Film – Vom Ende einer Geschichte

Der Titel des Films „Vom Ende einer Geschichte“ könnte auch lauten: „Vom Ende der Neuzeit“. Denn das Geschlechterverhältnis in einem weiten Bogen gespannt von Beginn bis zum Ende der Neuzeit, unserer Gegenwart, steht hier auf dem Prüfstand.
Wenn Heinrich VIII, auf den im Film bezug genommen wird, als ein markanter männlicher Vertreter vom Beginn der Neuzeit angesehen werden darf, so ist der Antiheld des Films Tony, dessen Leben als Erzählperspektive verwendet wird, ein Vertreter seiner Art von deren Ende. Auf der Projektionsfläche erscheinen die Frauen, von Heinrich VIII gemeuchelt, weil er meinte, unbedingt einen Sohn als Thronfolger haben zu müssen, bei Tony in scheuer Distanz bewundert aber von ihnen als Trottel verspottet. Tony ist der lustige Kauz, der gerne komisch sein möchte, dessen Scherze aber irgendwie angestrengt und läppisch wirken. Frauen gegenüber möchte er als hilfreiche Gestalt auftreten, kommt aber mit ihnen, trotz seiner Bemühungen als Frauenversteher nicht wirklich klar. Er meint, sich schließlich per Scheidung vor seiner letzten Frau Margaret in Sicherheit gebracht zu haben, vor einer intellektuell scharfsinnigen und unerbittlichen Ex-Frau, an der er aber doch immer noch hängt, wie ein Muttersöhnchen, dass ohne den guten Rat seiner Mutter nicht klarkommen kann. Im Grunde hat er nie verstanden, warum sie von ihm weggelaufen ist. Sie hält es auch für aussichtslos, ihm das erklären zu können.
Die Herausforderung an die Zuschauer: der Film, der auf dem gleichnamigen Roman von Julian Barnes basiert (engl. The Sense of an Ending, 2011) und unter der Regie von Ritesh Batra im Jahr 2017 entstand, handelt das gegenwärtige Elend des Geschlechterverhältnisses auf mythischer Ebene ab. Was sich anbietet bei einem Muttersöhnchen: Es wird ausgiebig Bezug genommen auf Sophokles‘ König Ödipus und dessen Verstrickung in die Aufklärung eines Verbrechens und damit in die Problematisierung von aufklärerischer Erkenntnis überhaupt, an dessen Ende bekanntlich seine Selbstblendung und sein Angewiesensein auf seine Tochter Antigone stand. Ironischerweise ist es im Film aber Margaret, Tonys Ex-Frau, die mit den Insignien des Ödipus auftritt, einem geschwollenem Fuß – und damit eine Anspielung auf die Bedeutung des Namens „Ödipus“ versinnbildlichend – und deshalb über weite Strecken durch den Film humpeln muss. Antigone wird verkörpert durch Tonys Tochter Susie, die mit fast 40 und am Ende unübersichtlicher Männerbeziehungen beschlossen hat, irgendwie „allein“ schwanger zu werden. Im Geburtsvorbereitungskurs, in den sie von Vater Tony begleitet wird, findet sie sich dann in vertrauter Gemeinschaft mit künstlich befruchteten lesbischen Frauen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis kulturhistorisch zumindest erst einmal. Während Heinrich VIII noch meinte, die Frauen in gebärtechnischer Hinsicht wie selbstverständlich austauschen zu müssen, wird am Ende der Neuzeit männlicher Samen zur Arterhaltung gebärtechnisch wie selbstverständlich austauschbar verwendet. Der Rückbezug auf Sophokles Geschichte von König Ödipus dient im Film erst einmal dazu, die vermeintliche Unordnung einer Gesellschaft mithilfe des ödipalen Dramas besser verstehen zu können. Denn die moderne Antigone-Susie ist ganz Tochter ihrer Mutter, von der sie emotional abhängig erscheint. Mutter und Tochter bilden das eigentliche Paar in der Familie. In der Sprache der Psychoanalyse: sie illustrieren das Modell des negativen ödipalen Dramas. Tony als ausgeschlossener Dritter dagegen darf bestenfalls die vielbeschäftigte Mutter vertreten, er ist eine geduldete und belächelte Randfigur der Familie, die man nicht respektieren kann und die von der Tochter immer wieder despektierlich als Griesgram abqualifiziert wird, obwohl er sich krampfhaft darum bemüht, alles durch seinen angestrengten Humor aufzulockern.
Aber wenn schon Anspielungen auf Sophokles‘ Drama für die Erzählperspektive verwendet werden, warum nicht auch das Motiv der Katastrophe und der dramatischen Verwicklung, ohne die kein ernsthafter Stoff auskommen kann? Diese bricht vermeintlich über Tony Stück für Stück herein und sie beginnt damit, als er erfährt, dass Sarah, die Mutter seiner Jugendliebe Veronica, ihm das Tagebuch seiner männlichen Jugendliebe Adrian vermacht hat. Diese Vorgänge, auf die damit angespielt werden, liegen für Tony Jahrzehnte zurück und er hat sie längst vergessen oder besser gesagt verdrängt. Denn schon bald wird deutlich: Tonys Beschäftigung mit reperaturbedürftigen Leica-Kameras, „den besten, die jemals gebaut wurden“, geht zurück auf Veronica, die mit einer Leica ausgestattet war und Tony sogar seine erste Leica schenkte. Auf hunderten von Fotos hatte Tony damals als junger Mann seine weibliche Jugendliebe verewigt, diese Fotos dann jedoch alle vernichtet als er in traumatischer Weise erfahren musste, dass ausgerechnet seine weibliche und seine männliche Jugendliebe ein Paar geworden waren und ihn von deren vermeintlichem Glück ausschlossen. Im ersten Anlauf wollte Tony darauf etwas sarkastisch mit einem „Viel Glück, macht mir gar nichts.“ antworten, dann aber packte ihn die Wut und er verflucht die beiden und wünscht ihnen ewige Reue in Gestalt eines noch zu zeugenden und zu gebärenden Kindes. Leider hat Tony sowohl den Grund seiner Leidenschaft für Leicas als auch diesen Wut-Brief vergessen.
Die Un-Kultur des Vergessens wird im Film im Zusammenhang gebracht mit dem Unverständnis und Unwillen von Tony und seinen Mitschülern, sich während ihrer Schulzeit mit Geschichte und damit der institutionellen Erinnerung zu beschäftigen. Während die meisten Schüler sich den Bemühungen des damaligen Geschichtslehrers einfach nur ignorant verweigerten, gibt es aber auch den brillianten Adrian, ein neuer prophetisch auftretender Mitschüler, der sich in pseudo-intellektueller Manier mithilfe agnostischer Argumentation dagegen verwahrt, historische Aussagen zuzulassen, weil ja doch die Betroffenen niemals befragt werden könnten.
Auch die Beziehung Tonys zu seiner männlichen Jugendliebe wird allmählich klarer: Tony hing an Adrians Lippen. Wenn Adrian von Gedichten erzählte, beschloss Tony gleich, Lyriker zu werden oder aber zumindest erst einmal englische Literatur zu studieren. Ebenso wie sein späteres Interesse an Leicas wirkt alles bei Tony aufgesetzt, künstlich. Er ist eine personifizierte und sich selbst völlig unbewusste Copy-Cat, eine Mann ohne Eigenschaften, aber stehts bemüht, mit aufdringlichem Humor, seinen Mangel an Erlebnistiefe zu kaschieren.
Aber als Tony von der Hinterlassenschaft Sarahs erfährt, will er den Dingen wie ehemals König Ödipus auf den Grund gehen und dies um so mehr als er in Erfahrung bringt, dass die Nachlassverwalterin Sarahs, die Jugendliebe Veronica, das vermachte Tagebuch Adrians nicht an ihn herausgeben will. Das stachelt Tonys Aufklärungsobsession nur noch mehr an. Was er schließlich herausfindet, ist vielschichtig. Zum einen wird er an seinen Wut-Brief von damals erinnert und ist konsterniert, es passt nicht zu ihm als harmloser Frauenversteher, so etwas geschrieben zu haben. Dieser Brief, eine Verfluchung, ist quasi der einzige Gegenstand, der dokumentiert, dass er einmal über sich selbst hinausgewachsen war. Einmal hat er die Maske des lieben netten Jungen von Nebenan abgelegt und nur zu radikal überschießend das umgesetzt, was Veronicas Mutter ihm bei einer Begegnung versucht hatte, mit auf den Weg zu geben: Er solle Veronica nicht zu viel durchgehen lassen. Es war ihr Appell an seinen defizitären männlichen Protest, eine Aufforderung, in den Geschlechterkampf einzusteigen. Sie ahnte wahrscheinlich, dass Tony nur zu sehr geneigt war, diesen systematisch in der Rolle des „guten Onkels“ zu vermeiden. Sarah, die Mutter Veronicas, ist die alles ahnende Iokaste, die sich allerdings mit Anspielungen begnügt. Sie und ihre Familie lebten in einer mythisch-surrealen Welt, in der die Tochter Veronica eine sehr merkwürdig intime Beziehung hat zu ihrem keck-jovialen Vater, der sich eher wie ein pubertärer Witzbold aufführt und in der die verführerische Mutter Sarah, die die jungen Männer, die Veronica mit nach Hause bringt, offenbar versuchte, umstandslos flachzulegen, während Veronica selbst ihnen gegenüber die Spröde spielte. Die eigentliche weibliche Jugendliebe Tonys, das wird im Verlauf des Films deutlich, ist dann auch gar nicht mehr Veronica, sondern vielmehr deren Mutter Sarah, von deren sinnlichen Reizen Tony überwältigt war aber deren Verführungen er nicht folgen konnte.
Die eigentliche Katastrophe ereignete sich dann aber offenbar ganz ohne das Wissen Tonys. Denn als Adrian und Veronica plötzlich zu Tonys Erschrecken ein Paar wurden, verfiel eben auch alsbald Adrian den Reizen seiner quasi Schwiegermutter Iokaste-Sarah und schwängerte sie dabei sogar. Dies ist die ödipale Vermischung, in der Veronica als Kupplerin ihrer eigenen Mutter agiert und der Sohn Adrian junior als Bestrafung für die Übertretung des Inzesttabus ein geistig behindertes Leben führen muss. Das Vermächtnis Sarahs, Adrians Tagebuch, muss Tony auf die Idee bringen, dass er eigentlich gemeint gewesen sein könnte. Dass er Sarahs heimliche Liebe war über die ganzen Jahre, dass diese Iokaste sich ein Kind von ihm, Tony, gewünscht haben könnte, dass sie dann aber von Adrian bekam. Der Film erzählt davon, wie ein Mann ohne Eigenschaften, der sich als witziger Opa versucht durchs Leben zu schlagen, plötzlich mit der Wucht des archaischen Dramas konfrontiert wird und dies vor allem deshalb, weil er selbst einmal in seinem Leben sich zu einer „bösen Tat“ hatte hinreißen lassen, die ihn zu einem Teil der Verstrickungen werden ließen, die das Leben ausmachen.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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