Platon und Freud
Zu den Lebensdaten: Platon lebte von 428 bis 348 v. Chr. Sigmund Freud lebte von 1856 bis 1939. Platos Konzept der dreiteiligen Seele und Freuds Instanzenmodell (1923) weisen interessante Parallelen auf, auch wenn sie in unterschiedlichen historischen und theoretischen Kontexten entstanden sind. Beide Theorien versuchen, die komplexe Natur des menschlichen Geistes und der Motivation zu erklären, allerdings mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten und Schwerpunkten.
Die begehrende Seele (ἐπιθυμητικόν, Epithymetikon) und das Es
Die „begehrende Seele“ ist der Teil der Seele nach Platon, der für körperliche Bedürfnisse, Triebe und Begierden verantwortlich ist. Sie strebt nach Lust und Befriedigung materieller Bedürfnisse, wie Nahrung, Sexualität und andere sinnliche Genüsse.
Das Es repräsentiert nach Freud den unbewussten Teil der Psyche, der von grundlegenden Trieben und Bedürfnissen wie Sexualität (Libido) und Aggression bestimmt wird. Es arbeitet nach dem Lustprinzip und sucht unmittelbare Befriedigung.
Die „begehrende Seele“ bei Platon und das Es bei Freud teilen die Eigenschaft, die basalen, triebhaften Aspekte des menschlichen Verhaltens zu repräsentieren. Beide streben nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung.
Die leidenschaftliche Seele (θυμοειδές, Thymoeides) und das Ich
Die „leidenschaftliche Seele“ ist der Teil der Seele nach Platon, der mit Emotionen wie Ehre, Zorn und Mut verbunden ist. Sie steht zwischen der begehrenden Seele und der Vernunftseele und ist oft in Konflikte verwickelt, wenn sie versucht, die Bedürfnisse der begehrenden Seele zu kontrollieren.
Das Ich nach Freud vermittelt zwischen den Forderungen des Es, den Anforderungen der Außenwelt und den moralischen Ansprüchen des Über-Ichs. Es arbeitet nach dem Realitätsprinzip, indem es versucht, die Bedürfnisse des Es in einer sozial akzeptablen Weise zu befriedigen.
Die „leidenschaftliche Seele“ nach Platon und das Ich nach Freud sind beide Vermittler, die die Impulse und Triebe kontrollieren und in Einklang mit äußeren oder inneren Anforderungen bringen. Während das Ich jedoch eher rational und realitätsorientiert ist, hat die leidenschaftliche Seele Platons eine emotionale und moralische Dimension.
Die Vernunftseele (λογιστικόν, Logistikon) und das Über-Ich
Die „Vernunftseele“ ist der rationalste und edelste Teil der Seele nach Platon. Sie strebt nach Wissen, Wahrheit und dem Guten. Ihre Aufgabe ist es, die anderen Teile der Seele zu lenken und zu kontrollieren, um ein harmonisches und tugendhaftes Leben zu führen.
Das Über-Ich repräsentiert nach Freud das moralische Gewissen und die internalisierten gesellschaftlichen und elterlichen Werte. Es steht für das Streben nach ethischen Idealen und versucht, das Ich und das Es zu zügeln, indem es moralische Kräfte ins Spiel bringt und die Beachtung ethischer Maßstäbe zu erzwingen versucht. Der neurotische Mensch ist nach Freud der gebildete Mensch, der unter der Bürde der Zivilisation und unter einer zu starken Unterdrückung der Triebe krank geworden ist.
Die „Vernunftseele“ bei Platon und das Über-Ich bei Freud haben beide eine normative, kontrollierende Funktion, die auf höheren Werten und Idealen basiert. Sie streben danach, das Verhalten in Einklang mit diesen Idealen zu bringen.
Zum Vergleich von Freuds und Platons Konstrukten der Seele
Platos drei Aspekte der Seele und Freuds Instanzenmodell weisen eine auffällige strukturelle triadische Ähnlichkeit auf, auch wenn sie in ihrem jeweiligen philosophischen und psychologischen Kontext unterschiedlich akzentuiert sind. Beide Modelle teilen die Idee einer inneren triadischen Vielfalt und eines dynamischen Spannungsverhältnisses zwischen verschiedenen Teilen der menschlichen Psyche. Während Freud aus dem Spannungsverhältnis innerhalb des Instanzenmodells wesentliche Erkenntnisse für seine Neurosenlehre ableitet, so beschreibt Platon seine Dreiteilung der Seele in seinem Werk „Der Staat“. Denn diese dreiteilige Struktur der Seele bei Platon dient ihm auch als Grundlage für seine politische Philosophie, in der er die ideale Stadt als eine Analogie zur Seele beschreibt, wobei jeder Teil der Seele einer bestimmten Klasse in der Gesellschaft entspricht: Die Philosophen repräsentieren dabei die Vernunft, die Wächter, eine Art von Sittenpolizei, den Mut und die Arbeiter die Begierden.
Die dualistischen Konzepte der Seele bei Schopenhauer und Nietzsche
Arthur Schopenhauer (1788-1860) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) haben in ihrer Philosophie ebenfalls Konzepte entwickelt, die die menschliche Psyche in unterschiedliche Teile untergliedern. Während sie sich in vielerlei Hinsicht von Platon und Freud unterscheiden, gibt es dennoch interessante Parallelen und Kontraste, die man im Zusammenhang mit den zuvor besprochenen Modellen betrachten kann.
Schopenhauer: Wille und Vorstellung
Schopenhauer teilt die Welt und das menschliche Leben in zwei grundlegende Prinzipien: den Willen und die Vorstellung.
Der Wille ist für Schopenhauer die treibende Kraft hinter allem Leben und Handeln. Es handelt sich um ein blindes, irrationales Streben, das sich in den grundlegenden Instinkten, Trieben und Wünschen manifestiert. Der Wille ist bei Schopenhauer mit dem Es bei Freud und der begehrenden Seele bei Platon vergleichbar, da er die Triebe und grundlegenden Bedürfnisse des Menschen repräsentiert.
Die Vorstellung (auch als Intellekt bezeichnet) umfasst die rationalen und kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Sie ist das bewusste Denken und Wahrnehmen, das die Welt als Vorstellung und nicht als Ding an sich wahrnimmt. Hier gibt es Parallelen zur Vernunftseele bei Platon und zum Über-Ich bei Freud, da die Vorstellung versucht, die Welt durch rationales Denken zu ordnen.
Schopenhauers Dichotomie zwischen Wille und Vorstellung kann als eine radikale Vereinfachung der früheren platonischen und späteren freudianischen Modelle gesehen werden. Während Platon und Freud drei Aspekte der Seele unterscheiden, fasst Schopenhauer die triebhaften und rationalen Anteile in einem dualistischen Modell, das aus zwei Prinzipien besteht, zusammen.
Nietzsche: Apollinisches und Dionysisches Prinzip
Nietzsche unterscheidet in seiner Philosophie, insbesondere in Die Geburt der Tragödie, zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Prinzipien des Lebens und der Kultur: dem Apollinischen und dem Dionysischen. Beide Prinzipien sind von den Göttern Apollon, dem Sonnengott, und Dionysos, dem Gott des Theaters, abgeleitet. Nietzsche sieht im rauschhaft vitalen Dionysischen und dem ästhetisch kontemplativen Apollinische die beiden Grundprinzipien menschlicher Existenz.
Das Apollinische Prinzip steht für geistige Ordnung, Form, Maß und die schöpferische Kraft der Vernunft. Es repräsentiert die Seite des Lebens, die nach Struktur, Kontrolle und Klarheit strebt. Das Apollinische ist dem Über-Ich bei Freud und der Vernunftseele bei Platon ähnlich, da es den Aspekt der Kontrolle und Ordnung symbolisiert.
Das Dionysische Prinzip repräsentiert das Chaotische, das Triebhafte, die Freude und Ausgelassenheit, die Ekstase und die Auflösung individueller Grenzen. Es steht für das Leben in seiner wildesten und unkontrollierten Form, das sich in Trieben, Leidenschaften und irrationalem Verhalten manifestiert. Das Fest des Dionysos wurde in Rom in Gestalt der Bacchanalien, einer Vorform des Karnevals, gefeiert. Es erinnert an das Es bei Freud und die begehrende Seele bei Platon, da es die ungezügelten, instinktiven Kräfte symbolisiert.
Nietzsche bietet mit seinem Konzept des Apollinischen und Dionysischen eine dualistische Interpretation der menschlichen Natur, die Elemente von Platon aufgreift und das Instanzenmodell Freuds teilweise vorwegnimmt, aber auch über beide hinausgeht. Während Platon und Freud auf eine harmonische Integration und Balance der Teile der Seele zielen, betont Nietzsche die produktive Spannung und den starken antagonistischen Konflikt zwischen diesen beiden Prinzipien. Für Nietzsche ist die Polarität dieser Kräfte nicht nur eine Quelle der inneren Spannung im bürgerlichen Leben der einzelnen, sondern auch noch darüber hinaus eine Quelle der künstlerischen und kulturellen Schöpfung von Intellektuellen und Künstlern in einem größeren Kontext.
Die Modelle von Schopenhauer und Nietzsche
Schopenhauer und Nietzsche bieten jeweils dualistische Modelle der menschlichen Psyche, die teilweise Parallelen zu Platon und Freud aufweisen, aber auch Unterschiede enthalten. Schopenhauer reduziert die menschliche Natur auf den Konflikt zwischen irrationalen Trieben (Wille) und rationalem Denken (Vorstellung), während Nietzsche die Dynamik zwischen dem apollinischen Streben nach Ordnung und dem dionysischen Drang nach Ekstase und Auflösung hervorhebt. Beide bieten damit Alternativen und Ergänzungen zu den platonischen und freudianischen Modellen, indem sie unterschiedliche Aspekte der menschlichen Natur und ihrer inneren Konflikte beleuchten.
Zusammenfassung
In allen vier Fällen handelt es sich um Modelle der Seele, die Allgemeingültigkeit beanspruchen. Dennoch darf vermutet werden, dass alle vier Modelle nur zu sehr den individuellen Erfahrungen ihrer jeweiligen Schöpfer entsprechen und insofern unterschiedliche Paradigmen repräsentieren. Bei Platon sticht hervor, dass er sich vor allem als leidenschaftlich politisch denkender Mensch verstand, der sich über viele Jahre mit Überlegungen zu einem idealen Staat beschäftigte und ein engagierter Politikberater war. Freud hingegen war ein rational denkender Wissenschaftler, dessen rational funktionierendes Ich mehr Vermittlungscharakter hat zwischen mächtigeren Protagonisten des Trieblebens, der Moralität und der Außenwelt wie ein bescheidener Wissenschaftsorganisator im Getriebe gesellschaftlicher Akteure der Macht.
Schopenhauers Dichotomie entspricht einem skeptischen Weltbild, das dem Menschen vor allem unterstellt, schönen Vorstellungen hinterher zu jagen, die aber seinen eigenen triebhaften Willensbestrebungen gar nicht entsprechen. Der Mensch bei Schopenhauer ist ein tragischer, resignierter Mensch, der zwar einen Willen hat, aber nicht wirklich wollen kann, was er will. Nietzsches Dualismus dagegen ist ganz aus der Erfahrung der künstlerischen Produktion heraus gedacht. Aus dem Erleben des Aufeinanderprallens von ungezügelten kreativen Impulsen und der Herausforderung zu deren Gestaltung und Formgebung in einem geistigen Sinne.
Insofern die Paradigmen dieser Modelle jeweils vier sehr verschiedene Menschentypen beschreiben, den politisch engagierten Spindoktor, den mal etwas vorsichtiger mal ein bisschen mutiger agierenden Wissenschaftler, den skeptischen, resignativen Misanthropen und den furiosen, am Wahnsinn zugrunde gehenden Künstler, sind sie zwar formal miteinander vergleichbar, müssen aber vor allem in ihren Unterschieden als Ausdruck des jeweiligen Erfahrungshintergrundes ihrer Urheber verstanden und eingeordnet werden.
Danach bemisst sich auch ihre Anwendbarkeit im psychotherapeutischen Kontext. Wenn sich jemand in eher banalen Lebenszusammenhängen bewegt, wird man kaum das Modell Nietzsches zur Anwendung bringen können. Ebenso setzt das Modell Freuds einen differenzierten Menschen voraus, der eine umfassende akademische Bildung im klassischen Sinne absolviert hat. Das Modell Platons passt vermutlich am besten zu modernen politischen Aktivisten und ist insofern paradoxerweise das modernste. Nietzsches Modell ist vielleicht überzeitlich gültig, hat aber wohl nur eine Bedeutung für Ausnahmekünstler-Persönlichkeiten wie Mozart, Goethe, Picasso, Turner, Monet, Beethoven oder Wagner und kann auf einen unkreativen konsumierenden Durchschnittsmenschen kaum angewendet werden.
Es ist aber auch sehr daran zu zweifeln, ob dem heutigen Menschen in der Konsumgesellschaft überhaupt noch der Begriff einer Seele angemessen ist oder ob nicht die jetzt lebenden Individuen eher nach Bewegungsmanagement in Form von Yoga oder Gefühlsmanagement in Form von Achtsamkeitsübungen, und Beziehungsmanagment in Form von systemischen Rollenspielen, sowie Denkmanagement in Form von kognitiver Umstrukturierung verlangen. Wenn das so wäre, würden diese Menschen der Gegenwart ein Konzept der Seele, sei es von Freud; Plato oder Nietzsche vielleicht gar nicht mehr verstehen. Moderne Dienstleister nehmen dann das in ihre Angebotspalette auf, was aktuell noch oder wieder nachgefragt wird.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht