Als ein Kernbestandteil der christilichen Ethik wird seit jeher die Nächstenliebe genannt. Klassisch ist die Auslegung der Nächstenliebe durch Paulus in 1. Korintherbrief, 13. Kapitel: “Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf. “
Diese Auslegung versucht die Nächstenliebe abzugrenzen von Verzerrungen, derer sie ausgesetzt sein könnte hinsichtlich einer Provokation zum Zorn oder einer Versuchung zur Prahlerei oder in Richtung einer Handlung zum eigenen Vorteil.
Tatsächlich ist es sehr schwer, diese Grenzen nicht zu überschreiten. In postmodernen Formen des Marketings, wie sie uns z.B. im Greenwashing begegnet, möchte ein Unternehmen seine Marke ins rechte Licht rücken und Anerkennung gewinnen von umweltbewussten Komsumenten. Problematisch sind solche Aktionen insofern, als es grenzwertig durchaus nur zum Schein gute Taten sind, die beworben werden.
Die Gefahr der Selbstbeweihräucherung, der falschen Selbstgerechtigkeit begleitet die christliche Ethik der Nächstenliebe von Anfang an, gerade weil sie allgemein formuliert ist und eine Alternative zur Gesetzes-Frömmigkeit sein möchte. Die Frage, ob das Motiv der guten Tat wirklich selbstlos war, ist ein altes Thema und begegnet uns in verschiedenen Zusammenhängen. Letztlich geht es um die selbstlose Hinwendung zum Nächsten oder auch zum Gegenstand des Interessses oder ob diese nicht schon wieder korrumpiert ist von selbstsüchtigen Motiven.
Im Spielfilm “Die Verachtung” (1963) setzt sich J.-L. Godard (1930-1922) mit diesem Widerspruch auseinander und vergleicht den arroganten, rüden Filmproduzenten, der über ein erhabenes Sujet, die Odysse, einen Film drehen lassen möchte, um zu beweisen wie gebildet er ist, mit einem wirklich gebildeter, dabei aber bescheidenen Regisseur in der Gestalt von Fritz Lang. Diese Gegenüberstellung ist auch eine Allegorie des Gegensatzpaares der demütigen Nächstenliebe versus Eitelkeit, Verachtung und Prahlerei.
In Dostojewskis Roman “Brüder Karamasow” (1880) gibt es eine Szene, in der der Starez Sossima eine wohlhabende und wohltätige Frau fragt, ob ihre wohltätigen Taten vielleicht aus Eitelkeit geschehen seien, nur damit sie ihm davon erzählen könne. Diese Szene ist ein tiefgründiges Beispiel für Dostojewskis Erkundung menschlicher Motive und die moralischen und spirituellen Kämpfe seiner Charaktere.
Die Frage des Starez zielt darauf ab, die wahren Beweggründe hinter ihren Handlungen zu hinterfragen und ob ihre Wohltätigkeit wirklich selbstlos ist oder ob sie von einem Wunsch nach Anerkennung und Bestätigung angetrieben wird. Dies reflektiert ein wiederkehrendes Thema in Dostojewskis Werk: die Untersuchung der Authentizität und Reinheit menschlicher Motive und die ständige Selbstprüfung, die erforderlich ist, um wahrhaft moralisch und spirituell integer zu sein.
Diese Szene kann als kritische Reflexion über die Natur der Nächstenliebe und die Herausforderungen der echten Selbstlosigkeit verstanden werden. Sie regt dazu an, über die tieferen Absichten hinter unseren eigenen Handlungen nachzudenken und ermutigt zur Ehrlichkeit gegenüber uns selbst und unseren Beweggründen.
Fjodor Dostojewski (1821-1881) war von vielen philosophischen und theologischen Strömungen beeinflusst, darunter auch von Søren Kierkegaard (1813-1855). Während es keine direkten Hinweise darauf gibt, dass Dostojewski Kierkegaard tatsächlich gelesen hat, gibt es bemerkenswerte Parallelen in ihren Gedanken, die auf einen zumindest indirekten Einfluss hindeuten. Diese Parallelen betreffen insbesondere ihre Auseinandersetzungen mit Existenzialismus, Glauben und der Natur des Menschen. Sowohl Kierkegaard als auch Dostojewski beschäftigen sich intensiv mit den existenziellen Problemen des menschlichen Lebens, wie Sinn, Verzweiflung und die Suche nach Identität. Kierkegaards Konzept der “Verzweiflung” als grundlegendem menschlichen Zustand findet ein Echo in Dostojewskis Charakteren, die oft innere Kämpfe und existenzielle Krisen durchleben.
Sowohl Dostojewski als auch Kierkegaard können moderne Leser wieder dazu inspirieren, mehr über ihre persönliche Subjektivität hinsichtlich ethischer Entscheidungen nachzudenken, um sich unabhängiger zu machen von Strömungen des Zeitgeistes und der zunehmenden Kollektivierung der Gedanken.