Der Übergang vom „haben wollen“ zum „loslassen wollen“ kann als ein lebenslanger Reifeprozess und ein Weg zur Selbstverwirklichung betrachtet werden. Dieser Prozess ist oft geprägt von persönlichem Wachstum, zunehmendem Verständnis aller Zusammenhänge und Abhängigkeiten und einer veränderten Wahrnehmung der eigenen Existenz und der Welt in der wir leben.
Haben wollen: Die erste Phase des Lebens
In der ersten Phase unseres Lebens sind wir oft stark auf das „Haben wollen“ fokussiert. Dies kann verschiedene Formen annehmen, wie das Streben nach materiellen Gütern, sozialer Anerkennung, Erfolg und Macht. Diese Wünsche und Bestrebungen sind in der Regel durch externe Einflüsse, gesellschaftliche Normen und persönliche Ambitionen geprägt. Das „Haben wollen“ ist ein natürlicher Teil der menschlichen Entwicklung und oft notwendig, um bestimmte Fähigkeiten zu erlangen und Erfahrungen zu sammeln.
Jugend und frühes Erwachsenenalter: Diese Phase ist geprägt von einem starken Drang, sich selbst zu beweisen, Ziele zu erreichen und sich in der Welt zu behaupten. Es geht um den Aufbau einer Identität, die sich oft über soziale Beziehungen, Familie, Kinder und beruflichen Erfolg definiert.
Späteres Erwachsenenalter: Durch die Befriedigung unserer Wünsche und Ziele durchleben wir wichtige Lebenserfahrungen, die notwendig waren, die aber mit zunehmendem Alter als etwas Transitorisches erlebt werden und nur eine trügerische Dauer versprechen. Durch das allmähliche „Loslassen wollen“ machen wir neue Erfahrungen, die unsere Persönlichkeit in geistiger Hinsicht formen und unsere Sichtweise auf das Leben erweitern.
Der Übergang: Reflexion und Einsicht
Durch Erfahrungen mit dem „Loslassen wollen“, beginnen wir, unsere Prioritäten und Werte zu hinterfragen. Dies kann durch bedeutende Ereignisse wie Verlusterfahrungen, Krisen oder einfach durch das Älterwerden und die damit verbundene Notwendigkeit, sich vom Leben zu verabschieden, verstärkt werden.
Innehalten: Wir beginnen, über die wahre Bedeutung und die Quintessenz des Lebens als „Haben wollen“ nachzudenken. Es wird zunehmend klarer, dass im Alter das „Loslassen wollen“ eine immer größere Bedeutung gewinnt.
Erkenntnis der Vergänglichkeit: Die Erkenntnis, dass alles Vergängliche nur vorübergehende Erfüllung bieten kann, führt zu einer tieferen Suche nach Sinn und dem Wunsch nach Überwindung des Anklammerns an das, was Dauerhaftigkeit und Beständigkeit im Leben verspricht.
Loslassen wollen: Die Phase der Reife und Selbstverwirklichung
In dieser Phase des Loslassens erkennen wir, dass zur Vorbereitung auf den Tod das zunehmende Bedürfnis entstehen kann, Ballast abzuwerfen, sich von all dem zu trennen, was man in jungen Jahren so unbedingt als erstrebenswert erachtete. Das Loslassen bedeutet nicht notwendigerweise, alles wahllos aufzugeben, sondern eher, eine distanziertere, geistige Beziehung zu den bisherigen Lebensinhalten, bisherigen Zielen und zu uns selbst zu entwickeln.
Durch das Loslassen von alten Bindungen, Verpflichtungen und Erwartungen finden wir inneren Frieden und Zufriedenheit. Wir erkennen, dass unser Wert und unsere Zufriedenheit nicht von externen Faktoren abhängen, sondern eher davon, sich von diesen Äußerlichkeiten und Zwängen immer mehr zu lösen.
Selbstverwirklichung: In diesem Zustand des allmählichen Loslassens kommen wir immer mehr dazu, unser wahres Selbst zu erkennen und uns in geistigen Werten zu verwirklichen. Wir leben ohne Ballast authentischer, in Einklang mit unseren tiefsten Werten und Überzeugungen.
Spirituelle Erfüllung: Für viele Menschen führt dieser Prozess zu einer tieferen spirituellen Einsicht und Erfüllung. Es entsteht ein Gefühl der Verbundenheit mit etwas Größerem als den weltlichen vordergründigen Lebensinhalten und dem, was wir in jungen Jahren als erstrebenswert erachtet hatten.
Beispiele für Loslassen in indigenen Kulturen
In vielen indigenen Kulturen gibt es Konzepte einer letzten Lebensphase, die stark vom Loslassen weltlicher Aspekte und einer zunehmenden spirituellen Orientierung geprägt sind. Diese Phasen sind oft durch Rituale, Geschichten und kulturelle Praktiken verankert, die den Übergang vom Leben zum Tod betonen. Hier sind einige Beispiele:
Diné (Navajo)
In der Kultur der Diné (Navajo) im Südwesten der USA gibt es das Konzept des „Hózhó“, was eine Harmonie und Balance in allen Aspekten des Lebens bedeutet. Ältere Menschen, die sich dem Ende ihres Lebens nähern, fokussieren sich oft darauf, diese Harmonie zu bewahren und loszulassen. Es gibt eine natürliche Akzeptanz des Todes, und viele Ältere bereiten sich darauf vor, indem sie sich von materiellen Gütern und weltlichen Angelegenheiten distanzieren. Der Übergang wird als ein Teil des natürlichen Lebenszyklus angesehen, der spirituelle Bedeutung hat.
Maori (Neuseeland)
Bei den Maori in Neuseeland gibt es die Vorstellung des „Kaumātua“, was die Rolle eines Ältesten bezeichnet, der nicht nur Weisheit und Wissen besitzt, sondern auch eine besondere spirituelle Verbindung zur Vergangenheit und zu den Ahnen hat. In der letzten Lebensphase konzentrieren sich die Kaumātua oft darauf, ihre Weisheit weiterzugeben und sich spirituell auf die Verbindung mit den Ahnen vorzubereiten. Dieser Übergang beinhaltet oft eine Trennung von weltlichen Dingen und eine Rückkehr zu traditionellen und spirituellen Werten.
Anishinaabe (Ojibwe)
In der Anishinaabe-Kultur, die in Nordamerika verbreitet ist, gibt es das Konzept der „Midewiwin“, einer spirituellen Gesellschaft, in der die Weisheit und die spirituellen Lehren der Ältesten besonders geschätzt werden. Ältere Mitglieder der Gemeinschaft bereiten sich oft auf ihren Übergang ins Jenseits vor, indem sie sich von weltlichen Verpflichtungen zurückziehen und sich auf ihre spirituellen Praktiken konzentrieren. Es wird als ein natürlicher Prozess des Loslassens und der Vorbereitung auf das Leben nach dem Tod gesehen.
Inuit (Arktische Regionen)
In der Kultur der Inuit gibt es eine natürliche Akzeptanz des Todes, und die ältere Generation bereitet sich auf den Tod vor, indem sie sich zunehmend aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben zurückzieht. Es gibt eine kulturelle Erwartung, dass ältere Menschen, wenn sie fühlen, dass ihr Leben zu Ende geht, dies akzeptieren und sich auf den Übergang ins Jenseits vorbereiten. In einigen Fällen, in extremen Umgebungen, haben Ältere sogar freiwillig die Gemeinschaft verlassen, um ihre Angehörigen nicht zu belasten, was ein tiefes Verständnis des Loslassens zeigt.
Hopi (Südwesten der USA)
Die Hopi-Kultur hat ein tief verwurzeltes Verständnis des Lebenszyklus, der den Tod als einen natürlichen und notwendigen Übergang betrachtet. Ältere Hopi fokussieren sich oft auf das spirituelle Leben und die Vorbereitung auf den Übergang in die nächste Welt. Es gibt traditionelle Rituale und Zeremonien, die diesen Übergang begleiten, und ein Loslassen von weltlichen Sorgen ist ein wesentlicher Bestandteil dieser letzten Lebensphase.
In all diesen Kulturen gibt es eine gemeinsame Anerkennung des Todes als natürlichen Teil des Lebenszyklus, der mit einer spirituellen Vorbereitung und einem Loslassen weltlicher Dinge einhergeht. Diese Praktiken reflektieren eine tiefe Verbundenheit mit der Natur und den spirituellen Aspekten des Daseins.
Beispiele für Loslassen und Abschied in der indischen Kultur
In der indischen Gesellschaft gibt es alte Traditionen und spirituelle Praktiken, die das Loslassen am Ende des Lebens begleiten. Diese Traditionen sind oft stark von den religiösen und philosophischen Lehren des Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und anderen indischen Glaubensrichtungen geprägt. Hier sind einige der wichtigsten Traditionen und Konzepte:
Sannyasa (Entsagung) im Hinduismus
Im hinduistischen Dharma gibt es die vier Lebensstadien, die sogenannten „Ashramas“: Brahmacharya (Lernphase), Grihastha (Hausleben), Vanaprastha (Rückzug) und Sannyasa (Entsagung). Sannyasa ist das letzte Stadium, das oft im höheren Alter erreicht wird. Es bedeutet, dass eine Person alle weltlichen Verpflichtungen und Besitztümer aufgibt, um sich ausschließlich der spirituellen Praxis zu widmen. Menschen, die diesen Weg wählen, verlassen häufig ihre Familie, um als Wandermönche zu leben, und bereiten sich auf die Befreiung (Moksha) vor.
Vanaprastha (Waldleben) im Hinduismus
Vanaprastha ist das dritte Lebensstadium, in dem eine Person beginnt, sich allmählich von weltlichen Pflichten zurückzuziehen. Traditionell bedeutete dies, dass man in den Wald ging, um ein einfaches Leben in Meditation und Gebet zu führen. Dieses Stadium dient als Übergang von einem aktiven, weltlichen Leben zu einem Leben der Entsagung und spirituellen Suche.
Antyesti (letzte Riten) im Hinduismus
Antyesti, auch bekannt als „letzte Riten“, ist das traditionelle hinduistische Bestattungsritual. Es wird geglaubt, dass die Seele durch dieses Ritual von ihrem physischen Körper befreit wird und ihren Weg zu einem neuen Leben oder zu Moksha findet. Diese Riten umfassen das Waschen des Körpers, das Einhüllen in ein weißes Tuch, und die Einäscherung, wobei die Asche oft in einem heiligen Fluss verstreut wird, wie zum Beispiel im Ganges.
Japa und Meditation im Hinduismus und Buddhismus
Am Ende des Lebens wird den Menschen oft geraten, sich auf Japa (das wiederholte Rezitieren heiliger Mantras) und Meditation zu konzentrieren. Dies hilft ihnen, sich von weltlichen Bindungen zu lösen und den Geist auf das Göttliche auszurichten. Häufig wird das „Maha Mantra“ oder andere heilige Mantras rezitiert, um inneren Frieden und spirituelle Erhebung zu fördern.
Shraddha (Totenrituale) im Hinduismus
Shraddha ist ein Ritual, das nach dem Tod eines Menschen durchgeführt wird, um die Seele des Verstorbenen zu ehren und ihr einen friedvollen Übergang in die nächste Welt zu ermöglichen. Diese Rituale werden oft von den Söhnen des Verstorbenen durchgeführt und umfassen Opfergaben, Gebete und das Gedenken an den Verstorbenen. Es wird geglaubt, dass diese Rituale helfen, die Seele von allen weltlichen Bindungen zu befreien.
Moksha (Befreiung) im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus
Das Konzept der Moksha, oder Befreiung, ist zentral in vielen indischen Religionen. Es bedeutet die endgültige Befreiung von Samsara, dem Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt. Das Streben nach Moksha beinhaltet das Loslassen aller weltlichen Wünsche und Bindungen und die Konzentration auf die Vereinigung mit dem Göttlichen oder das Erreichen von Nirvana (im Buddhismus) oder Kaivalya (im Jainismus).
Mahamrityunjaya Mantra im Hinduismus
Dies ist ein bedeutendes Mantra im Hinduismus, das oft für Menschen rezitiert wird, die sich am Ende ihres Lebens befinden. Es wird geglaubt, dass das Rezitieren dieses Mantras die Person vor dem Kreislauf von Tod und Wiedergeburt schützt und ihnen hilft, den Frieden und die Befreiung zu finden.
Anicca (Vergänglichkeit) im Buddhismus
Im Buddhismus ist das Konzept der Anicca oder Vergänglichkeit grundlegend. Das Loslassen am Ende des Lebens wird durch die Erkenntnis gefördert, dass alles im Leben vergänglich ist. Diese Erkenntnis kann helfen, den Geist von Anhaftungen zu befreien und den Übergang in den Tod als einen natürlichen Teil des Lebens zu akzeptieren.
Sallekhana (Ritual des bewussten Fastens bis zum Tod) im Jainismus
In der Jain-Tradition gibt es das Ritual der Sallekhana, bei dem eine Person im hohen Alter oder bei unheilbarer Krankheit bewusst fastet, um den Tod herbeizuführen. Dieses Ritual wird als eine Art des bewussten und würdevollen Loslassens angesehen, das den Praktizierenden von allen weltlichen Bindungen befreit und ihnen hilft, ein höheres spirituelles Niveau zu erreichen.
Diese Traditionen spiegeln eine tiefe spirituelle Philosophie wider, die das Leben als eine Vorbereitung auf die letztendliche Befreiung oder die Rückkehr zu einer höheren Realität betrachtet. Das Loslassen von weltlichen Bindungen wird als wesentlicher Schritt auf diesem Weg gesehen.
Zusammenfassung
Der Übergang vom „Haben wollen“ zum „Loslassen wollen“ ist ein natürlicher Teil des menschlichen Lebenszyklus und ein wesentlicher Aspekt der Selbstverwirklichung. Es ist ein Prozess, der durch Reflexion, Wachstum und tiefere Einsichten geprägt ist. Letztendlich führt dieser Weg zu einem erfüllteren, authentischeren und intensiveren inneren geistigen Leben und zu einer sinnvollen Vorbereitung auf einen friedlichen Tod.
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