Einleitung
Der Ausdruck, der sich im Laufe der Zeit zu „Das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner“ entwickelt hat, lässt sich bis zu den Werken des römischen Dichters Ovid zurückverfolgen, der im 1. Jahrhundert v. Chr. lebte. Ovid formulierte ursprünglich: „Auf dem Feld eines anderen ist die Ernte immer reicher“, was die menschliche Neigung beschreibt, das, was andere haben, als erstrebenswerter oder wertvoller zu betrachten.
Das moderne Sprichwort, wie wir es heute kennen, stammt jedoch aus einem amerikanischen Volkslied, das 1924 von Raymond B. Egan und Richard A. Whiting verfasst wurde. Dieses Lied heißt „The Grass Is Always Greener (In the Other Fellow’s Yard)“. Es popularisierte das Sprichwort „Das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner“ und trug dazu bei, die Idee des Vergleichens und der Sehnsucht nach dem, was andere haben, in der Kultur zu verankern.
Es greift die gleiche Idee auf wie bei Ovid und drückt die Sehnsucht oder das Gefühl aus, dass das Leben oder die Umstände anderer besser seien, als die eigenen.
Dieser Ausdruck betont eine weitverbreitete menschliche Wahrnehmung, dass das, was uns fehlt oder was wir nicht besitzen, oft attraktiver erscheint als das, was wir bereits haben. In vielen Kulturen ist diese Einsicht tief verankert und dient als Mahnung, das eigene Leben und die eigenen Umstände zu schätzen.
Erfahrungswelt des Kindes
Die Fixierung auf die Grundhaltung „Das Gras ist auf der anderen Seite immer grüner“ lässt sich oft auf frühkindliche Erfahrungen zurückführen. Kinder neigen dazu, sich stark mit ihrer Umwelt zu vergleichen, insbesondere mit anderen Kindern oder Erwachsenen, die scheinbar etwas Besseres oder Erstrebenswerteres besitzen. Diese frühkindliche Sehnsucht nach dem, was andere haben, wird oft durch unbewusste Bedürfnisse angetrieben – zum Beispiel nach Gütern, Zugehörigkeit, Bestätigung oder Liebe.
In dieser Phase der Entwicklung ist es natürlich, dass Kinder Wünsche und Bedürfnisse äußern, die von der Beobachtung anderer geprägt sind. Jedoch kann diese Haltung neurotisch und irrational werden, wenn sich daraus ein Zwangsgedanke entwickelt, der auch im Erwachsenenalter bestehen bleibt. Wenn ein Mensch beständig den Wunsch hegt, das zu haben oder zu erreichen, was andere haben, ohne die eigenen Bedürfnisse oder die Sinnhaftigkeit des Wunsches zu reflektieren, entsteht ein innerer Konflikt. Der Gedanke „Ich will das auch“ wird zu einem Automatismus, der nicht mehr an rationalen Überlegungen orientiert ist, sondern an einer tief sitzenden emotionalen Unzufriedenheit.
Der Zwangsgedanke „Das will ich auch!“
Diese Fixierung auf das, was andere haben oder wie andere leben, ist oft eine Folge des eigenen Gefühls der infantilen Unvollständigkeit. Es ist eine Form der Illusion, die dem Betroffenen suggeriert, dass das Glück oder die Erfüllung stets außerhalb seiner selbst liegt – bei den Dingen, die anderen gehören oder im Lebensstil anderer. Dem liegt die Vorstellung eines Kindes zugrunde, dass davon ausgeht, dass es aus seinem Unglück erst erlöst sein wird, wenn es so leben kann wie die Erwachsenen, die sich scheinbar alle Wünsche erfüllen können. Diese Denkweise führt häufig zu einem Kreislauf des Vergleichens, der Unzufriedenheit und der inneren Leere, weil die Erfüllung des Wunsches niemals den gewünschten Effekt hat. Denn das Bedürfnis, das „fehlende“ Objekt zu besitzen, hat seinen Ursprung in einem emotionalen Mangel bzw. einem kindlichen Begehren, so sein zu wollen wie die Erwachsenen, den äußere Dinge oder das Imitieren von anderen nicht beheben können.
Rational betrachtet ist dieser Zwangsgedanke problematisch, da er keine realistische Grundlage hat. Der Gedanke, dass das Haben von etwas, das anderen gehört, automatisch Zufriedenheit bringt, ist eine Täuschung. Es ignoriert die individuellen Umstände und Bedürfnisse und führt zu einer ständigen Jagd nach unerreichbaren Idealen. Darüber hinaus fördert diese Haltung eine Haltung der Unzufriedenheit und des Mangels, anstatt Dankbarkeit und Zufriedenheit mit dem, was man hat, zu entwickeln.
Kurz gesagt, die Fixierung auf den Gedanken „Ich will das auch“ ist oft eine Überbleibsel kindlicher Erfahrungswelten, die im Erwachsenenalter zu einer irrationalen, neurotischen Haltung werden kann. Diese Haltung nährt sich aus einem unreflektierten Vergleich mit anderen und führt zu unglücklichen, zwanghaften Verhaltensweisen, die den Blick auf die eigenen, authentischen Bedürfnisse verstellen.
Hans im Glück
Im Märchen „Hans im Glück“ aus der Sammlung der Brüder Grimm lässt sich die beschriebene Grundhaltung in eskalierender Weise nachvollziehen. Hans beginnt die Geschichte mit einem beträchtlichen Vermögen: einem großen Klumpen Gold als Lohn für seine jahrelange Arbeit. Doch auf dem Heimweg gibt er diesen Klumpen Gold sowie andere Besitztümer immer wieder bereitwillig im Tausch gegen Dinge auf, die zunächst besser oder nützlicher erscheinen. Am Ende der Geschichte ist er völlig mittellos. Das gute Ende wird nur dadurch erreicht, dass er wohlbehalten seine Mutter wiedersieht, die die ganze Zeit auf ihn gewartet hat.
Das kalte Herz
Im Märchen „Das Kalte Herz“ von Wilhelm Hauff ist die Grundhaltung „Das will ich auch“, die auf Vergleiche und äußeren Besitz fixiert ist, zentral für das Verhalten des Protagonisten Peter Munk. Die Wünsche, die er im Laufe der Geschichte äußert, spiegeln genau diese neurotische Haltung wider: ein unreflektiertes Streben nach dem, was andere haben, ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen oder seine eigenen authentischen Bedürfnisse.
Erster Wunsch – Reichtum und Anerkennung
Peter Munk wächst in einer Umgebung auf, in der er als armer Köhler von anderen verspottet und verachtet wird. Er bewundert die reichen Leute im Dorf, wie den Glashändler Ezechiel oder den wohlhabenden Tanzbodenkönig. Diese Männer sind für ihn das Ideal dessen, was er auch haben möchte: Reichtum, Ansehen und Einfluss. Peter hegt den Wunsch, so zu sein wie sie, ohne zu hinterfragen, ob dies wirklich seinem eigenen Wesen entspricht.
Dieser Wunsch, reich zu sein und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen, ist ein klassisches Beispiel für die Fixierung auf das, was andere haben. Anstatt seine eigenen Fähigkeiten und Stärken zu erkennen oder sich auf ein authentisches Leben zu konzentrieren, verfällt Peter der Illusion, dass Reichtum und soziale Stellung ihn glücklich machen würden. Doch als er diesen Wunsch erfüllt bekommt und durch das Glasmännlein Reichtum erlangt, zeigt sich schnell, dass das Leben der Reichen auch seine Schattenseiten hat. Peter verliert seinen Reichtum durch unüberlegtes Verhalten und bleibt unzufrieden.
Zweiter Wunsch – Das kalte Herz
Nachdem Peter erkennt, dass sein erster Wunsch ihm keine dauerhafte Zufriedenheit gebracht hat, wendet er sich an den Holländer-Michel, der ihm einen verlockenden, aber verhängnisvollen Tausch vorschlägt: Peter tauscht sein warmes, menschliches Herz gegen ein kaltes Herz aus Stein, um schmerzfrei und emotionslos zu sein. Auch hier liegt der Gedanke zugrunde: „Das will ich auch“ – Peter bewundert diejenigen, die ohne Emotionen leben und scheinbar erfolgreich sind. Er glaubt, dass die Unempfindlichkeit gegenüber moralischen Konflikten und Gefühlen ihn vor weiteren Enttäuschungen und Verletzungen schützen könnte.
Dieser Wunsch ist besonders irrational und neurotisch, weil er auf einer tiefen Verleugnung der eigenen Menschlichkeit basiert. Anstatt sich den Herausforderungen des Lebens zu stellen und aus seinen Fehlern zu lernen, versucht Peter, seine Probleme durch das Aufgeben seines Gefühlslebens zu lösen. Der Gedanke, dass man erfolgreicher oder glücklicher sein könnte, wenn man wie andere emotional unbeteiligt ist, ist ein Ausdruck der verzerrten Wahrnehmung: Peter glaubt, dass das Leben der Gefühllosen einfacher und erstrebenswerter sei.
Die fatalen Folgen der Wünsche
Die Erfüllung dieser Wünsche führt Peter in eine tiefe Krise. Sein Reichtum bringt ihm keine Freude, seine Unempfindlichkeit macht ihn zu einem gefühlskalten und grausamen Menschen, der sogar den Tod seiner Frau Lisbeth verantwortet. Die Geschichte zeigt, dass das unreflektierte Streben nach dem, was andere haben, nicht nur unerfüllte Erwartungen mit sich bringt, sondern auch das Potenzial hat, moralischen Verfall und Isolation zu bewirken.
Die Überwindung des „Ich will das auch“-Schemas
Im Laufe der Handlung erkennt Peter schließlich, dass seine Wünsche nicht aus seinen eigenen, inneren Bedürfnissen erwachsen sind, sondern aus einer unkritischen Übernahme dessen, was andere besitzen oder repräsentieren. Er realisiert, dass wahres Glück und Zufriedenheit nicht durch das Erfüllen von materiellen oder äußerlich bewunderten Zielen erreicht werden können, sondern durch den Erhalt der Menschlichkeit und innerer Werte. Mit Hilfe des Glasmännleins erhält er sein warmes Herz zurück und kehrt zu einem bescheideneren, aber authentischeren Leben zurück.
Zusammenfassung
Die Wünsche im Märchen „Das Kalte Herz“ sind Ausdruck der kindlichen und neurotischen Haltung „Das will ich auch“, die auf einem ständigen Vergleich mit anderen basiert. Peter Munk projiziert sein eigenes Gefühl der Unzufriedenheit auf den äußeren Besitz und die Lebensweisen anderer, ohne die wahre Bedeutung von Glück und Erfüllung zu verstehen. Erst als er diese illusionäre Fixierung überwindet und sich von der äußeren Bestätigung löst, findet er zu sich selbst zurück. Das Märchen zeigt, wie gefährlich und zerstörerisch es sein kann, Wünsche zu verfolgen, die nicht aus einem authentischen Selbstverständnis erwachsen, sondern aus einer fixierten Sehnsucht nach dem, was andere haben.
Melanie Klein und der primäre Neid des Kindes
Melanie Kleins Theorie des primären Neides bietet einen tiefenpsychologischen Einblick in die Dynamik der Wünsche und des Verlangens, so sein zu wollen wie andere – insbesondere Erwachsene – oder das zu besitzen, was sie haben. In ihrer psychoanalytischen Theorie stellt Klein den primären Neid als eine frühkindliche emotionale Erfahrung dar, die tief in der Beziehung des Säuglings zur Mutter verwurzelt ist.
Grundgedanken der Theorie des primären Neides
Laut Klein erlebt das Kind Neid gegenüber der Mutter, insbesondere in Bezug auf ihre Fähigkeit zu nähren und Leben zu geben. Der Säugling nimmt die Mutter als Quelle der Nahrung und aller begehrenswerter Dinge des Lebens wahr und entwickelt oft das Gefühl, dass sie etwas besitzt, was ihm selbst fehlt. Das führt zu einem tiefen Gefühl des Neides, einem unbewussten Wunsch, das zu zerstören oder an sich zu reißen, was die Mutter hat. Dieser primäre Neid ist dabei nicht nur auf die reale Nahrung beschränkt, sondern auf alles, was die Mutter als Ganzes repräsentiert: Liebe, Schutz, Versorgung und die Fähigkeit, Sicherheit zu geben und Nähe zu vermitteln.
Übertragung auf die Wünsche im Märchen und das Streben nach dem, was Erwachsene haben
Im Märchen wie „Das Kalte Herz“ und bei der Grundhaltung „Das will ich auch“ werden die Mechanismen des primären Neides thematisiert. Peter Munk und andere Märchenfiguren, die von einem unreflektierten Wunsch nach dem streben, was andere haben (insbesondere Erwachsene oder reiche, mächtige Figuren), durchleben eine Form dieses frühkindlichen Neids in abgewandelter Form. Dieser Neid lässt sich folgendermaßen auf die Handlung des Märchens und das Streben nach dem Besitz von Erwachsenen anwenden:
Neid auf Erwachsene und deren Macht, Lebensstil und das, was sie besitzen:
Kinder nehmen Erwachsene – und insbesondere Elternfiguren – als mächtig, autonom und versorgt wahr. Sie scheinen über Dinge zu verfügen, die Kinder selbst nicht haben, und diese Diskrepanz weckt den Wunsch, dasselbe zu besitzen oder zu sein wie sie. Im Fall von Peter Munk sieht er die Reichen und Mächtigen in seiner Umgebung (den Glashändler Ezechiel und den Tanzbodenkönig) und entwickelt einen ähnlichen, vom Neid getriebenen Wunsch, wie sie zu sein. Hier tritt das Grundprinzip des primären Neides auf: Erwachsene oder mächtige Figuren scheinen über etwas zu verfügen, was Peter fehlt – Reichtum, Einfluss, Status – und er fühlt sich davon ausgeschlossen und minderwertig.
Der Wunsch, sich durch den Besitz zu vervollständigen:
Die Wünsche Peters, Reichtum und Macht zu erlangen, um wie die Erwachsenen zu sein, entspricht dem unbewussten Versuch, das zu kompensieren, was er als Kind nicht hat. Der Besitz und die Kontrolle über äußere Güter werden zum Symbol der Kontrolle und Macht über das eigene Leben – ähnlich wie der Säugling den Wunsch entwickelt, die Quelle der Fülle (die Mutter) zu kontrollieren oder zu besitzen. Melanie Klein würde diesen Wunsch als Ausdruck des primären Neides interpretieren, der auf das Streben abzielt, das zu haben, was der andere hat, und so die empfundene Leere oder Unterlegenheit zu überwinden.
Das zerstörerische Potential des Neides:
Laut Kleins Theorie kann Neid eine zerstörerische Kraft sein, weil er nicht nur auf das Erlangen des begehrten Objekts abzielt, sondern oft auch auf die symbolische oder reale Zerstörung desjenigen, der es besitzt. Im Fall von Peter Munk zeigt sich diese zerstörerische Dimension durch seine emotionale Kälte und die Gewalttaten, zu denen ihn das „kalte Herz“ verleitet. Anstatt sich an dem zu erfreuen, was er hat, strebt er nach mehr und mehr, was letztlich seine Menschlichkeit zerstört. Sein Wunsch, wie die Erwachsenen zu sein, wird durch den Neid vergiftet, der ihn nicht nur dazu bringt, zu nehmen, sondern auch zu zerstören – wie es bei seiner Frau Lisbeth tragisch der Fall ist. Das zerstörerische Potential besteht aber auch in der zerstörerischen Frustration, wenn die Wünsche nicht erfüllt werden oder aber auch in der Entfremdung vom eigenen wahren Selbst, wenn die Wünsche erfüllt werden.
Die Befreiung vom primären Neid:
Das Märchen zeigt am Ende Peters Erlösung, als er sein warmes Herz zurückerhält und damit auch die Fähigkeit, echte Zufriedenheit und Zuneigung zu sich selbst und anderen zu empfinden. In der Theorie Kleins könnte dies als Überwindung des destruktiven Neides interpretiert werden, indem Peter lernt, seine Bedürfnisse und Wünsche nicht mehr auf das zu projizieren, was andere haben, sondern sich auf eine echte Akzeptanz des eigenen Selbst und seiner Ressourcen zu besinnen. Erst durch diese Akzeptanz – und das Loslassen des neurotischen Vergleichs mit den „Erwachsenen“ – findet Peter zu sich selbst und kann sich von anderen Menschen abgrenzen, was gleichzeitig eine Voraussetzung ist für eine echte Zuwendung.
Zusammenfassung
Die Theorie des primären Neides von Melanie Klein bietet einen hilfreichen psychologischen Rahmen, um das Märchen „Das Kalte Herz“ und ähnliche infantile Wunschstrukturen im Zusammenhang mit dem kindlichen Drang „Das will ich auch“ zu interpretieren. Der Neid auf das, was „Erwachsene“ oder mächtige Figuren besitzen, drängt den Protagonisten dazu, unreflektiert nach äußerem Besitz und Status zu streben. Doch dieser Neid ist destruktiv, da er die wahre Erfüllung verhindert und stattdessen zu emotionaler Kälte und Leere führt. Erst die Überwindung dieses unbewussten primären Neides, die Akzeptanz des eigenen Lebens und das Loslassen des zwanghaften Vergleichs führen schließlich zur Erlösung und inneren Zufriedenheit.
Anhang: Text von „The Grass Is Always Greener (In the Other Fellow’s Yard)“
Don’t believe the grass is always greener
In the other fellow’s yard
Don’t believe the air is always cleaner
In the other fellow’s yard
Don’t spend your time in grieving
And moaning through the day
Or you’ll wake up some evening
To find you moaned your life away
Don’t believe the road is never bumpy
In the other fellow’s yard
Don’t believe the outlook isn’t jumpy
And the way isn’t hard
Be satisfied, look over the fence, and if you do
You’ll see the other fellow standing there admiring you
Be satisfied, look over the fence, and if you do
You’ll see the other fellow standing there admiring you
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht