Unterschiedliche Arten der Verwendung der Katharsis in der Psychotherapie

Der Begriff der Katharsis stammt aus der Poetik des Aristoteles und ist ein zentraler Bestandteil seiner Theorie der Tragödie. Aristoteles definiert die Tragödie als eine Nachahmung einer ernsten und abgeschlossenen Handlung, die eine bestimmte Größe hat und durch Mitleid und Furcht (eleos kai phobos) eine Reinigung bzw. Läuterung (Katharsis) von diesen Gefühlen bewirkt.
Aristoteles beschreibt Katharsis als eine emotionale Reinigung oder Läuterung. Die Zuschauer sollen durch das Erleben der tragischen Handlung in der Lage sein, ihre eigenen Emotionen von Mitleid und Furcht zu verarbeiten und zu klären. Dieser Prozess führt zu einer Art emotionaler Erleichterung oder Befreiung.
Katharsis beinhaltet im Rahmen der im Theater geschauten Tragödie als dramatische Handlung aber auch intellektuelle Klärung, bei der das Publikum durch die Anteilnahme bei der Betrachtung eine tiefere Erkenntnis der menschlichen Natur und der moralischen Ordnung erlangt. Durch die Auseinandersetzung mit den tragischen Figuren und ihren Schicksalen können die Zuschauer Einsichten gewinnen, die ihr Verständnis und ihre Weisheit in bezug auf sich selbst und andere Menschen sowie deren Bedeutung in der Gesellschaft erweitern.
Insofern kann Katharsis auch als eine soziale Funktion der Tragödie gesehen werden. Indem die Tragödie kollektive Emotionen anspricht und bearbeitet, trägt sie zur Stabilität und Harmonie der Gesellschaft bei. Die gemeinschaftliche Erfahrung des Theaters fördert das soziale Zusammengehörigkeitsgefühl und ermöglicht eine gemeinsame Reflexion über menschliche Schwächen und Tugenden.
Die Katharsis ist somit ein komplexer Prozess, der sowohl emotionale als auch intellektuelle Dimensionen umfasst. Durch das Erleben der tragischen Handlung sollen die Zuschauer eine Reinigung oder Klärung ihrer Emotionen erfahren, was zu einer tieferen Erkenntnis und einer stärkeren emotionalen Balance führt. Diese Theorie unterstreicht die bedeutende Rolle der Tragödie im antiken griechischen Theater und ihre Wirkung auf das Publikum

Der Begriff der Katharsis hat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Psychotherapie eine bedeutende Rolle gespielt und wurde in verschiedenen psychotherapeutischen Ansätzen unterschiedlich interpretiert und angewendet. Ursprünglich aus der aristotelischen Tragödientheorie stammend, wurde das Konzept in der modernen Psychotherapie angepasst, um emotionale Heilung und Erleichterung zu fördern. Hier sind einige wichtige Punkte und Ansätze, die die Katharsis in der Psychotherapie beleuchten.
Katharsis bedeutet meist emotionale Entladung in erlebnisorientierten Ansätzen:
In der Psychotherapie bezieht sich Katharsis oft auf die emotionale Entladung oder das Ausdrücken von unterdrückten Gefühlen. Durch das bewusste Erleben und Ausdrücken von Emotionen, wie Trauer, Wut oder Angst, sollen Patienten eine Erleichterung und Befreiung von emotionalem Druck erfahren.
Die Katharsis wird teilweise auch als Prozess gesehen, der es den Patienten ermöglicht soll, belastende Erfahrungen bewusst zu verarbeiten. Durch das Hervorbringen und Durchleben von traumatischen oder schmerzhaften Erlebnissen sollen diese integriert und in einen größeren Lebenskontext eingeordnet werden können.
Katharsis in verschiedenen psychotherapeutischen Ansätzen
Sigmund Freud und seine Nachfolger sahen die Katharsis als wichtigen Bestandteil der psychoanalytischen Therapie. In diesem Kontext bedeutete Katharsis das bewusste Erinnern und Durcharbeiten von verdrängten Erinnerungen und Gefühlen. Freud sah die Katharsis als Mittel zur Entlastung des psychischen Apparates und zur Auflösung innerer Konflikte.
In der humanistischen Psychotherapie, insbesondere in der Gestalttherapie von Fritz Perls, spielt die Katharsis eine zentrale Rolle. Hier wird der Fokus auf das Hier und Jetzt gelegt, und Patienten werden ermutigt, ihre Emotionen direkt und unmittelbar auszudrücken. Durch Techniken wie das Leere-Stuhl-Gespräch sollen Patienten intensive emotionale Erlebnisse durchleben und verarbeiten.
In der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) wird die Katharsis weniger betont, da dieser Ansatz stärker auf die Veränderung von Denkmustern und Verhaltensweisen abzielt. Dennoch können kathartische Momente auftreten, wenn Patienten durch die Konfrontation mit ihren Ängsten und die schrittweise Bewältigung von belastenden Situationen eine emotionale Erleichterung erfahren.
In der Traumatherapie, insbesondere in Ansätzen wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder somatischer Traumatherapie, kann Katharsis eine wichtige Rolle spielen. Hier wird gezielt daran gearbeitet, traumatische Erinnerungen zu reaktivieren und in einem sicheren therapeutischen Rahmen zu verarbeiten. Dies kann zu einer intensiven emotionalen Entladung und einer Reduktion traumatischer Symptome führen.
Expressive Therapien: Kunsttherapie, Musiktherapie und Tanztherapie nutzen kreative Ausdrucksformen, um emotionale Katharsis zu fördern. Durch das künstlerische Schaffen können Patienten Gefühle ausdrücken, die verbal schwer zugänglich sind.
Körperorientierte Therapien: Ansätze wie Bioenergetik oder somatische Erfahrungsarbeit betonen die Rolle des Körpers bei der Speicherung von emotionalen Erlebnissen. Durch körperliche Übungen und bewusstes Erleben körperlicher Empfindungen kann eine Katharsis und somit eine emotionale Entlastung erreicht werden.
Zusammenfassung
In der Psychotherapie wird die Katharsis als ein Prozess verstanden, durch den Patienten unterdrückte oder verdrängte Emotionen ausdrücken und verarbeiten können. Dieser Prozess kann zu einer erheblichen emotionalen Erleichterung und Heilung führen. Verschiedene therapeutische Ansätze nutzen unterschiedliche Techniken, um Katharsis zu fördern, wobei das Ziel immer darin besteht, eine tiefere emotionale Verarbeitung und Integration zu ermöglichen.

Transformationprozess der Katharsis von Aristoteles zu Konzepten in der Psychotherapie

Der aristotelische Begriff der Katharsis und seine Anwendung in der Psychotherapie sind durch einen Transformationsprozess gekennzeichnet, bei dem der ursprüngliche ästhetisch-emotionale Kontext der Tragödie in einen therapeutisch-psychologischen Kontext überführt wurde. Diese Transformation kann insofern problemmatisiert werden, da die Katharsis in der Psychotherapie eine andere Funktion und Bedeutung erhalten hat. Hier sind einige Aspekte, die diesen Funktionswandel beleuchten:
Ursprung und ursprünglicher Kontext
Aristoteles‘ Katharsis:
In der aristotelischen Poetik bezieht sich Katharsis auf die Reinigung oder Läuterung von Emotionen wie Mitleid und Furcht, die das Publikum durch das Erleben einer Tragödie erfährt. Diese Reinigung ist primär ästhetisch und moralisch, da sie eine tiefere Einsicht in die menschliche Natur und moralische Wahrheit ermöglichen soll.
Funktionswandel in der Psychotherapie
Funktionaler Wandel:
Ästhetische Reinigung vs. therapeutische Heilung: Während bei Aristoteles die Katharsis eine ästhetische Funktion zur emotionalen und moralischen Läuterung des Publikums hat, zielt die Katharsis in der Psychotherapie auf die emotionale Heilung und das Wohlbefinden des Patienten ab. Der therapeutische Kontext konzentriert sich auf die Lösung individueller psychischer Probleme und die Förderung der psychischen Gesundheit.
Methodische Unterschiede:
Theatererfahrung vs. therapeutisches Setting: Bei Aristoteles erfolgt die Katharsis durch das passive Erleben einer tragischen Handlung im Theater. In der Psychotherapie hingegen wird Katharsis durch aktive therapeutische Techniken wie Gespräche, Rollenspiele oder körperorientierte Methoden induziert. Die Rolle des Therapeuten und die therapeutische Beziehung sind entscheidend für die Erreichung der Katharsis.
Emotionaler Fokus:
Mitleid und Furcht vs. breite emotionale Palette: Aristoteles fokussiert sich auf die Emotionen Mitleid und Furcht als zentrale Elemente der Katharsis. In der Psychotherapie hingegen umfasst Katharsis eine breitere Palette von Emotionen, einschließlich Wut, Trauer, Freude und Angst. Die therapeutische Katharsis kann unterschiedliche emotionale Ausdrucksformen und deren Verarbeitung umfassen.
Ziel und Zweck der Katharis.
Aristoteles sah die Katharsis als Mittel zur moralischen und intellektuellen Läuterung. In der Psychotherapie ist das Ziel der Katharsis eher die psychische Stabilität, Selbstintegration und emotionale Gesundheit des Individuums. Der Fokus liegt auf der individuellen Heilung und weniger auf der moralischen Erziehung.

Zusammenfassung

Freud übernahm für die Psychoanalyse das Konzept der Katharsis und interpretierte es als die Freisetzung unterdrückter psychischer Spannungen und Konflikte. Hier wird die Katharsis als Teil des therapeutischen Prozesses gesehen, bei dem verdrängte Erinnerungen und Gefühle bewusst gemacht und im Rahmen von symbolstiftenden Deeutungen verarbeitet werden.
Die gestalttherapeutischen Ansätze: erweitern die Katharsis auf das unmittelbare emotionale Erleben im Hier und Jetzt. Techniken wie Rollenspiele und imaginative Übungen zielen darauf ab, eine unmittelbare tiefgehende emotionale Entladung und Integration zu ermöglichen, ohne dass symbolische Strukturen in Form von Deutungen zwingend erforderlich wären.
Der Funktionswandel des aristotelischen Begriffs der Katharsis in der Psychotherapie zeigt sich in der Veränderung von Kontext, Funktion, Methode und Ziel. Während Aristoteles‘ Katharsis eine ästhetisch-moralische Läuterung durch das Theatererlebnis darstellt, ist die therapeutische Katharsis ein individueller Heilungsprozess, der durch spezifische psychotherapeutische Techniken erreicht wird. Diese Adaption hat den Begriff der Katharsis erweitert und ihn zu einem wichtigen aber auch problematischen Konzept in der modernen Psychotherapie gemacht, obwohl der ursprüngliche ästhetische und moralische Kontext dadurch verändert wurde. Festzuhalten bleibt, dass die Katharsis bei Aristoteles immer eingebunden bleibt in die symbolischen Strukturen des Theaters in Form von Auffführung und Handlung etc. Demgegenüber kann die Katharsis besonders in erlebnisorientierten Psychotherapien zum Selbstzweck werden und läuft dann Gefahr, ohne den Aufbau von symbolischen Strukturen, Patienten zu destabilisieren, wenn nur darauf fokussiert wird, ihre Abwehr zu schwächen.

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