Einleitung
Somatic Experiencing (SE) ist eine körperorientierte Therapiemethode, die von Dr. Peter Levine entwickelt wurde, um Menschen bei der Verarbeitung von Traumata zu helfen. Sie konzentriert sich darauf, die körperlichen Empfindungen (somatische Reaktionen) zu nutzen, um das autonome Nervensystem zu regulieren und die in Folge eines Traumas eingefrorenen körperlichen und emotionalen Reaktionen zu lösen.
Grundprinzipien von Somatic Experiencing
Traumata können den natürlichen Selbstregulierungsmechanismus des Nervensystems stören und zu einer Art von “Einfrieren” führen, in dem der Körper in einem ständigen Alarmzustand verbleibt. SE zielt darauf ab, dieses „Einfrieren“ zu lösen und dem Körper zu helfen, wieder in einen ausgeglichenen Zustand zu kommen. Der Schwerpunkt liegt auf den Körperempfindungen und weniger auf der detaillierten Schilderung des traumatischen Erlebnisses.
Was macht ein Somatic Experiencing Practitioner?
Ein Somatic Experiencing Practitioner (SE-Praktiker) arbeitet mit Klienten, um ihnen zu helfen, ihre körperlichen Reaktionen auf Stress oder Trauma wahrzunehmen, zu erforschen und schrittweise zu entladen. Der Praktiker unterstützt den Klienten dabei, Körperempfindungen bewusst wahrzunehmen, ohne dabei in die Emotionen des Traumas hineingezogen zu werden. Dies geschieht in einem langsamen, bewussten Prozess, um eine schrittweise Entladung der im Nervensystem gespeicherten Energie zu ermöglichen.
Ein SE-Praktiker: Hilft dem Klienten, in kleinen, sicheren Schritten die körperlichen Reaktionen auf Trauma zu erkunden. Fördert die Selbstregulation, um den Klienten zu unterstützen, Traumafolgen zu bewältigen und ein größeres Gefühl von Sicherheit und Stabilität im Körper zu erreichen. Setzt Techniken ein, um das Nervensystem aus dem Kampf-, Flucht- oder Erstarrungszustand zu lösen.
Historische Wurzeln und theoretische Grundlagen
Die Entwicklung von Somatic Experiencing basiert auf Dr. Peter Levines Beobachtungen der natürlichen Reaktionen von Tieren in freier Wildbahn. Er stellte fest, dass Tiere, die von Raubtieren gejagt werden, oft durch kurze, körperliche Entladungen ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten und so weiterleben, ohne langfristige Traumafolgen. Er übertrug diese Erkenntnisse auf den Menschen, der jedoch oft durch gesellschaftliche Normen oder bewusste Gedanken daran gehindert wird, diesen natürlichen Prozess zu durchlaufen.
Die Methode stützt sich auf verschiedene Theorien:
Polyvagal-Theorie (Dr. Stephen Porges): Diese Theorie beschreibt das autonome Nervensystem und seine Rolle bei der Reaktion auf Bedrohungen. Besonders der Vagusnerv spielt eine zentrale Rolle in der Stressregulation und dem Erleben von Sicherheit.
Fight, Flight, Freeze: SE baut auf der biologischen Reaktion des Körpers auf Gefahr (Kampf, Flucht oder Erstarren). Bei einem Trauma kann der Körper in einem dieser Zustände stecken bleiben. SE zielt darauf ab, diesen Zustand sanft zu lösen.
Körperbezogene Selbstbeobachtung: SE legt den Fokus darauf, den Körper als Schlüssel zur Heilung zu betrachten und darauf, wie körperliche Empfindungen und Emotionen miteinander verknüpft sind.
Somatic Experiencing unterscheidet sich von kognitiv orientierten psychotherapeutischen Methoden, indem es sich mehr auf körperliche Empfindungen und weniger auf die kognitive Verarbeitung von Erlebnissen konzentriert. Es geht darum, den Körper dabei zu unterstützen, sich von traumatischen Erfahrungen zu “erholen” und das Nervensystem wieder in Balance zu bringen.
Anwendung in der Tiefenpsychologie
Somatic Experiencing (SE) lässt sich gut in tiefenpsychologische Psychotherapie integrieren, da beide Ansätze das Ziel verfolgen, unbewusste Konflikte und traumatische Erlebnisse zu verarbeiten. Während die tiefenpsychologische Psychotherapie vor allem auf das Verstehen und Verarbeiten psychischer Inhalte fokussiert, bringt SE eine körperorientierte Komponente ein, die sich auf das Erleben und Lösen von im Körper gespeicherten Reaktionen konzentriert.
Mögliche Integration von SE in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
Arbeit mit dem Unbewussten auf beiden Ebenen:
In der tiefenpsychologischen Psychotherapie liegt der Fokus darauf, unbewusste Konflikte und verdrängte Emotionen zu erkunden. SE ergänzt dies durch die Auseinandersetzung mit unbewussten körperlichen Reaktionen, die in Folge von Trauma oder Stress im Nervensystem „eingefroren“ sind. SE ermöglicht es, über körperliche Empfindungen Zugang zu psychischen Prozessen zu erhalten, die möglicherweise schwerer zugänglich sind.
Verbindung von Körper und Psyche:
Tiefenpsychologische Ansätze wie die Psychoanalyse betrachten psychische Symptome oft als Ausdruck verdrängter Konflikte. SE erweitert diese Perspektive, indem es den Körper als wichtigen Speicherort dieser Konflikte und Traumata einbezieht. Die somatische Arbeit hilft, die in den körperlichen Empfindungen „gespeicherten“ Erinnerungen zu lösen und den Verarbeitungsprozess zu unterstützen.
Stabilisierung und Ressourcierung:
SE betont die Bedeutung von Stabilisierung und die schrittweise Bearbeitung traumatischer Inhalte. Dies kann in der tiefenpsychologischen Psychotherapie besonders hilfreich sein, da Klienten manchmal Schwierigkeiten haben, starke emotionale Zustände zu regulieren. Durch SE-Techniken wie „Titration“ (eine langsame, schrittweise Annäherung an traumatische Inhalte) kann der Therapeut den Klienten unterstützen, intensive Emotionen und körperliche Reaktionen in kleinen Schritten zu verarbeiten, ohne ihn zu überwältigen.
Regulierung des Nervensystems als Grundlage für tiefere psychische Arbeit:
Die tiefergehende psychische Arbeit in der tiefenpsychologischen Psychotherapie kann durch die Integration von SE erleichtert werden, indem das autonome Nervensystem des Klienten reguliert wird. Ein ausgeglichenes Nervensystem ermöglicht es dem Klienten, psychische Inhalte besser zu verarbeiten und reflektierter mit unbewussten Konflikten umzugehen, da er nicht ständig in einem „Überlebensmodus“ gefangen ist (z. B. in den Zuständen von Hyperarousal oder Erstarrung).
Förderung der Selbstwahrnehmung:
SE legt großen Wert darauf, die Selbstwahrnehmung zu fördern und den Klienten zu ermutigen, achtsam auf seine körperlichen Empfindungen zu achten. Dies kann die Selbstreflexion und Einsicht in tiefenpsychologischen Prozessen unterstützen, indem der Klient lernt, wie psychische und somatische Symptome zusammenhängen. Diese ganzheitliche Selbstwahrnehmung kann den therapeutischen Prozess vertiefen.
Praktische Anwendungsmöglichkeiten von SE in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
Einsatz bei traumatisierten Patienten: Besonders Patienten, die an posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) oder anderen Traumafolgen leiden, profitieren von SE, da traumatische Erlebnisse oft im Körper gespeichert werden. In Kombination mit der tiefenpsychologischen Arbeit können Klienten ihre Trauma-Erfahrungen nicht nur auf psychischer Ebene aufarbeiten, sondern auch die körperlichen Reaktionen regulieren.
Vermeidung von Retraumatisierung: In der tiefenpsychologischen Arbeit versuchen manche Therapieschulen, die Widerstände der Patienten offensiv zu überwinden. Damit verbunden ist das Risiko, dass das Wiedererleben traumatischer Inhalte zu Retraumatisierung führen kann. SE bietet einen Alternative, um dies zu verhindern, indem es den Fokus auf die langsame Verarbeitung und die Vermeidung von Überwältigung und Reizüberflutung legt.
Verankerung von Einsichten im Körper: Einsichten und Erkenntnisse aus der tiefenpsychologischen Arbeit können durch SE tiefer im Körper verankert werden. Klienten lernen, wie sich emotionale Einsichten auch körperlich auswirken und wie sie sich auf ihr körperliches Wohlbefinden auswirken.
Zusammenfassung
Die Kombination von Somatic Experiencing und tiefenpsychologischer Psychotherapie schafft eine tiefgreifende, ganzheitliche Herangehensweise, bei der sowohl das psychische als auch das körperliche Erleben von Traumata und Konflikten berücksichtigt wird. Durch die Einbindung von SE können Körper und Psyche miteinander in Dialog treten, was den Heilungsprozess vertiefen und nachhaltiger machen kann.
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