Haben und Sein – zwischen Selbstverwirklichung und Trivialisierung

Einleitung

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Dialektik von “Haben und Sein”. Es soll der Frage nachgegangen werden, warum die Vereinseitigung dieses Spannungsfeldes irreführend ist. Sich in einem Sein zu verwirklichen ist nur möglich, wenn ein Mensch etwas hat, mithilfe dessen er sich verwirklichen kann. Wenn der Mensch aber aus dem, was er hat, nichts macht, um sich zu verwirklichen, bleibt sein Haben sinnlos und leer. Es soll gesucht werden nach Beispielen für das Misslingen, wenn jemand sich nur auf das Sein konzentriert und sich darin nicht finden kann, oder wenn jemand nur etwas haben will, ohne darin eine Selbstverwirklichung zu suchen oder zu finden.

Zur Dialektik von „Haben“ und „Sein“

Die Dialektik von „Haben“ und „Sein“ beschreibt den Gegensatz zwischen dem Besitz von Dingen oder äußeren Gütern (Haben) und dem Streben nach innerer Erfüllung und Selbstverwirklichung (Sein). Eine einseitige Fokussierung auf eines dieser Prinzipien führt zu einer gewissen Leere oder einem Misslingen im Leben. Hier sind Beispiele für beide Fälle:

Fokussierung auf das Sein, ohne Verwirklichung durch das Haben

Wenn jemand sich ausschließlich auf das „Sein“ konzentriert, also auf die innere Entwicklung und das Streben nach authentischem Leben, ohne jedoch die äußeren Mittel zu nutzen, die er hat, kann er in eine Art Leere geraten. Ein Beispiel wäre ein Künstler, der ständig über seine kreative Freiheit und innere Inspiration spricht, aber nie Pinsel und Leinwand in die Hand nimmt, um tatsächlich Kunst zu schaffen. Obwohl er das Potenzial hat, bleibt es ungenutzt, weil er nicht das Werkzeug (das „Haben“) verwendet, um sein inneres Selbst auszudrücken.

Ein weiteres Beispiel wäre ein Mensch, der sich auf philosophische oder spirituelle Erkenntnisse konzentriert, dabei aber die Notwendigkeit vernachlässigt, sich durch Handlungen in der realen Welt zu verwirklichen. Wenn er nur in theoretischen Konzepten schwelgt, ohne praktische Auswirkungen auf sein Leben oder das anderer zu erzielen, bleibt sein Streben nach „Sein“ unvollständig und leer.

Fokussierung auf das Haben, ohne Selbstverwirklichung im Sein

Ein anderes Beispiel ist jemand, der sich nur darauf konzentriert, Besitz oder Status zu erlangen, ohne dies als Mittel zur Selbstverwirklichung zu nutzen. Eine Person, die etwa materiellen Reichtum anhäuft, nur um reich zu sein, ohne diesen Reichtum für etwas Sinnvolles oder Erfüllendes einzusetzen, bleibt innerlich leer. Der Reichtum („Haben“) hat keinen Zweck für die Selbstverwirklichung, sondern wird zum Selbstzweck.

Ein konkretes Beispiel könnte ein Workaholic sein, der unermüdlich arbeitet, um Macht und Status zu erlangen, aber dabei vergisst, wie er diese Position nutzen könnte, um ein erfülltes Leben zu führen oder anderen zu helfen. Er sammelt immer mehr „Haben“, ohne daraus eine sinnvolle Existenz („Sein“) zu gestalten.

Zusammenfassung

Die Vereinseitigung auf „Haben“ oder „Sein“ ist irreführend, weil beide Elemente zusammenwirken müssen, um eine vollständige Selbstverwirklichung zu ermöglichen. Das „Haben“ liefert die Mittel und Möglichkeiten, während das „Sein“ die innere Ausrichtung und den Sinn gibt. Wenn eine dieser Dimensionen fehlt oder überbetont wird, bleibt das Leben unausgewogen.

Erich Fromm als Inspiration und Herausforderung zur Kritik zum Thema “Haben und Sein”

Erich Fromm kann sowohl als Inspiration als auch als Herausforderung für die Kritik der Dialektik von „Haben“ und „Sein“ gesehen werden, weil er diese Begriffe in seinem Werk “Haben oder Sein” zentral behandelt. Dabei stellt Fromm seine kritische Analyse der modernen Gesellschaft in den Mittelpunkt, in der er die schädlichen Auswirkungen einer übermäßigen Orientierung am „Haben“ und das damit verbundene Konsumdenken aufzeigt.

Fromm als Inspiration

Fromm bietet eine tiefgehende Analyse der menschlichen Existenz, die zu einem Verständnis der Dialektik von „Haben“ und „Sein“ beiträgt. Er unterscheidet zwei grundlegende Lebensweisen:

Haben: In diesem Modus des Lebens dreht sich alles um Besitz, Konsum und Kontrolle. Menschen definieren sich über das, was sie haben, statt über das, was sie sind. Sie suchen Sicherheit und Identität durch äußere Güter, Beziehungen oder Statussymbole. Diese Orientierung führt laut Fromm zu Entfremdung, Leere und mangelnder Selbstverwirklichung.

Sein: Dieser Modus hingegen betont das Leben im Moment, die authentische Selbstentfaltung und die zwischenmenschliche Verbundenheit. Menschen, die im „Sein“-Modus leben, streben nach innerem Wachstum, kreativer Entfaltung und der Erfahrung tieferer, sinnstiftender Beziehungen.

Fromms These, dass die moderne Gesellschaft durch die Dominanz des „Habens“ eine tiefe existenzielle Krise durchlebt, bietet eine inspirierende Grundlage für eine umfassende Kritik an Konsumismus, Materialismus und der Entfremdung des Individuums. Seine Arbeit zeigt, dass wahres Glück und menschliches Wachstum nicht aus Besitz, sondern aus einem erfüllten Leben hervorgehen, das sich auf den inneren Sinn konzentriert.

Fromm als Herausforderung zur Kritik

Gleichzeitig lädt Fromms Perspektive auf „Haben“ und „Sein“ auch zur Herausforderung und Weiterentwicklung ein:

Komplexität der Beziehung zwischen Haben und Sein: Fromm neigt in seiner Analyse dazu, „Haben“ als eher negativ darzustellen, während „Sein“ fast ausschließlich positiv bewertet wird. Dies kann zu einer Vereinseitigung führen, da „Haben“ in vielen Fällen auch Voraussetzung für „Sein“ sein kann. Zum Beispiel kann der Besitz von Ressourcen wie Wissen, Zeit und sogar Geld notwendig sein, um das „Sein“ zu ermöglichen. Kritik könnte an der scharfen Dichotomie geübt werden, die Fromm zwischen diesen beiden Kategorien zieht, ohne ihre wechselseitige Abhängigkeit ausreichend zu würdigen.

Pragmatische Umsetzung: Fromms Ideal einer Gesellschaft, die sich am „Sein“ orientiert, könnte als utopisch betrachtet werden, da die wirtschaftlichen und sozialen Realitäten oft den Menschen zwingen, sich um das „Haben“ zu sorgen. Eine Herausforderung könnte sein, wie man Fromms Ideen in den modernen kapitalistischen Kontext überträgt, ohne das Bedürfnis nach Sicherheit und Besitz zu negieren, das auch legitime menschliche Bedürfnisse abdeckt.

Überbetonung des Individuums: Fromm konzentriert sich stark auf das Individuum und dessen innere Entwicklung. Eine kritische Weiterentwicklung könnte die Rolle kollektiver Strukturen, sozialer Systeme und politischer Bedingungen in den Blick nehmen, die ebenfalls Einfluss auf die Dialektik von „Haben“ und „Sein“ haben. Selbstverwirklichung ist nicht nur eine persönliche Entscheidung, sondern auch an gesellschaftliche Rahmenbedingungen gebunden.

Zusammenfassung

Erich Fromm bietet mit seiner Analyse des „Habens“ und „Seins“ eine wichtige philosophische Grundlage, um die modernen Probleme von Entfremdung und Materialismus zu verstehen und zu kritisieren. Seine Ideen sind inspirierend, weil sie einen Weg zu mehr Authentizität und innerer Erfüllung weisen. Gleichzeitig fordern sie zur Kritik heraus, weil Fromms Gegenüberstellung von „Haben“ und „Sein“ in ihrer Absolutheit problematisch sein kann. Ein ausgewogener Ansatz könnte die notwendige Wechselwirkung zwischen „Haben“ und „Sein“ anerkennen und den gesellschaftlichen Kontext stärker berücksichtigen.

Andere bedeutende Theoretiker zum Thema “Haben und Sein”

Mehrere Theoretiker und Philosophen haben sich mit den Konzepten von “Haben” und “Sein” auseinandergesetzt, entweder direkt oder in Bezug auf verwandte Themen wie Besitz, Identität und Selbstverwirklichung. Einige der wichtigsten Denker, die auf diese Ideen eingegangen sind, sind:

Karl Marx

Haben und Sein im Kapitalismus: Marx hat sich zwar nicht explizit in diesen Begriffen geäußert, aber seine Analyse des Kapitalismus beschäftigt sich stark mit der Entfremdung und der Frage, wie Besitz und materielle Güter die menschliche Existenz prägen. In seinen Schriften, insbesondere im Konzept der Entfremdung, wird deutlich, dass das Streben nach „Haben“ (vor allem in Form von Kapital) zur Entfremdung des Arbeiters führt, weil er in einem System lebt, das den Besitz von Produktionsmitteln über das menschliche „Sein“ stellt. Der Mensch wird zu einem Anhängsel der Maschine und verliert die Möglichkeit, sich im kreativen „Sein“ zu verwirklichen.

Jean-Paul Sartre

Existenzialismus und das Sein: Sartre unterscheidet klar zwischen „Sein“ und „Haben“ im Rahmen seines existenzialistischen Ansatzes. Für ihn ist der Mensch zur Freiheit verdammt, das eigene „Sein“ durch Entscheidungen und Handlungen zu formen. „Sein“ bedeutet hier, authentisch zu leben und die eigene Existenz aktiv zu gestalten. Im Gegensatz dazu kann das Streben nach „Haben“ eine Form der Selbstverleugnung sein, weil es den Menschen in die Falle des Konsums und der Fremdbestimmung lockt.

Sartre stellt fest, dass Besitz oft als Versuch gesehen wird, das „Nichts“ des eigenen Wesens zu füllen, anstatt sich der Unsicherheit und Freiheit des „Seins“ zu stellen.

Martin Heidegger

Sein und Zeit: Heideggers fundamentales Werk “Sein und Zeit” untersucht das Wesen des menschlichen „Seins“ in der Welt. Er betont, dass der Mensch in seiner Existenz (Dasein) eine aktive Rolle in der Entfaltung seines „Seins“ hat. In diesem Kontext wird „Haben“ in gewisser Weise als eine Abkehr von authentischem „Sein“ betrachtet, wenn es den Menschen dazu verleitet, sich mit Dingen zu identifizieren, statt sein eigenes „Sein“ in der Zeit zu erkennen und zu akzeptieren. Heidegger spricht auch über die „Geworfenheit“ des Menschen in die Welt und den Umgang mit der Angst vor dem Nichts, was ihn ebenfalls auf den Unterschied zwischen authentischem und unechtem Sein aufmerksam macht.

Simone de Beauvoir

Sein und Anderen-sein: In “Das andere Geschlecht” untersucht de Beauvoir, wie Frauen in patriarchalen Gesellschaften oft als das „Andere“ definiert werden und in dieser Rolle Schwierigkeiten haben, ihr eigenes authentisches „Sein“ zu verwirklichen. Ihr Fokus liegt darauf, wie gesellschaftliche Strukturen die Menschen (insbesondere Frauen) dazu zwingen, eine Rolle des „Habens“ oder des „Besitzes“ einzunehmen, anstatt ihre eigenen Möglichkeiten des „Seins“ zu erkunden.

Sie hinterfragt, wie soziale und geschlechtsspezifische Erwartungen das wahre Sein einschränken können, indem sie Menschen zu Objekten im Besitz anderer machen.

Herbert Marcuse

Konsumismus und falsches Bewusstsein: In “Der eindimensionale Mensch” kritisiert Marcuse die Konsumgesellschaft dafür, dass sie Menschen dazu verleitet, Glück im „Haben“ zu suchen, indem sie Konsumgüter anhäufen, anstatt authentische Bedürfnisse zu befriedigen und sich im „Sein“ zu verwirklichen. Er sieht die Industriegesellschaft als Hauptursache für die Entfremdung, die durch das Streben nach materiellen Gütern und falschen Bedürfnissen verstärkt wird. Das wahre „Sein“ wird durch das „Haben“ und die Konsumkultur verdrängt.

Gilles Deleuze und Félix Guattari

Desiring Machines und Kapitalismus: In “Anti-Ödipus” analysieren Deleuze und Guattari das Konzept der Begierde im Kapitalismus. Sie beschreiben, wie der Kapitalismus Wünsche und Begehren produziert, die den Menschen dazu treiben, immer mehr zu besitzen („Haben“), ohne dass dies zu einer wirklichen Selbstverwirklichung führt. Menschen werden zu „Desiring Machines“, die ständig nach mehr streben, ohne jemals das wahre „Sein“ zu erfahren.

Sie kritisieren, dass der Kapitalismus das menschliche Begehren so formt, dass es immer mehr „Haben“ verlangt, während die Möglichkeit des authentischen „Seins“ unterdrückt wird.

Alfred Adler

Individuelle Psychologie und Machtstreben: Adler, als Begründer der Individualpsychologie, sprach nicht direkt von „Haben“ und „Sein“, beschäftigte sich jedoch mit der Frage, wie Menschen nach Macht, Einfluss und Anerkennung (also „Haben“) streben, um sich über andere zu erheben. Er betonte die Wichtigkeit der sozialen Verbundenheit und Selbstverwirklichung, die eher dem „Sein“ entsprechen. Menschen, die nur Macht oder Besitz anstreben, neigen laut Adler zu einem Minderwertigkeitskomplex, weil sie versuchen, ihre innere Unsicherheit durch äußere Dinge zu kompensieren.

Max Scheler

Scheler war ein Philosophie der Werte und der Liebe: In Schelers Wertphilosophie wird das „Sein“ als höherer Wert betrachtet im Vergleich zum bloßen „Haben“. Er betont, dass das Wesen des Menschen in der Liebe und dem Streben nach höheren Werten liegt, nicht im Besitz von materiellen Dingen. Die Liebe ist für Scheler eine Bewegung hin zum „Sein“, zur Anerkennung des anderen in seinem Wesen, und nicht auf das „Haben“ und die Kontrolle über andere fokussiert.

Zusammenfassung

Die Dialektik von „Haben“ und „Sein“ wurde von einer Vielzahl von Theoretikern aufgegriffen, wobei viele von ihnen das übermäßige Streben nach „Haben“ kritisch betrachten. Sie betonen, dass wahres menschliches Wachstum, Freiheit und Selbstverwirklichung nur im „Sein“ möglich sind. Gleichzeitig bleibt die Frage offen, inwieweit ein ausgewogenes Verhältnis zwischen „Haben“ und „Sein“ möglich und wünschenswert ist, da sowohl materielle als auch immaterielle Aspekte für das menschliche Leben bedeutsam sind.

Aus der Dialektik von Haben und Sein entsteht das “Werden” als erweitertes Konzept der Selbstverwirklichung

Die Dialektik von „Haben“ und „Sein“ kann als Ausgangspunkt für eine dynamische Vorstellung des „Werdens“ verstanden werden, bei der das statische Verständnis von „Sein“ überwunden wird und das Leben als fortlaufender Prozess begriffen wird. Im Folgenden wird dargestellt, wie das „Werden“ aus der Wechselbeziehung von „Haben“ und „Sein“ hervorgehen kann und wie dadurch eine prozessuale Sichtweise das „Sein“ als etwas Lebendiges, Veränderliches und Funktionales beschreibt.

Von der Dichotomie zur Synthese: „Werden“ als dynamisches Gleichgewicht

In der Dialektik von „Haben“ und „Sein“ kann „Werden“ als der Prozess verstanden werden, der die beiden Pole integriert und überwindet. Während „Haben“ sich auf den Besitz von Gütern, Fähigkeiten oder Ressourcen bezieht und „Sein“ die authentische Existenz, das „Werden“ die ständige Bewegung hin zu Selbstverwirklichung und Wachstum symbolisiert. Es ist weder das bloße Ansammeln von Gütern noch das starre Verharren in einem festen Zustand des „Seins“. Vielmehr drückt „Werden“ die ständige Entwicklung und Transformation aus, in der der Mensch durch den Gebrauch dessen, was er „hat“, sich kontinuierlich im „Sein“ erneuert.

Anstatt das „Sein“ als festen Endzustand zu sehen, wird im „Werden“ deutlich, dass das „Sein“ ständig in einem Prozess der Veränderung begriffen ist. Dies bedeutet, dass sowohl das „Haben“ als auch das „Sein“ nicht als statische Zustände verstanden werden können, sondern dass sie sich durch ständige Veränderung und Entwicklung im Lebensprozess wandeln.

Das „Sein“ als Funktion im Prozess des Lebens

Die prozessuale Sichtweise des „Werdens“ löst das statische Verständnis des „Seins“ auf, indem sie das „Sein“ als eine Funktion in einem dynamischen Kontext des Lebens betrachtet. Funktionen sind nicht starre Strukturen, sondern Bewegungen und Aktivitäten, die den Menschen im ständigen Austausch mit seiner Umwelt und seinen eigenen Möglichkeiten sehen. Das „Sein“ wird damit zu einem kontinuierlichen Prozess der Verwirklichung, in dem der Mensch sein „Haben“ nutzt, um sein „Sein“ in ständiger Interaktion mit der Welt zu gestalten.

Beispiel: Ein Musiker hat ein Instrument (Haben) und das Potenzial, Musik zu schaffen (Sein). Doch erst im Prozess des Spielens und Übens entfaltet sich das „Werden“: die kontinuierliche Transformation, in der sich sein Können, seine Kreativität und seine musikalische Ausdrucksfähigkeit entwickeln. Dieser Prozess des „Werdens“ durchläuft ständige Veränderungen und ist nie abgeschlossen.

„Werden“ als Überwindung der statischen Vorstellung von „Sein“

Ein statisches Verständnis von „Sein“ suggeriert, dass es einen festen Zustand gibt, den der Mensch erreichen muss, um vollständig zu sein. Im Gegensatz dazu begreift die Idee des „Werdens“ das Leben als einen dynamischen Prozess, in dem es kein festgelegtes Ziel gibt, sondern das Leben selbst als kontinuierliche Bewegung und Veränderung erfahren wird. In dieser Sichtweise wird das „Sein“ nicht als unveränderlicher Endpunkt definiert, sondern als etwas, das im Fluss des Lebens stets neu entsteht und sich wandelt.

Indem der Mensch sein „Haben“ (seine materiellen und immateriellen Ressourcen) im Sinne des „Seins“ gebraucht, transformiert er sich ständig und erfährt sein „Werden“. Dies könnte als ein prozessuales „Sein“ beschrieben werden, bei dem sich der Mensch nicht in einer festen Struktur verankert, sondern im fortwährenden Wandel lebt und seine Existenz immer wieder neu erschafft.

Das „Werden“ als ständige Transformation des Selbst

Das „Werden“ impliziert, dass der Mensch niemals in einem festen Zustand des „Seins“ verbleibt, sondern dass das Leben durch seine Dynamik geprägt ist. In dieser Dynamik findet eine ständige Auseinandersetzung zwischen dem, was man hat (Haben), und dem, was man ist oder sein könnte (Sein), statt. Diese Auseinandersetzung führt zu einer ständigen Bewegung hin zu neuen Möglichkeiten, Zielen und Formen des Selbst.

Die Vorstellung vom „Werden“ ist daher eng mit der Kreativität und dem offenen Potenzial des Lebens verbunden. Menschen nutzen das, was sie haben (ihre Fähigkeiten, Ressourcen, sozialen Verbindungen), um sich auf eine Weise zu entwickeln, die nie vollständig abgeschlossen ist. Das „Werden“ impliziert also eine Offenheit gegenüber dem Unbekannten und Neuen, in dem der Mensch seine Identität und sein Selbst immer wieder neu formt und verändert.

Funktionen des Lebens als fließende Prozesse

Das Verständnis von „Sein“ als Funktion im „Werden“ bedeutet, dass menschliche Identität und Existenz nicht als festgelegte „Dinge“ existieren, sondern als fließende Prozesse. In einem prozessualen Rahmen bedeutet dies, dass sich das „Sein“ des Menschen nicht auf eine Struktur reduzieren lässt, sondern in verschiedenen Funktionen zum Ausdruck kommt – in den Beziehungen, in der Arbeit, in der Kreativität, in der Liebe. Jede dieser Funktionen ist nicht statisch, sondern verändert sich mit den Umständen und der Entwicklung des Menschen.

Ein Beispiel wäre ein Lehrer, dessen „Haben“ seine Kenntnisse und Fähigkeiten sind. Doch diese Ressourcen allein sind nicht entscheidend. Im Prozess des Lehrens, der Interaktion mit Schülern und dem ständigen Lernen entwickelt sich das „Werden“ dieses Lehrers: Er passt sich an, entwickelt neue Methoden und transformiert seine Identität als Lehrer durch jede Erfahrung.

Das „Werden“ in der Verbindung mit der Welt

Im „Werden“ ist der Mensch nicht nur auf sich selbst zurückgeworfen, sondern er ist in ständiger Beziehung zur Welt und anderen Menschen. Dies bedeutet, dass das „Sein“ als Funktion nur im Austausch und in der Interaktion verstanden werden kann. Der Mensch wird nicht durch isolierte innere Prozesse, sondern durch das Zusammenspiel mit seiner Umwelt, seiner Gemeinschaft und den Möglichkeiten, die sich ihm bieten.

Diese Perspektive sieht das „Sein“ als eine Funktion in einem Netzwerk von Beziehungen und Prozessen, in denen der Mensch sich ständig neu definiert und verändert. Hier liegt der Fokus auf der Dynamik des „Werdens“, das durch das Wechselspiel von inneren Potenzialen und äußeren Einflüssen gestaltet wird.

„Werden“ als Synthese und Überwindung der Stagnation

Die Dialektik von „Haben“ und „Sein“ führt im „Werden“ zu einer Synthese, die das starre Verständnis von „Sein“ auflöst. Das Leben wird als kontinuierlicher Prozess der Veränderung und Selbstverwirklichung begriffen, in dem das „Haben“ dynamisch eingesetzt wird, um das „Sein“ in einem offenen Prozess zu entfalten. Damit wird das „Sein“ als statische Struktur überwunden und als Funktion innerhalb eines prozesshaften Lebens verstanden.

Zusammenfassung

Der Beitrag “Haben und Sein – zwischen Selbstverwirklichung und Trivialisierung” untersucht die Spannung zwischen materiellem Besitz (“Haben”) und dem Streben nach authentischem Sein (“Sein”). Er kritisiert die moderne Tendenz zur Trivialisierung der Selbstverwirklichung zugunsten von oberflächlichen Errungenschaften und Konsumdenken. Es geht darum, dass durch die Entfaltung dieser Dialektik “Haben und Sein” eine echte Erfüllung aus tieferem persönlichem Wachstum und bedeutungsvollen Erfahrungen mit den kreativen Aspekten des Habens resultieren kann und nicht allein aus der Anhäufung von Talenten, Kompetenzen, Reichtum oder Status. Die Selbstverwirklichung setzt die kreative Entfaltung dieser Dialektik voraus und ist selbst ihr Ausdruck. Aus der Dialektik von Haben und Sein eröffnet sich schließlich eine Dimension des “Werdens”, die Aspekte der Selbstverwirklichung umfasst aber über diese hinausweist.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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