Einleitung
Das katathyme Bilderleben ist ein tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren, das die Arbeit mit Imaginationen in den Mittelpunkt stellt. Entwickelt wurde es in den 1950er Jahren von Hanscarl Leuner (1919-1996), der die Beobachtung machte, dass im entspannten Wachzustand besonders eindrückliche innere Bilder entstehen, die einen direkten Zugang zum Unbewussten eröffnen. Leuner systematisierte diese Erfahrungen und führte standardisierte Bildmotive ein, etwa die Vorstellung einer Wiese, eines Hauses oder eines Berges. Diese Motive dienen nicht der Suggestion eines bestimmten Inhalts, sondern vielmehr als projektive Fläche, auf der Patientinnen und Patienten unbewusste Konflikte, Bedürfnisse und Ressourcen zum Ausdruck bringen können. Im Laufe der Jahrzehnte wurde die Methode weiterentwickelt und unter dem Begriff der katathym-imaginativen Psychotherapie (KIP) auch in Langzeit- und Kurzzeittherapien integriert.
Zur Begrifflichkeit
Der Begriff „katathym“ stammt aus dem Griechischen: kata bedeutet „gemäß“ oder „entsprechend“, während thymos im Altgriechischen „Gemüt“, „Seele“, „Herz“ oder auch „Affekt“ heißen kann. Wörtlich lässt sich „katathym“ also als „gemütsgemäß“ oder „affektgebunden“ übersetzen. Damit wird ausgedrückt, dass die im Verfahren auftretenden Bilder nicht willkürlich oder rein phantasievoll sind, sondern in enger Beziehung zu den aktuellen Gefühlen und unbewussten Konflikten der Patientin oder des Patienten stehen.
Hanscarl Leuner entschied sich bewusst für diesen Begriff, um zu verdeutlichen, dass die Imaginationen im katathymen Bilderleben keine bloßen Tagträume darstellen, sondern durch Affekte gesteuert und durch emotionale Dispositionen geprägt sind. Er wollte damit auch einen Kontrast zu Verfahren markieren, die stärker suggestiv oder kognitiv orientiert waren. Während beispielsweise die Hypnose stärker von der Steuerung durch den Therapeuten geprägt sein kann, betont das Katathyme Bilderleben die Eigendynamik der inneren Bilder, die sich „katathym“, also der Gemütslage entsprechend, entfalten.
Im Laufe der Begriffsgeschichte hat sich auch die Erweiterung zum Terminus „katathym-imaginative Psychotherapie (KIP)“ durchgesetzt. Damit wird die therapeutische Einbettung betont, also die Integration des Bilderlebens in einen strukturierten tiefenpsychologischen Prozess. Während „katathym“ den affektgebundenen Ursprung der Bilder unterstreicht, verweist „imaginativ“ auf die methodische Grundlage, nämlich das Arbeiten mit inneren Vorstellungen und Symbolen.
Zum wissenschaftlicher Hintergrund des katathymen Bilderlebens
Wissenschaftlich ist das Verfahren im Bereich der tiefenpsychologischen Psychotherapie verankert. Studien belegen, dass das Arbeiten mit Imaginationen emotionale Prozesse aktiviert, die auf rein kognitiver Ebene häufig nur schwer erreichbar sind. Neuere Forschung aus der Psychotherapieforschung und Neurobiologie unterstützt zudem die Annahme, dass Imaginationen nicht bloße Phantasieprodukte sind, sondern mit realen emotionalen und neuronalen Aktivierungen einhergehen. Innere Bilder können ähnlich wie reale Erfahrungen affektive Resonanzen hervorrufen, wodurch sie für therapeutische Prozesse besonders wertvoll werden. Damit bietet das katathyme Bilderleben eine Möglichkeit, unbewusste Dynamiken sichtbar und erfahrbar zu machen, ohne sie ausschließlich über Sprache und rationale Reflexion erschließen zu müssen.
Zur Methodik des katathymen Bilderlebens in der Praxis
Die Methodik des katathymen Bilderlebens folgt einer klaren Struktur. Zunächst wird der Patient von der Therapeutin oder dem Therapeuten in einen Zustand der Entspannung geführt, der Wachheit und Gelassenheit miteinander verbindet. Anschließend wird ein Bildmotiv vorgeschlagen, das bewusst allgemein gehalten ist. Der Patient schildert daraufhin fortlaufend seine inneren Bilder, während der Therapeut eine begleitende und unterstützende Rolle einnimmt. Durch vorsichtiges Nachfragen und Fokussieren wird der innere Prozess vertieft, jedoch niemals im Sinne einer Steuerung manipuliert. Das Bilderleben wird schließlich sanft beendet, und im anschließenden Nachgespräch werden die erlebten Symbole, Affekte und Szenen in Bezug zum Alltag, zu biographischen Erfahrungen und zu aktuellen Konflikten gesetzt. Auf diese Weise entsteht eine Brücke zwischen der freien Assoziation, dem alltäglichen Erzählen und der symbolischen Verdichtung unbewusster Inhalte.
Die Integration des katathymen Bilderlebens in die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
Gerade in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, in der Patientinnen und Patienten häufig zunächst alltägliche Ereignisse schildern oder frei assoziieren, kann das katathyme Bilderleben eine wertvolle Ergänzung darstellen. Oftmals stoßen Patientinnen und Patienten an sprachliche oder narrative Grenzen, wenn es darum geht, Affekte oder unbewusste Beziehungsmuster zu erfassen. Die Imagination eröffnet dann eine neue Ebene, auf der diese Prozesse sichtbar werden. So kann ein Bild wie ein zerfallenes Haus eine verdichtete Darstellung innerer Instabilität sein, während eine blühende Wiese Sicherheit und Ressourcen symbolisiert. Diese Bilder erlauben nicht nur eine diagnostische Einschätzung, sondern auch eine emotionale Durcharbeitung, da sie die Patientinnen und Patienten in eine aktive Erlebnisposition versetzen. Gleichzeitig können Imaginationen auch als Ressource genutzt werden, indem innere Orte der Ruhe oder Kraft erschlossen werden, die in Krisensituationen stabilisierend wirken.
Indikationen und Kontraindikationen für das katathyme Bilderleben
In der Praxis erfordert das Verfahren jedoch eine sorgfältige Indikationsstellung. Das katathyme Bilderleben eignet sich besonders für Patientinnen und Patienten mit neurotischen Störungen und Störungen im engeren Bereich psychosomatischen Beschwerden. Kontraindikationen bestehen hingegen bei akuten Psychosen, Problemen mit Abgrenzung (beeinträchtigte Selbst-Objetkdifferenzierung), schwerer Ich-Desintegration, akuter Suizidalität oder massiven Realitätsverlusten. Auch bei Patienten mit schwerer Traumatisierung ist Vorsicht geboten, da Imaginationen überwältigende Affekte hervorrufen können, die das Ich überfluten. Hier ist eine behutsame, phasenweise Anwendung angezeigt, die vor allem stabilisierende Motive nutzt.
Zusammenfassung
Insgesamt lässt sich sagen, dass das katathyme Bilderleben eine häufig eingesetzte und wissenschaftlich fundierte Methode ist, die tiefenpsychologische Konzepte auf eine besondere Weise erweitert. Es ermöglicht einen Zugang zum Unbewussten, der über den verbalen Austausch hinausgeht, und bietet zugleich die Chance, affektive Erlebnisse in symbolischer Form zu erfahren und zu bearbeiten. In der psychotherapeutischen Praxis erweist es sich als besonders hilfreich, wenn der sprachliche Zugang zu den Emotionen blockiert ist oder wenn ein vertieftes Erleben innerer Dynamiken gewünscht ist. Es verbindet Alltagserzählungen und freie Assoziationen mit einer bildhaften Ebene, die reich an Symbolen und Bedeutungen ist, und schafft so einen Raum, in dem sowohl Konflikte als auch Ressourcen sichtbar, erlebbar und gestaltbar werden.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht