Einleitung
Tom Tykwer greift einen alten Stoff auf, bekannt aus der Verfilmung von Mery Poppins (1964), in dem eine mit magischen Fähigkeiten begabte Haushälterin eine Familie in ihren Krisen begleitet. In diesem psychoanalytischen Beitrag soll auf Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Filme hingewiesen werden.
„Mary Poppins“ und „Das Licht“ – Märchenhafte Magie im Wandel der Zeit
Magische Figuren, die in das Leben einer orientierungslosen Familie treten, musikalische Elemente zur emotionalen Untermalung, eine episodisch-märchenhafte Erzählweise – all dies verbindet den Klassiker Mary Poppins (1964) mit dem aktuellen Film Das Licht (2025). Auf den ersten Blick wirken beide Werke grundverschieden: der eine ein bunter Disney-Film mit tanzenden Schornsteinfegern, der andere ein visuell teilweise verstörendes, buntes Potpourrie, aus Themen und Clichees der Gegenwart. Und doch lässt sich Das Licht als moderne Fortschreibung des Stoffes von Mary Poppins lesen – angepasst an die gesellschaftlichen Herausforderungen und ästhetischen Erwartungen der heutigen Zeit.
Magie als heilende Kraft
Sowohl Mary Poppins als auch Das Licht stellen magische Wesen ins Zentrum, die scheinbar aus dem Nichts auftauchen und tiefgreifende Veränderungen anstoßen. Bei Mary Poppins ist es die geheimnisvolle Nanny mit fliegendem Regenschirm, die die erstarrten Strukturen der Familie Banks aufbricht. In Das Licht hingegen erscheint eine nicht klar fassbare Lichtgestalt, die wortlos, aber wirkungsvoll die emotionale Distanz innerhalb einer Familie oder Gemeinschaft überwindet. In beiden Fällen steht die märchenhafte Intervention außerhalb der Alltagslogik und schafft einen Raum der Verwandlung.
Dabei bedienen sich beide Filme einer episodischen Erzählweise, in der die Figuren durch eine Reihe von fantastischen Ereignissen geführt werden. Diese episodischen Stationen dienen nicht nur der Unterhaltung, sondern auch der inneren Entwicklung – insbesondere der Kinder, aber auch der Erwachsenen, die durch die Begegnung mit dem Fantastischen wieder zu sich selbst finden. Tykwer verwendet dabei eine Erzählstruktur, die in Ihrer Kombination von Groteke und Surealem stark an die Erzählweisen Kafkas erinnert
Musik als transzendierendes Element
Ein weiteres zentrales Verbindungsglied ist der Einsatz von Musik. In Mary Poppins fungiert Musik als direkter Träger von Handlung und Botschaft: Lieder wie „A Spoonful of Sugar“ oder „Let’s Go Fly a Kite“ bleiben nicht nur im Ohr, sondern vermitteln pädagogische Werte auf charmante Weise. Die Musik ist verspielt, leicht zugänglich und trägt zur märchenhaften Atmosphäre bei.
Das Licht hingegen geht mit musikalischen Mitteln subtiler um: Hier treten sphärische Klänge, elektronische Kompositionen und gelegentliche Vokalflächen an die Stelle klassischer Gesangseinlagen. Musik wird nicht nur gesungen, sondern mehr erlebt – sie durchdringt Szenen, ersetzt manchmal den Dialog und verstärkt die emotionale Tiefe der Bilder. Sie ist nicht mehr erklärend, sondern selbst erfahrbar – ganz im Sinne moderner Kinoästhetik.
Gesellschaftliche Spiegelungen: Damals und heute
Trotz aller Gemeinsamkeiten in Struktur und Form sind beide Filme stark geprägt durch die gesellschaftlichen Kontexte ihrer Entstehung. Mary Poppins, obwohl im viktorianischen England verortet, wurde in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche gedreht: Frauenbewegung, aufkommender Antiautoritarismus, eine Infragestellung traditioneller Familienmodelle. Dies spiegelt sich etwa in der Figur der Mutter, einer engagierten Suffragette, oder in der Wandlung des Vaters, der erst durch den Einfluss von Mary Poppins zu einer liebevolleren Beziehung zu seinen Kindern findet. Die heilende Magie richtet sich auf die Rückführung zur familiären Harmonie innerhalb eines – wenn auch modernisierten – traditionellen Rahmens.
Das Licht hingegen ist tief durchdrungen von den Problemen der Gegenwart: psychische Erschöpfung, Reizüberflutung, emotionale Isolation und der Verlust spiritueller Orientierung. Die Lichtgestalt bringt nicht Ordnung im klassischen Sinne, sondern Erneuerung: Sie hilft nicht, zurückzukehren, sondern sich neu zu finden. Die im Film thematisierten Konflikte sind weniger laut, aber dafür existenzieller – etwa in Form von Sprachlosigkeit, digitaler Entfremdung oder ökologischer Unsicherheit. Das Licht bietet keine moralischen Antworten, sondern eröffnet Resonanzräume – ganz im Sinne einer postmodernen Erzählhaltung. Zur Postmoderne gehört auch die Flut von Zitaten. Zum Beispiel ist die Tatsache, dass es in Tykwers Version von Mary Poppins ständig regnet, auch wenn tatsächlich die Sonne scheint, als unentrinnbare Anspielung auf deren magischen Regenschirm zu dechiffrieren.
Von der Ordnung zur Offenheit
Auch ästhetisch lässt sich der Wandel nachvollziehen: Mary Poppins setzt auf klare Kontraste zwischen Realität und Fantasie, auf bunte Farben, Animationen, eindeutige Rollenverteilungen. Das Licht hingegen nutzt Unschärfen, Schatten, Lichtspiele – seine Bilder sind mehrdeutig, offen, einladend zur Interpretation. Hier ist die Fantasie nicht mehr bunt und greifbar, sondern geheimnisvoll, teilweeise bedrohllich und flüchtig.
So wird deutlich: Das Licht ist keine bloße Neuauflage von Mary Poppins, sondern eine zeitgemäße Transformation desselben narrativen Kerns. Die magische Figur, die heilende Reise, die musikalische Untermalung – all das bleibt erhalten. Doch wo Mary Poppins mit fröhlichem Lied auf das Dach steigt, um zu zeigen, wie schön das Leben ist, zeigt Das Licht, wie schwer das Leben insbesondere inmitten von Flüchtlingskrisen und Bürgerkriegsopfern sein kann – und dennoch ein Funke Hoffnung bleibt.
Zusammenfassung
In der direkten Gegenüberstellung wird sichtbar, wie sich klassische Märchenstoffe im Film wandeln können, ohne ihren Zauber zu verlieren. Mary Poppins und Das Licht sind zwei Seiten derselben medienkulturellen Medaille: beide zeigen, dass Fantasie und Magie immer wieder neu gedacht werden können, um ihre heilende Kraft im jeweiligen Hier und Jetzt entfalten zu können. Das Licht ist damit keine Konkurrenz, sondern eine moderne Fortsetzung der Magie, die mit Mary Poppins begann – und nun, 60 Jahre später, in einem anderen Licht erscheint.
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