Einleitung
Der Satz: „Mach doch mal ’ne Therapie!“ einem kritisch nachfragenden politischen Journalisten von einem Politiker an den Kopf geworfen, gibt Anlass zum Nachdenken. Wieder geht es anscheinend darum, kritisches Denken und Nachfragen zu pathologisieren. Dies hat eine lange und dunkle Tradition. Die Zwangsbehandlung von Außenseitern und Kritikern durch Psychiater in ihren eigenen Institutionen der Psychiatrie hat in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedliche Formen angenommen. Die Darstellung solcher Praktiken im Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1975) spiegelt einige dieser Methoden wider, die in diversen Ländern und unter verschiedenen politischen Regimen unterschiedlich angewendet wurden.
Überblick über Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie
USA
In den USA hat die Zwangsbehandlung in der Psychiatrie eine lange und kontroverse Geschichte, die stark durch den Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ bekannt wurde. Zu den Hauptformen der Zwangsbehandlung gehörten:
Elektrokrampftherapie (EKT): Diese Methode wird im Film prominent dargestellt, wo sie als eine Form der Bestrafung und Kontrolle gezeigt wird. EKT wurde in den USA seit den 1940er Jahren eingesetzt, oft ohne informierte Zustimmung der Patienten.
Medikamentöse Behandlung: Patienten wurden mit Psychopharmaka behandelt, oft ohne ihre Zustimmung. Diese Medikamente wurden genutzt, um das Verhalten zu kontrollieren und Patienten ruhigzustellen.
Zwangsfixierung: Physische Fixierungen und Isolierung wurden häufig eingesetzt, um aggressive oder unkooperative Patienten zu kontrollieren.
Sowjetunion
In der Sowjetunion wurde die Psychiatrie oft politisiert, und Zwangsbehandlungen wurden nicht nur zu medizinischen Zwecken, sondern auch als Mittel zur politischen Repression eingesetzt.
Politische Psychiatrie: Menschen, die als „politisch abweichend“ angesehen wurden, konnten unter dem Vorwand der psychischen Erkrankung in psychiatrische Anstalten eingewiesen werden. Sie wurden dort oft jahrelang festgehalten.
Psychopharmaka und Zwangsmedikation: Patienten wurden mit starken Psychopharmaka behandelt, oft ohne informierte Zustimmung. Diese Medikamente wurden verwendet, um die Gedanken und das Verhalten der Patienten zu kontrollieren.
Isolation und Fixierung: Ähnlich wie in den USA wurden auch in der Sowjetunion physische Fixierungen und Isolation als Mittel zur Disziplinierung und Kontrolle eingesetzt.
Deutschland während der NS-Zeit
Unter dem nationalsozialistischen Regime in Deutschland nahm die Zwangsbehandlung in der Psychiatrie extrem grausame Formen an, die weit über das hinausgingen, was in anderen Ländern üblich war.
Euthanasie-Programme (Aktion T4): Unter dem Vorwand der „Rassenhygiene“ wurden Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen systematisch ermordet. Dies wurde als eine Form der „Zwangsbehandlung“ betrachtet, bei der das „Leben unwerten Lebens“ ausgelöscht wurde.
Zwangssterilisation: Viele Patienten in psychiatrischen Einrichtungen wurden zwangssterilisiert, um die Verbreitung vermeintlich „minderwertiger“ Gene zu verhindern.
Medizinische Experimente: Psychiatrische Patienten wurden oft zu Opfern von medizinischen Experimenten, die ohne ihre Zustimmung durchgeführt wurden.
China
In China gibt es auch eine Geschichte der Zwangsbehandlung in der Psychiatrie, insbesondere in politisch motivierten Kontexten.
Politische Umerziehung: In China wurden psychiatrische Einrichtungen auch genutzt, um politische Dissidenten zu inhaftieren. Diese Menschen wurden oft als psychisch krank erklärt und in Anstalten eingesperrt, um sie „umzuerziehen“.
Zwangsmedikation und physische Zwangsmaßnahmen: Wie in anderen Ländern wurden auch in China Psychopharmaka und physische Zwangsmaßnahmen eingesetzt, um das Verhalten von Patienten zu kontrollieren.
Moderne Entwicklungen: In jüngerer Zeit gab es Berichte über die Zwangsbehandlung von Personen, die als politisch abweichend gelten oder sich gegen das Regime äußern. Hierbei handelt es sich um eine Fortsetzung der Praxis der politischen Psychiatrie.
Berufsethische Aufarbeitung missbräuchlicher Psychiatrie
Die missbräuchliche Verwendung der Psychiatrie hat in verschiedenen Ländern und Epochen bei betroffenen Psychiatern zu unterschiedlichen Formen der berufsethischen Aufarbeitung geführt. Diese Aufarbeitung variiert stark in ihrer Tiefe und ihrem Umfang, je nach politischem Kontext, gesellschaftlichem Druck und dem Ausmaß der begangenen Verbrechen.
USA
In den USA war die Aufarbeitung der ethischen Probleme in der Psychiatrie vergleichsweise offen, besonders nach der Veröffentlichung des Films „Einer flog über das Kuckucksnest“ und durch die Kritik an Methoden wie der Elektrokrampftherapie und der Zwangsmedikation.
Ethikreformen und Patientenrechte: Die 1970er und 1980er Jahre brachten bedeutende Reformen im Bereich der Psychiatrie. Es wurden strengere Richtlinien eingeführt, um die informierte Zustimmung der Patienten zu gewährleisten und ihre Rechte zu schützen. Psychiater begannen, sich intensiver mit der Frage auseinanderzusetzen, wie Zwangsbehandlungen vermieden werden könnten.
Professionelle Reflexion: Viele Psychiater und medizinische Ethiker in den USA begannen, die Geschichte ihrer Disziplin kritisch zu hinterfragen, was zu einer stärkeren Betonung der Patientenautonomie und einer Ethik der Fürsorge führte.
Sowjetunion
In der Sowjetunion erfolgte die ethische Aufarbeitung des Missbrauchs der Psychiatrie erst nach dem Zusammenbruch des Regimes und der Öffnung des Landes.
Post-Sowjetische Reflexion: Nach dem Ende der Sowjetunion gab es in Russland und den Nachfolgestaaten eine gewisse Auseinandersetzung mit den Verbrechen, die im Namen der Psychiatrie begangen wurden. Diese war jedoch oft unzureichend und wurde von vielen als halbherzig angesehen. Einige Psychiater entschuldigten sich öffentlich für ihre Rolle im System, während andere die Missbräuche leugneten oder rechtfertigten.
Internationale Kritik: Internationale psychiatrische Organisationen, wie die World Psychiatric Association (WPA), übten Druck auf die russische Psychiatrie aus, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Die WPA suspendierte zeitweise die sowjetische psychiatrische Vereinigung wegen des Missbrauchs politischer Psychiatrie.
Deutschland während der NS-Zeit
Die Aufarbeitung der Verbrechen, die während des Nationalsozialismus in der Psychiatrie begangen wurden, war in Deutschland ein langer und schwieriger Prozess.
Nachkriegszeit und Schweigen: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele der an den NS-Verbrechen beteiligten Psychiater nicht zur Rechenschaft gezogen. Es herrschte ein weitgehendes Schweigen über die Rolle der Psychiatrie im „Euthanasie“-Programm und anderen Verbrechen.
Aufarbeitung ab den 1980er Jahren: Erst in den 1980er Jahren begann eine ernsthafte wissenschaftliche und ethische Aufarbeitung. Historiker und Psychiater erforschten die Verstrickungen der Psychiatrie in die NS-Verbrechen. Dieser Prozess führte auch zu einem Umdenken in der berufsethischen Ausrichtung der deutschen Psychiatrie.
Gedenkkultur: Inzwischen gibt es in Deutschland eine etablierte Gedenkkultur, die die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programme und die Rolle der Psychiatrie in diesen Verbrechen anerkennt. Viele Psychiatrien und medizinische Fakultäten haben sich aktiv an der Erinnerungskultur beteiligt.
China
Die ethische Aufarbeitung des Missbrauchs der Psychiatrie in China steht noch in den Anfängen und ist stark durch den politischen Kontext eingeschränkt.
Eingeschränkte Aufarbeitung: Die Reflexion über die missbräuchliche Verwendung der Psychiatrie in China, insbesondere im Zusammenhang mit politischer Repression, ist stark eingeschränkt. Es gibt wenig bis gar keine öffentliche Diskussion darüber, und die berufsethische Aufarbeitung wird durch den autoritären Charakter des politischen Systems behindert.
Wachsender internationaler Druck: Es gibt jedoch zunehmenden internationalen Druck und Forderungen nach einer besseren Einhaltung ethischer Standards in der chinesischen Psychiatrie, insbesondere im Hinblick auf Menschenrechte und die Vermeidung von politischem Missbrauch.
Fazit der berufsethischen Aufarbeitung
Die berufsethische Aufarbeitung des Missbrauchs der Psychiatrie variiert stark zwischen den Ländern. Während in den USA und Deutschland bedeutende Schritte unternommen wurden, bleibt die Aufarbeitung in der Sowjetunion/Russland und China problematisch und unvollständig. In allen Fällen zeigt sich jedoch, dass eine tiefgreifende Reflexion und Reform oft nur unter gesellschaftlichem und internationalem Druck erreicht werden konnte.
Persönliche Auseinandersetzung mit Missbrauch in der Psychiatrie
Mehrere prominente Psychiater haben sich im Laufe der Zeit kritisch mit dem Missbrauch in der Psychiatrie auseinandergesetzt und versucht, ethische Reformen anzustoßen. Hier sind einige der bekanntesten Persönlichkeiten, die sich aktiv mit diesen Themen befasst haben:
Thomas Szasz (USA)
Thomas Szasz (1920-2012) war ein ungarisch-amerikanischer Psychiater und einer der schärfsten Kritiker der traditionellen Psychiatrie. Er argumentierte, dass psychische Krankheiten häufig sozial konstruierte Labels seien, die zur Kontrolle und Unterdrückung von Individuen verwendet würden.
Kritik an der Zwangspsychiatrie: Szasz war ein vehementer Gegner der Zwangsbehandlung und der Psychiatrie im Allgemeinen, die er als Instrument der sozialen Kontrolle betrachtete. Sein Buch „The Myth of Mental Illness“ (1961) ist ein Meilenstein in der Debatte über den ethischen Missbrauch in der Psychiatrie.
Michel Foucault (Frankreich)
Michel Foucault (1926-1984), obwohl ein Philosoph und Historiker, hat erheblichen Einfluss auf das Denken in der Psychiatrie genommen, insbesondere durch seine kritischen Analysen der Machtstrukturen, die in medizinischen Institutionen wirken.
„Wahnsinn und Gesellschaft“: In seinem Werk „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1961) untersuchte Foucault, wie die Psychiatrie als Mittel zur Disziplinierung und Kontrolle von Abweichungen in der Gesellschaft genutzt wurde. Seine Arbeit regte viele Psychiater und Psychologen dazu an, die Geschichte und Ethik ihrer Disziplin kritisch zu hinterfragen.
Viktor Frankl (Österreich)
Viktor Frankl (1905-1997), ein österreichischer Neurologe und Psychiater, überlebte den Holocaust und gründete die Logotherapie, die auf dem Willen zum Sinn basiert. Er setzte sich für eine humanistische Psychiatrie ein, die das Individuum und seine Suche nach Sinn in den Mittelpunkt stellt.
Auseinandersetzung mit dem NS-Missbrauch: Nach dem Zweiten Weltkrieg reflektierte Frankl über den Missbrauch der Psychiatrie durch das NS-Regime und arbeitete daran, die menschliche Würde in den Mittelpunkt der Psychotherapie und Psychiatrie zu stellen.
John Conolly (Großbritannien)
John Conolly (1794-1866) war ein britischer Psychiater des 19. Jahrhunderts, der eine entscheidende Rolle bei der Abschaffung der physischen Zwangsmaßnahmen in psychiatrischen Anstalten spielte.
Einführung des „Non-Restraint“-Systems: Conolly setzte sich dafür ein, dass psychisch Kranke ohne den Einsatz von physischen Zwangsmitteln behandelt werden. Seine Arbeit im Hanwell Asylum war wegweisend und beeinflusste die Entwicklung einer humaneren Psychiatrie.
Franco Basaglia (Italien)
Franco Basaglia (1924-1980) war ein italienischer Psychiater und einer der Hauptinitiatoren der psychiatrischen Reform in Italien, die zur Schließung vieler psychiatrischer Anstalten führte.
Abolition von Anstalten: Basaglia führte die Bewegung an, die in den 1970er Jahren zur Abschaffung der traditionellen psychiatrischen Anstalten in Italien führte. Er setzte sich für die Rechte der psychisch Kranken ein und betrachtete die traditionellen psychiatrischen Praktiken als repressiv und entmenschlichend.
Dmitry Lunts (Russland)
Dmitry Lunts war ein sowjetischer Psychiater, der sich in den 1980er Jahren öffentlich gegen den Missbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke in der Sowjetunion aussprach.
Kritik an der politischen Psychiatrie: Lunts war einer der wenigen sowjetischen Psychiater, die den politischen Missbrauch der Psychiatrie verurteilten. Er setzte sich für eine Reform der Psychiatrie in der Sowjetunion ein, was ihn in Konflikt mit den Behörden brachte.
Karl Jaspers (Deutschland)
Karl Jaspers (1983-1969), ein deutscher Psychiater und Philosoph, spielte eine wichtige Rolle in der ethischen Reflexion über die Psychiatrie nach dem Zweiten Weltkrieg.
Reflexion über Ethik und Verantwortung: Jaspers beschäftigte sich intensiv mit den ethischen Herausforderungen der Psychiatrie und der Medizin, insbesondere nach den Verbrechen des NS-Regimes. Seine philosophischen Schriften zur Verantwortung und Schuld haben die Diskussion über die Rolle von Medizinern in totalitären Systemen stark beeinflusst.
Janusz Korczak (Polen)
Janusz Korczak (1878-1942) war ein polnischer Kinderarzt und Pädagoge, der sich für die Rechte der Kinder und eine humanistische Erziehung einsetzte. Obwohl er kein Psychiater im engeren Sinne war, beeinflusste sein Werk die Psychiatrie und die Betrachtung von Kindern in der Medizin.
Humanistische Ansätze: Korczak setzte sich für die Würde und Rechte von Kindern ein, insbesondere von Waisen und psychisch kranken Kindern, und lehnte autoritäre und repressiv-pragmatische Ansätze in der Kindererziehung und Kinderbetreuung ab.
Fazit über persönliche Auseinandersetzung mit dem Missbrauch
Diese Psychiater, Pädagogen und Philosophen haben durch ihre kritischen Arbeiten und Reformen wesentlich zur Reflexion und Verbesserung der ethischen Standards in der Psychiatrie beigetragen. Sie setzten sich gegen den Missbrauch in ihren Disziplinen ein und prägten die Entwicklung hin zu einer humaneren, patientenzentrierten Praxis.
Zusammenfassung
Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie haben in verschiedenen Kulturen und Epochen unterschiedliche Formen angenommen, die von medizinischen bis hin zu politisch motivierten Methoden reichen. Der Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ bietet einen eindrucksvollen Einblick in die Praxis der Zwangsbehandlung in den USA, die jedoch auch in anderen Ländern und unter anderen Regimen verbreitet war, oft mit noch schwerwiegenderen Konsequenzen für die Betroffenen.
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