Einleitung
Der von dem Philosophen und Kunstkritiker Walter Benjamin (1892-1940) geprägte Begriff der „Aura“ bezieht sich auf die einzigartige Präsenz eines Kunstwerks im Hier und Jetzt, einer damit verbunden unmittelbaen oder zumindest mittelbaren leiblichen Erfahrung eines Künstlers, seine Einbettung in Tradition und Geschichte und die Authentizität der unmittelbaren Erfahrung z.B. bei einem Konzertbesuch. Benjamin beschreibt die Aura als die einzigartige Erscheinung einer spezifischen ästhetischen Erfahrung. Diese ist an die Authentizität, leibliche Präsenz des Künstlers und die Unwiederholbarkeit des Erlebten gebunden. Diese Einzigartigkeit und Authentizität verleihen einem Kunstwerk seine besondere Präsenz. In der menschlichen Interaktion äußert sich die Aura in der direkten, persönlichen Begegnung und dem tiefen, unvermittelten Austausch.
In seinem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) beschreibt Benjamin, wie diese Aura durch moderne Reproduktionstechniken (Schallplatte etc.) allmählich verschwindet. Diese Überlegungen zur technisierenden Leibferne lassen sich auch auf andere Bereiche übertragen, insbesondere auf die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung der menschlichen Interaktion, wie sie z.B. auch im psychotherapeutischen Setting durch Online-Beratung und den Einsatz von Chatbots stattfindet. Dieser Beitrag untersucht, wie diese Technologien den Verlust der aureatischen Erfahrung beeinflussen können.
Digitale Psychotherapie und der Verlust der Aura
Mit dem Aufkommen der Online-Beratung und der Nutzung von Chatbots in der Psychotherapie stellt sich die Frage, inwieweit die aureatische Erfahrung des bisherigen psychotherapeutischen Settings erhalten bleibt oder verloren geht. Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte dieses Wandels analysiert.
1. Fehlen der physischen Präsenz
Ein zentraler Aspekt der auratischen Erfahrung ist die physische Präsenz. In der traditionellen Psychotherapie findet die Interaktion in einem gemeinsamen Raum statt, was eine unmittelbare, körperliche Präsenz ermöglicht. Diese physische Nähe schafft eine Atmosphäre des Vertrauens und der emotionalen Sicherheit, die in digitalen Settings schwer oder gar nicht zu reproduzieren ist.
2. Authentizität und Unmittelbarkeit
Die Authentizität der Interaktion ist ein weiterer wichtiger Faktor. In der face-to-face-Therapie kann der Therapeut durch nonverbale Signale, Mimik und Gestik eine tiefe, authentische Verbindung zu seinem Klienten aufbauen. Online-Formate und Chatbots können diese nonverbalen Aspekte nur unzureichend nachbilden, was die Authentizität der Kommunikation beeinträchtigt.
3. Technische Vermittlung und ihre Implikationen
Die technische Vermittlung durch Computer und Internetverbindungen führt zu einer Mediation, die die unmittelbare, direkte Erfahrung verfälschen kann. Die Abhängigkeit von Technologie kann zudem zu technischen Problemen führen, die den therapeutischen Prozess stören und die Kontinuität der Behandlung beeinträchtigen.
4. Neuronale Netzwerke versus menschliche Erfahrung
wenn Chatbots zum Einsatz kommen sollen, ist zu bedenken, dass die zugrunde liegende AI-Technologie auf der Verwendung tiefer neuronaler Netzwerke beruht, die mit der Methode der Korrelation Daten generieren, die sich bei Verwendung von sehr großen Datensätzen als valide erwiesen haben. Im Gegensatz dazu denken Menschen aber nicht in Form von Korrelationen sondern in Wenn-Dann-Ketten, in die persönliche Erfahrungswerte mit einfließen. Dies bedeutet, dass AI generierte Informationen immer sowohl unspezifischer als auch unkreativer sein müssen als ein optimal ausgebildeter professioneller Psychotherapeut, der über Intuition, Erfahrungswissen und eine hinreichende Kreativität verfügt. Ein Chatbot wäre also einem menschlichen Berater nur dann überlegen, wenn er ein absoluter Anfänger wäre und über keinerlei kreatives Potential verfügt.
Vorteile und Chancen der Online-Beratung
Trotz des Verlusts der aureatischen Erfahrung bietet die Online-Beratung auch zahlreiche Vorteile. Sie ermöglicht einen leichteren Zugang zu psychotherapeutischen Dienstleistungen, insbesondere für Menschen in abgelegenen Gebieten oder mit eingeschränkter Mobilität. Zudem kann sie durch die Anonymität der digitalen Kommunikation Hemmschwellen abbauen und die Bereitschaft zur Inanspruchnahme psychotherapeutischer Hilfe erhöhen.
Chatbots in der Psychotherapie
Chatbots, die auf künstlicher Intelligenz basieren, bieten ebenfalls interessante Möglichkeiten. Sie können rund um die Uhr verfügbar sein, bieten sofortige Unterstützung und können als ergänzendes Werkzeug in der Therapie eingesetzt werden. Allerdings bleibt die Frage, inwieweit sie die menschliche Wärme und das Einfühlungsvermögen eines echten Therapeuten ersetzen können. Hier besteht die Gefahr, dass die Interaktion mechanisch und unpersönlich wirkt, was die Wirksamkeit der Therapie beeinträchtigen kann.
Fazit
Der Einsatz von Online-Beratung und Chatbots in der Psychotherapie führt zweifellos zu einem Verlust der aureatischen Erfahrung im Sinne Walter Benjamins. Die physische Präsenz, die Authentizität und die unmittelbare Verbindung, die für die auratische Erfahrung charakteristisch sind, lassen sich durch digitale Technologien nur schwer aufrechterhalten. Dennoch bieten diese Technologien wertvolle Ergänzungen und Alternativen, die den Zugang zu psychotherapeutischen Dienstleistungen erweitern und verbessern können. Es bleibt eine zentrale Herausforderung, die Balance zwischen technologischen Innovationen und der Bewahrung der menschlichen Elemente der Therapie zu finden. Das Manko an mangelnder Kreativität werden Chatbots aber nie ausgleichen können.