Einleitung
Wenn wir von Chimären sprechen, so meinen wir Wesen, die aus mindestens zwei unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt sind. Der Ursprung des Begriffs liegt in der griechischen Mythologie: die Chimaira, ein feuerspeiendes Ungeheuer mit Löwenhaupt, Ziegenleib und Schlangenschwanz, das schließlich von Bellerophon besiegt wurde. Aber die Chimäre ist weit mehr als dieses eine Monster. Sie ist ein kulturübergreifendes Motiv, das uns von den frühen Hochkulturen bis in die Gegenwart begleitet, ja, das bis heute in Literatur, Kunst, Biologie und Psychologie eine enorme Wirkung entfaltet.
Chimären im antiken Griechenland
Wir betreten die Welt des antiken Griechenlands und begegnen dort gleich einer ganzen Reihe von Mischwesen. Der Minotauros, halb Mensch, halb Stier, eingeschlossen in Daidalos’ Labyrinth, verkörpert sowohl verdrängte Gewalt als auch ein politisches Trauma Athens, das Tribute an Kreta zahlen musste. Die Sphinx mit dem Körper einer Löwin und dem Haupt einer Frau bewacht die Tore von Theben und zwingt jeden Vorübergehenden, ein Rätsel zu lösen – modern gewendet ein Bild für die Schwellen, die wir in unserem eigenen Leben überschreiten müssen, Prüfungen, die uns zur Selbstreflexion zwingen. Oder die Kentauren: wilde, triebhafte Gestalten, die die Grenze zwischen Zivilisation und Trieben ausloten.

Eine besondere Gestalt unter den Kentauren ist Cheiron, der weise Lehrer der Helden. Während seine Brüder meist als triebhafte, zügellose Wesen beschrieben werden, verkörpert Cheiron das genaue Gegenteil: Er versinnbildlicht Mäßigung, Wissen und Fürsorge. Er lebt zurückgezogen auf dem Pelion und ist ein Meister der Heilkunst, der Musik und der Jagd. Zu seinen Schülern zählen die größten Gestalten der griechischen Mythologie: Achill, den er nicht nur im Waffengebrauch, sondern angeblich auch in der Heilkunst unterwies; Weiter sind zu nennen: Asklepios, der spätere Gott der Medizin; aber auch Jason, der Anführer der Argonauten, und Herakles, der tragischerweise seinen Lehrer durch einen vergifteten Pfeil tödlich verwundete. Cheiron steht damit für eine andere Dimension der Chimäre: nicht das wilde Ungeheuer, sondern der Vermittler von Kultur und Wissen. In seiner doppelten Natur – halb Tier, halb Mensch – verbindet er das animalisch Triebhafte mit dem Geistigen, das Wilde mit dem Zivilisierten. Gerade darin liegt seine Symbolkraft: er zeigt, dass Bildung nicht in der Verdrängung der animalischen Seite besteht, sondern in ihrer Integration. Cheiron wird so zum Archetyp des Mentors, der den Helden befähigt, seine Bestimmung zu erfüllen, und zugleich selbst in der Spannung zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit steht. Er verkörpert Traditionen der archaischen Schamanen und dies verweist auch auf moderne Formen von Persönlichkeitsentwicklung wie sie z.B. in der Psychoanalyse angestrebt werden, wo auch der Ausgleich zwischen Zivilisation und dem Triebhaften ein zentraler Aspekt ist.
Der Hermaphrodit als Sonderform einer Chimäre
Der Hermaphrodit stellt eine besondere, ja intime Form der Chimäre dar, insofern er nicht verschiedene Tier- oder Menschenarten verbindet, sondern in sich die beiden Geschlechter vereint. Der Name geht auf die mythische Gestalt Hermaphroditos zurück, den Sohn des Hermes und der Aphrodite. Der Legende nach verschmolz er durch den Fluch der Nymphe Salmakis mit ihrem eigenen Körper und wurde so zu einem Wesen, das zugleich männlich und weiblich ist. Diese Figur irritierte die antiken Betrachter zutiefst, weil sie die klaren Grenzen zwischen den Geschlechtern aufhob. In der antiken Kunst begegnen uns daher Darstellungen des schlafenden Hermaphroditen, bei denen der Betrachter im ersten Moment einen weiblichen Körper zu sehen glaubt, beim Umrunden der Statue jedoch mit einem männlichen Geschlechtsteil überrascht wird.
Als chimärische Gestalt ist der Hermaphrodit kein Monster, sondern eine Verkörperung der Vereinigung von Gegensätzen. Er vereint das männliche und das weibliche Prinzip, das Aktive und das Empfangende, das kriegerische Hermes-Erbe und die Schönheit der Aphrodite. In der Alchemie wird die Figur später als Symbol des „Rebis“ gedeutet, des zweigeschlechtlichen Urmenschen, der die ursprüngliche Ganzheit repräsentiert. Psychologisch, etwa bei C. G. Jung, verweist der Hermaphrodit auf die archetypische Spannung von Anima und Animus im Menschen: er steht für die Möglichkeit, beide Anteile in einer höheren Einheit zu versöhnen. So wird der Hermaphrodit zu einer Chimäre nicht des Schreckens, sondern der Vollendung, ein Sinnbild für die Aufhebung von Gegensätzen, das in vielen spirituellen Traditionen als Symbol für Ganzheit und Erlösung verstanden wird. Die häufig feminin anmutenden Christusdarstellungen lassen darauf schließen, dass der Heraphrodit in der Gestalt Jesu eine Fortsetzung gefunden hat.
Chimären im alten Ägypten
Auch Ägypten kannte solche Wesen. Die Götter dort treten uns in Tiergestalt oder als Mischwesen entgegen: Anubis mit dem Schakalskopf, Horus als Falke, Sekhmet als Löwin, Thot als Ibis. Diese Gestalten waren nicht per se Monster, sondern sichtbare Theologie: sie verkörperten kosmische Ordnungen, Eigenschaften und Mächte. Besonders eindrucksvoll ist Ammit, das Fabelwesen, das bei der Totenwägung das Herz derjenigen verschlang, die schwerer wogen als die Feder der Gerechtigkeit. Ein Mischwesen, das hier nichts anderes darstellt als das moralische Gesetz in Gestalt eines Ungeheuers.
Chimären im alten Indien und China
Wenn wir den Blick nach Indien wenden, finden wir den Löwenmenschen Narasimha, der als Avatar Vishnus auftritt, um einen Dämon zu vernichten, oder Ganesha, den Gott mit dem Elefantenkopf, der als Beseitiger von Hindernissen gilt. Auch hier zeigt sich: die Mischgestalt ist nicht bloß ein Zeichen des Grauens, sondern Symbol für Schutz, Weisheit und göttliche Kraft. In China wiederum begegnet uns der Qilin, den man im Westen gerne als Einhorn übersetzt. Doch anders als das europäische Einhorn ist der Qilin kein wildes Wesen, das sich nur einer Jungfrau nähert, sondern ein Sinnbild von Gerechtigkeit und friedlicher Herrschaft.
Chimären im europäischen Mittelalter
Im europäischen Mittelalter tauchen in den Bestiarien neue Chimären auf: der Manticor mit menschlichem Gesicht, Löwenleib und Skorpionschwanz, der Basilisk, halb Schlange, halb Hahn, oder die Sirenen, die sich im Laufe der Jahrhunderte von Vogel-Frauen zu Fisch-Frauen verwandelten. Auch das Christentum übernahm Chimären als Symbole. Der Greif etwa, halb Adler, halb Löwe, galt als Sinnbild Christi, in dem himmlische und irdische Natur Christi vereint sind.
Chimären in der Literatur und im Film
Doch die Geschichte der Chimären endet nicht mit der Religion oder den Märchen. Sie lebt in der Literatur fort. Denken wir an Frankensteins Monster, zusammengenäht aus den Leibern Toter, das auch durch die Ekelreaktion und Aversion seines Schöpfers zum Ungeheuer wird. Hier wird die Chimäre zum Spiegel einer ethischen Frage: Wo liegt die Verantwortung des Menschen, wenn er selbst Schöpfer spielt? Oder Kafkas „Verwandlung“, in der Gregor Samsa sich in ein Insekt verwandelt – ein chimärischer Alptraum, der die Entfremdung des modernen Menschen in seiner Familie sichtbar macht. In der Gegenwart begegnen uns Mischwesen als Mutanten, als Cyborgs, als Maschinen-Menschen, die in Science-Fiction-Filmen wie „Robocop“, „Ghost in the Shell“ oder in den „Borg“ aus Star Trek die Frage stellen: Wo endet der Mensch, wo beginnt die Maschine?
Chimären in der modernen Kunst
In der Kunst der Moderne erleben Chimären eine besondere Wiedergeburt, denn gerade in den Brüchen und Collagen des 20. Jahrhunderts fanden Künstler Gefallen an hybriden Gestalten. Pablo Picasso machte den Minotauros zu einem zentralen Symbol seiner eigenen Mythologie bzw. fiktionalisierten Selbstdarstellung. In Radierungen, Zeichnungen und Gemälden erscheint der Stiermensch bei ihm als Triebwesen, als Liebhaber, als Opfer und Täter zugleich – eine Projektion des Künstlers selbst zwischen schöpferischer Potenz und zerstörerischem Impuls. Paul Klee wiederum entwarf zarte, beinahe spielerische Chimären, Mischwesen aus Menschen, Tieren und Phantasieformen, die wie aus Kinderzeichnungen stammen und doch geheimnisvolle Zwischenwelten andeuten; bei ihm wirkt das Chimärische eher poetisch als bedrohlich. Max Ernst griff auf die Technik der Collage zurück, zerschnitt alte Kupferstiche und fügte sie zu grotesken Mischwesen zusammen: Vögel mit Frauenkörpern, Maschinen mit tierischen Gliedmaßen, surreale Traumwesen, die den Betrachter an das Unbewusste erinnern. Auch andere Surrealisten wie Salvador Dalí oder Joan Miró liebten chimärische Formen – Dalís weiche Körper, die sich mit Tieren und Objekten verschränken, oder Mirós traumartige Gestalten, die aus Linien, Augen und Gliedmaßen zusammengesetzt sind, lassen den Eindruck entstehen, als seien sie selbst aus der Substanz von Träumen geboren. In der Moderne wird die Chimäre damit nicht mehr nur als mythisches Wesen dargestellt, sondern als Ausdruck einer zersplitterten, von Brüchen geprägten Wirklichkeit – und als künstlerisches Experimentierfeld, auf dem das Zusammengesetzte, das Unmögliche und das Unbewusste Gestalt annehmen darf.

Deutungsansätze
Warum aber kehren Chimären in so vielen Kulturen wieder? Ein anthropologischer Blick, wie ihn Claude Lévi-Strauss vorgeschlagen hat, zeigt: Chimären sind Versuche, Gegensätze miteinander zu vermitteln. Sie vereinen in einer Gestalt, was eigentlich getrennt erscheint – Tier und Mensch, Himmel und Erde, Natur und Kultur. In diesem Sinne sind sie Denkbilder, die uns helfen, Widersprüche zu ertragen. Nach Mary Douglas (Purity and Danger) verkörpern Chimären oft das Nicht-Alltäglich, es handelt sich um eine besondere Kategorie Mischungen oder Mischwesen, sie sind außerhalb der Ordnung angesiedelt, markieren das Unverfügbare, nicht im Alltag kategorisierbare. Insofern sie „out of place“ sind, erscheinen sie als mächtig, gefährlich oder heilig. Nach Victor Turner markieren Chimären die Liminalität, eine Art von Grenzerfahrung. Sie spielen deshalb in Übergangsriten eine Rolle. Ihr Halb–halb bedeutet: entweder „noch nicht“ oder „nicht mehr“. Darum versinnbildlichen sie diese Bedeutung an Türen, Brücken, Küsten, am Eingang von Labyrinthen.
Auch psychologisch lassen sich Chimären deuten. Freud hätte wohl vom „Unheimlichen“ gesprochen, von jener Mischung aus Vertrautem und Fremdem, die uns erschauern lässt. C. G. Jung sah in ihnen Archetypen des kollektiven Unbewussten: der Minotauros als Schattenseite des Menschen, die Sphinx als Rätsel der Weiblichkeit, die Medusa als Beispiel einer Verwandlung durch Traumatisierung. Moderne Theorien wie die von Donna Haraway gehen noch weiter: Der Cyborg, das Mischwesen von Mensch und Maschine, wird zur politischen Figur, die zeigt, dass wir uns jenseits starrer Grenzen von Natur und Kultur bewegen.
Zusammenfassung
Chimären erfüllen damit ganz unterschiedliche Funktionen. Sie sind Schwellenhüter, Wächter an den Pforten von Tempeln, Städten und Mythen. Sie sind kosmische Diagramme, die Ordnung sichtbar machen. Sie sind moralische Spiegel, die Laster und Tugenden verkörpern. Und sie sind Projektionsflächen unserer tiefsten Ängste und Sehnsüchte. Darum faszinieren sie uns bis heute.
Wenn wir also in die Gesichter der Chimären blicken – sei es in der Maske des Greifen, in der bedrohlichen Rätselhaftigkeit der Sphinx, in den Augen des Minotaurus oder in den genähten Gliedern von Frankensteins Geschöpf – dann begegnen wir immer auch uns selbst. Chimären sind Spiegelwesen, die uns lehren, dass Identität nicht rein und eindeutig ist, sondern zusammengesetzt, ambivalent, voller Übergänge und Brüche. Und vielleicht liegt gerade darin ihre Botschaft: Dass wir lernen, mit diesen Ambivalenzen und Disbalancen zu leben – in Mythos, in Literatur, in Psychologie und im eigenen Alltag.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht