an der Vätergeneration durch den Wortführer der Generation der Söhne, Basarow, unterhalten sich die beiden Brüder Pavel und Nikolai als Vertreter der Alten: »Weißt du, lieber Bruder, an was mich das erinnert hat? Ich hatte mich einmal mit unserer seligen Mutter überworfen; sie schrie und wollte mich gar nicht zu Worte kommen lassen … Endlich sagte ich zu ihr: ›Sie können mich nicht verstehen, denn wir gehören zwei verschiedenen Generationen an.‹ Sie fühlte sich entsetzlich verletzt, aber ich dachte: was ist da zu machen? Die Pille ist bitter, aber sie muß geschluckt werden. Jetzt ist die Reihe an uns gekommen, und unsere Erben können zu uns sagen: ›Ihr gehört nicht zu unserer Generation, schluckt die Pille.‹«
Die Pille beinhaltet die zynische Aussage: „Ihr Alten passt nicht mehr in unsere Zeit der Söhne. Ihr könnt abtreten, wir brauchen euch nicht mehr, ihr seid überflüssig. Sterbt einfach und wir haben ein Problem weniger.“ Das Leben ist aber viel wechselvoller als gedacht. Turgenew läßt seine Roman-Figur Basarow früh sterben. Er überlebt seine Eltern nicht. Vielmehr müssen diese noch viele Jahre an dem Grab ihres Sohnes trauern. Dies beinhaltet aber auch eine Metapher für eine Versöhnung der Generationen. Deshalb sei der Schluß von Turgenews Roman hier ausführlich zitiert:
„Zu diesem Grab (Basarows) kommen häufig aus einem nahegelegenen Dörfchen ein Greis und eine Greisin herüber, beide bereits hinfällig – Mann und Frau. Sich gegenseitig stützend, kommen sie mit schwer gewordenen Schritten daher, … , sinken auf die Knie nieder, weinen lange und bitter und betrachten lange und aufmerksam den stummen Stein, unter dem ihr Sohn ruht; sie wechseln ein paar kurze Worte, sie wischen den Staub vom Stein, biegen einen Tannenzweig zurecht und beten von neuem und können sich von diesem Ort nicht trennen, wo sie ihrem Sohne, seinem Andenken näher zu sein wähnen … Sind denn ihre Gebete, ihre Tränen fruchtlos? Ist denn die Liebe, die heilige, hingebende Liebe nicht allmächtig? O nein! Wie leidenschaftlich, sündhaft und rebellisch das Herz auch war, das vom Grab umschlossen ist – die Blumen, die auf ihm wachsen, schauen uns mit ihren unschuldigen Augen friedlich an: sie sprechen zu uns nicht allein von der ewigen Ruhe, von der großen Ruhe der »gleichgültigen« Natur; sie sprechen auch von der ewigen Versöhnung und dem endlosen Leben …“
Anmerkungen:
„Der Fremde im Zug“ (Originaltitel: Strangers on a Train) ist ein US-amerikanischer Film-Noir mit Thriller-Elementen von Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1951. Er basiert auf Patricia Highsmiths erstem, gleichnamigen Roman (deutscher Titel: „Zwei Fremde im Zug“ 1950).
Die Redewendung „in Abrahams Schoß“ hat ihren Ursprung in der Bibel und wird im Neuen Testament erwähnt. Sie stammt aus dem Lukasevangelium (Lukas 16,19-31), in dem das Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus erzählt wird.
In dieser Geschichte stirbt Lazarus und wird von Engeln in „Abrahams Schoß“ getragen. Diese Redewendung beschreibt einen Ort der Ruhe und des Trostes nach dem Tod, eine Art himmlischen Aufenthaltsort für die Gerechten. Abraham, der Stammvater Israels, symbolisiert in dieser Erzählung die Gemeinschaft mit Gott und die Segnungen des ewigen Lebens. „Abrahams Schoß“ wird somit zum Ausdruck für den Zustand des Friedens und der Geborgenheit im Jenseits, im Gegensatz zur Qual des reichen Mannes, der in der Unterwelt leidet.
Die Redewendung ist in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen und wird oft verwendet, um einen Zustand des vollkommenen Friedens, der Ruhe und des Wohlbefindens zu beschreiben, besonders nach dem Tod.
Der Begriff „Abrahams Schoß“ kommt nicht direkt im Alten Testament vor. Im Alten Testament wird Abraham jedoch als bedeutende Figur und Stammvater Israels erwähnt. Er spielt eine zentrale Rolle in den Erzählungen der Genesis, wo Gott ihm und seinen Nachkommen viele Verheißungen gibt.
Der Begriff „Abrahams Schoß“ im Neuen Testament spiegelt wahrscheinlich eine spätere jüdische Vorstellung wider, die sich entwickelt hat und in der Literatur und Traditionen der Zeit Jesu verbreitet war. Diese Vorstellung diente dazu, die Gemeinschaft der Gerechten nach dem Tod zu beschreiben, wobei Abraham als zentrale Vater-Figur dieser Gemeinschaft angesehen wurde.
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