Im Hintergrund dieser Beitragsserie zu den “Orten psychologischer Erkenntnis” steht die Frage: Ist die Psychologie eine Naturwissenschaft oder eine Kulturwissenschaft? Anstatt dies philosophisch-erkenntnistheoretisch zu erörtern, möchte ich einen topographischen Weg einschlagen und fragen, könnte es sein, dass sich je nach den jeweiligen Orten der psychologischen Erkenntnis und dem damit verbundenen Menschenbildern ein mehr kulturwissenschaftliches oder ein mehr naturwissenschaftliches Paradigma als evident erweist.
Bedeutsam für die Wahl des angemessenen Paradigmas sind m.E. Bestimmungen des mit der Beobachtungssituation verbundenen und damit impliziten zugrundegelegten Menschenbildes. Nur vor diesem Hintergrund ist zu klären, in welchem Kontext die psychologisch erlebenden Menschen gesehen werden. D.h. das Menschenbild ergibt sich auch nicht zuletzt aus dem Ort des Geschehens, der wiederum als Teil der jeweiligen Lebenswelt der beobachteten und handelnden Subjekte aufgefasst werden kann.
In gewisser Weise ist dies eine phänomenologische orientierte Vorgehensweise, indem ich versuche, Orte psychologischer Erkenntnis zu erforschen, um auf diesem Wege dem Bedingungen der Möglichkeit von Psychologie im Rahmen anthropologischer Voraussetzungen zu klären, um damit dem spezifischen Wissenschaftscharakter von Psychologie und damit letztlich auch der Psychotherapie auf die Spur zu kommen.
Diltheys Unterscheidung von Erklären und Verstehen. Die früher gern zitierte und an W. Dilthey angelehnt und auch von Karl Jaspers übernommene Unterscheidung zwischen paradigmatischem verstehen und paradigmatischen erklären als Unterscheidung zwischen den geisteswissenschaftlicher Methodik und naturwissenschaftlicher Methodik, hilft leider nicht wirklich weiter. Denn das Erklären und das Verstehen sind letztlich nur zwei unterschiedliche Umgangsformen mit Funktionen, die es in beiden Bereichen gibt. Man kann sowohl die Funktionsweise eines Ottomotor wie auch den Sinn von Goethes Erlkönig verstehen und in beiden Fällen versuchen, Laien zu erklären, z.B. inwiefern ein Ottomotor in seiner Effizienz anderen Antrieben überlegen ist. Ebenso wie man erklären könnte, wie Goethe den Spannungsaufbau in seiner Ballade gestaltet. Ähnlich irreführend ist auch lange mit dem Unterschied zwischen “haben” und “sein” sinnverzerrend Verfahren worden, so als sei das “sein” etwas positives das “haben” aber etwas negatives. Dabei bezeichnen beide nur zwei funktionale Seiten ein und desselben Sachverhalts: “Ich bin (subjektiv) Vater, wenn ich (objektiv) ein Kind habe oder hatte.” Und dies betrifft ebenfalls materielle Gegenstände, die man haben und damit gleichzeitig deren Besitzer sein kann.
Sich am Selbstverständnis berühmter Forscher zu orientieren, hilft leider auch nicht weiter, weil Forscher einem Selbstmissverständnis in Bezug auf ihre Methodik oder in Bezug auf ihre Forschungsergebnisse unterliegen können. Beispiele: Kolumbus und Freud. Angeblich soll Christoph Kolumbus Zeit seines Lebens davon überzeugt gewesen sein, tatsächlich Indien entdeckt zu haben. Fest steht ebenfalls, dass S. Freud, als er die Grundzüge der Psychoanalyse schuf, meinte, mit seiner Methodik der Traumdeutung eine neue Naturwissenschaft begründet zu haben.
Die zwanghafte binäre Zuordnung zu entweder einem naturwissenschaftlichen oder einem geisteswissenschaftlichen Paradigma ist unter kulturwissenschaftlicher Perspektive möglicherweise eher zu relativieren. So meinte Ernst Cassirer über den Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft: Die Naturwissenschaft lehrt uns, nach Kants Ausdruck, »Erscheinungen zu buchstabieren, um sie als Erfahrungen lesen zu können«; die Kulturwissenschaft lehrt uns, Symbole zu deuten, um den Gehalt, der in ihnen verschlossen liegt, zu enträtseln – um das Leben, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen sind, wieder sichtbar zu machen. Danach würden sich die Naturwissenschaften und die Kulturwissenschaften nicht so sehr hinsichtlich ihre Methodik unterscheiden, denn in beiden Fällen würde es sich um die Beschreibung von Funktionen handeln, wohl hinsichtlich ihrer Erkenntnisgegenstände.
Was ein Naturphänomen ist, lässt sich vermutlich relativ einfach definieren. Schwieriger wird es, wenn wir uns psychologischen Phänomen zuwenden, z.B. dem Traum. Was legitimiert uns, den Traum als Naturphänomen anzusehen. Ist nicht gerade die Verwendung von Symbolen im Traum ein Hinweis, dass auch ein Traum, ebenso wie ein Gedicht, anhand seiner Symbolverwendung beschrieben werden sollte. Insofern wäre der Traum ein Kulturobjekt wie ein Film und seine Interpretation als Beschreibung von Funktionen im Rahmen einer Kulturwissenschaft angemessen.
Neubegründungen der Psychologie in der Moderne. In diesem Beitrag geht es um Paradigmen mentaler Logik und ihrer situativen Bezüge. Viele denken bei Orten psychologischer Erkenntnis vermutlich reflexartig an die Couch in Freuds Behandlungszimmer in Wien oder an Pawlows Labor im Rahmen akademischer psychologischer Forschung. Tatsächlich sind die Orte, an denen psychologischer Erkenntnisse gewonnen wurden aber viel mannigfaltiger.
Soziale Orte psychologischer Erkenntnisse sind Umgebungen oder Kontexte, in denen Menschen interagieren und soziale Beziehungen aufbauen, die wiederum ihre psychologischen Prozesse und Wahrnehmungen beeinflussen. Diese können physische Orte wie Städte, Gemeinden oder öffentliche Plätze sein, aber auch abstrakte Räume wie soziale Netzwerke oder kulturelle Gruppen.
Aus der tatsächlichen Fülle von schier unendlich vielen solcher Orte möchte ich in diesem Beitrag beispielhaft nur einige wenige herausarbeiten ohne dabei den Anspruch zu haben, damit die wichtigsten oder bedeutsamen erwähnt zu haben. Vielmehr ist die Auswahl rein subjektiv und soll weitere Fragestellungen anregen und deshalb mehr inspirieren als belehren. In guter platonischer Tradition sollen weniger Fragen beantwortet, als Fragen aufgeworfen werden.
Die Orte der psychologischen Erkenntnis sind dabei sehr heterogener Natur. Es kommen mythische Ort, literarische und fiktionale Orte infrage, die jeweils ihre eigenen Qualität mit sich tragen und ihre situativen Bezüge spezifische Kontexte umfassen, die miteinbezogen werden können, um damit die jeweiligen Bedingungen der Möglichkeit psychologischer Erkenntnisse weiter aufklären zu helfen.
Die weiteren Teile dieser Reihe zu “Orten psychologischer Erkenntnis” sollen jeweils einem dieser Orte und seiner Beschreibung gewidmet sein.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht