Brauchen wir noch eine Religion?

Einleitung

Religionen als Manifestationen eines Glaubens bestehen zumeist aus drei Aspekten: zunächst dem teleologischen, dem sinnstiftenden Inhalt, der ermöglicht, auf etwas hin leben zu können, zweitens dem Aspekt der religiösen Erfahrung und drittens dem ethischen Aspekt, der sich darstellt in Form von Tabus in Bezug auf etwas Heiliges, auf die Befolgung bestimmter Gesetze, Gebote, Riten, Zeremonien.

Von der Aufklärung zur Romantik: Als in der Aufklärung der vernunftbegabte Mensch die Existenz Gottes in Zweifel zog und als etwas Überflüssiges zu empfinden begann, entwickelte sich sehr bald in der Romantik eine Faszination für das Gefühl der Unendlichkeit. In kommunistischen Staaten, in denen teilweise Religionen verboten wurden, sieht man eine starke Tendenz zur Glorifizierung der Partei und ihrer Führer und eine Verpflichtung der einzelnen auf die Direktiven der Partei. Deshalb spricht man auch zurecht von der Tendenz zum Führerkult etc.

Staat und Religion: Die enge Verflechtung von Staat und Religion ist dabei aber gar nichts Neues, sondern historisch eigentlich eher der Normalfall. Auch das Christentum war lange Zeit eine Staatsreligion, wie zuvor der Kaiserkult im Römischen Reich. Priester als religiöse spirituelle Führer einerseits und weltliche Herrscher als Repräsentanten der kriegerischen Macht und Staatsgewalt andererseits, teilten sich über viele Epochen der Geschichte ihren Einfluss auf die Massen. Viele Religionen wären ohne staatliche Unterstützung und ohne Symbiose mit einer politischen Führung gar nicht überlebensfähig gewesen. Andererseits benötigte militärische Macht und staatliche Gewalt auch immer der spirituellen Legitimation.

Die offene Gesellschaft: Dass wir jetzt in einer offen Gesellschaft ohne Staatsreligion leben, ist eher eine singuläre Erscheinung in der Geschichte. Insofern ist die Frage nach der Religiosität des einzelnen auch als eine historisch singuläre aufzufassen. Sie entspricht nicht den Erfahrungen, die Menschen über die letzten 10000 Jahre mit Religionen gemacht haben. Insofern es in einer pluralistischen Gesellschaft keine Staatsreligion mehr gibt oder einen äußeren Zwang, irgendeiner Religionsgemeinschaft angehören zu müssen, stellt sich um so mehr die Frage, ob sich in dieser offenen Situation für die einzelnen zur Befriedigung Ihres religiösen Bedürfnisses nicht ein innerer Zwang hin zu einer religiösen Praxis artikulieren könnte.

Rückfall in die Barbarei: Und es stellt sich auch die Frage, was mit den Menschen geschieht, die ein derartiges religiöses Bedürfnis oder religiöse Gefühle nicht empfinden, für die das Religiöse dauerhaft eine Leerstelle bzw. etwas Überflüssiges bleibt. Oder etwas zugespitzter formuliert, könnten gerade diese aufgeklärten, rational denkenden Menschen ihre Leerstellen damit ausfüllen, dass sie zu Anhängern eines zynischen Utilitarismus werden, also den egoistischen Nutzen als neuen Götzen anbeten, ohne sich dessen bewusst zu sein?

Aspekte von Religiosität

Die Frage, ob ein Mensch eine Religion braucht, ist komplex und hängt von verschiedenen individuellen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren ab. Hier sind einige Argumente und Perspektiven, die verschiedene Aspekte dieser Frage beleuchten:

Argumente dafür, dass Menschen Religion brauchen:
Viele Menschen finden mithilfe der Religion einen Sinn und Zweck im Leben. Eine Religion kann Antworten auf existenzielle Fragen geben, die wissenschaftlich oder rational schwer zu beantworten sind, wie z.B. nach dem Sinn des Lebens, nach einem Leben nach dem Tod oder nach einem ethisch verantwortungsvollen Leben.

Die Religion bietet oft eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten, die Unterstützung und ein Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln kann. Religiöse Gemeinschaften können ein starkes soziales Netz und emotionale Unterstützung bereitsstellen, besonders in schwierigen Zeiten von Krankheit, Alter, Verfolgung etc.
Die Religion kann einen moralischen Kompass bieten und Menschen helfen, ethische Entscheidungen zu treffen. Religiöse Lehren und Werte können als Leitfaden für richtiges Verhalten und zwischenmenschliche Beziehungen dienen.

Religiöse Rituale und Traditionen können Struktur und Rhythmus im Leben eines Menschen schaffen. Sie bieten Gelegenheiten zur Reflexion, zum Feiern und zum Gedenken und können das Gemeinschaftsgefühl stärken. Die Religion kann Trost und Hoffnung in schwierigen Lebenssituationen bieten. Der Glaube an eine höhere Macht oder an ein Leben nach dem Tod kann helfen, mit Trauer, Verlust und Leid besser umzugehen.

Aber es gibt auch Argumente dagegen, dass Menschen unbedingt eine Religion brauchen:
Viele Menschen finden Sinn, Moral und Gemeinschaft außerhalb religiöser Kontexte. Säkularer Humanismus bietet eine weltliche Grundlage für ethisches Verhalten und Lebenssinn ohne Bezug auf eine höhere Macht.
Einige Menschen ziehen es vor, ihre eigene Spiritualität unabhängig von traditionellen Religionen zu entwickeln. Dies kann durch Meditation, Naturverbundenheit oder persönliche Reflexion geschehen.

Hinzu kommt: Wissenschaftliche Erkenntnisse und rationales Denken bieten für viele Menschen ausreichende Erklärungen für die Welt und die menschliche Existenz. Sie stützen sich auf Evidenz und kritisches Denken, um Sinn und Ordnung in der Welt zu finden. In einer globalisierten Welt gibt es eine Vielzahl von Glaubensrichtungen und Weltanschauungen. Menschen können von verschiedenen philosophischen und kulturellen Traditionen lernen, ohne sich an eine einzige Religion zu binden.

Ob ein Mensch eine Religion braucht, ist letztlich eine sehr persönliche Entscheidung. Für einige ist Religion eine unverzichtbare Quelle von Sinn, Gemeinschaft und moralischer Orientierung. Für andere bieten säkulare, wissenschaftliche oder individuelle spirituelle Wege ausreichende Antworten auf die großen Fragen des Lebens. Beide Ansätze können zu einem erfüllten und sinnvollen Leben führen, und es gibt keinen universellen Weg, der für alle Menschen gilt. Im folgenden soll die Frage noch weiter zugespitzt und geklärt werden, welche Bedürfnisse darüber hinaus existieren könnten, das Alltagsleben zu transzendieren. Deshalb soll hier zunächst auf ein Konzept der ästhetischen Erfahrung zurückgegriffen werden.

Intensivierung des Erlebens in der ästhetische Erfahrung

Das Konzept der ästhetischen Erfahrung kann als ein Beisspiel für das Bedürfnis nach Transzendieren der Alltagserfaahrung in einer säkularen Gesellschaft angesehen werden. John Dewey, ein amerikanischer Philosoph und Pädagoge, hat das Konzept der ästhetischen Erfahrung umfassend in seinem Werk “Art as Experience” (1934) untersucht. Deweys Ansatz betont die enge Verbindung zwischen Kunst und Alltagserfahrung und sieht ästhetische Erfahrungen als integralen Bestandteil des menschlichen Lebens.

Hier sind die wesentlichen Aspekte seines Konzepts: Wesentliche Aspekte der ästhetischen Erfahrung nach John Dewey:
Kontinuität der Erfahrung: Dewey argumentiert, dass ästhetische Erfahrungen keine isolierten Ereignisse sind, sondern eine Kontinuität mit alltäglichen Erfahrungen aufweisen. Kunst ist für Dewey nicht von der Lebenspraxis getrennt, sondern stellt eine Intensivierung und Klärung gewöhnlicher Erfahrungen dar. Jede Erfahrung kann ästhetische Qualitäten annehmen, wenn sie vollständig und bedeutungsvoll ist.

Qualität der Erfahrung: Eine ästhetische Erfahrung zeichnet sich durch eine besondere Qualität aus, die Dewey als “integrative” und “transformationale” Einheit beschreibt. Diese Erfahrungen sind geprägt von einem kohärenten und harmonischen Zusammenspiel von Wahrnehmung, Emotion und Intellekt. Eine ästhetische Erfahrung ist demnach eine, in der alle Aspekte der Erfahrung zu einer bedeutungsvollen und zusammenhängenden Einheit verschmelzen.

Interaktion und Beteiligung: Für Dewey ist die ästhetische Erfahrung ein interaktiver Prozess, der sowohl die aktive Teilnahme des Individuums, als auch die Interaktion mit dem Kunstwerk oder der Umgebung umfasst. Es handelt sich nicht um eine passive Rezeption, sondern um eine dynamische und kreative innere Beteiligung oder ein Ergriffensein, bei der der Betrachter, Hörer oder Teilnehmer aktiv in den Prozess der Bedeutungsfindung involviert ist.

Empfindung und Reflexion: Eine ästhetische Erfahrung umfasst sowohl unmittelbare sinnliche Wahrnehmung als auch reflektive Denkprozesse über die Idee des Kunstwerks. Dewey betont die Bedeutung der sinnlichen Empfindung, aber auch die Notwendigkeit der Reflexion in Bezug auf das Geistig-Ideelle, um die tiefere Bedeutung und den Wert der Erfahrung zu erfassen.

Kunst als Lebensweise: Dewey erweitert das Konzept der ästhetischen Erfahrung über die traditionelle Kunst hinaus und sieht sie als eine Art und Weise, das Leben zu führen, im Sinne von Lebenskunst. Er fordert dazu auf, das ästhetische Potenzial in alltäglichen Handlungen und Erfahrungen zu erkennen und zu schätzen, sei es in der Natur, in der Arbeit oder in sozialen Interaktionen.

Beispiele für ästhetische Erfahrungen im Alltag: Naturerlebnisse: Ein Spaziergang im Wald, bei dem man die Schönheit der Landschaft bewusst wahrnimmt, die Geräusche der Natur hört und sich von der Atmosphäre des Ortes ergreifen lässt.

Kochkunst: Das Zubereiten und Genießen einer Mahlzeit, bei dem man die Aromen, Texturen und Farben der Zutaten schätzt und die sozialen Aspekte des gemeinsamen Essens erlebt.

Handwerk: Das Ausführen einer handwerklichen Tätigkeit, bei der man die Materialien, Werkzeuge und den kreativen Prozess bewusst erlebt und eine tiefe Befriedigung durch die Fertigstellung eines Werkes erfährt.

Konzept der Totalität der Erfahrung: John Deweys Konzept der ästhetischen Erfahrung erweitert das Verständnis von Kunst und Ästhetik, indem es die Trennung zwischen Kunst und Alltag aufhebt. Für Dewey ist die ästhetische Erfahrung eine zentrale Dimension des menschlichen Lebens, die in jeder bedeutungsvollen und vollständigen Erfahrung vorhanden sein kann und insofern die Alltagserfahrung hinsichtlich dieser Totalität der Erfahrung transzendieren kann. Diese Perspektive fordert dazu auf, das ästhetische Potenzial und die Möglichkeit zur Steigerung des Erlebens in Richtung Transzendenz in allen Bereichen des Lebens zu erkennen und zu kultivieren.

Ästhetische und religiöse Erfahrungen als Möglichkeiten, den Alltag zu transzendieren

Ästhetische und religiöse Erfahrungen können sich in vielerlei Hinsicht ähneln, aber sie haben auch wesentliche Unterschiede. Hier sind einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede:

Gemeinsamkeiten: Beide Arten von Erfahrungen können das Gefühl des Erhabenen hervorrufen, ein Zustand, in dem man sich mit etwas Größerem oder Überwältigenderem verbunden fühlt. Dieses Gefühl kann tief emotional und transzendental sein. Sowohl ästhetische als auch religiöse Erfahrungen können Momente der Transzendenz bieten, in denen man das Alltägliche hinter sich lässt und eine tiefere Realität oder Wahrheit wahrnimmt.

Beide Arten von Erfahrungen können ein starkes Gefühl von Bedeutung, Sinn und Verbundenheit hervorrufen, sei es mit der Welt, mit anderen Menschen oder mit dem Göttlichen. Ästhetische und religiöse Erfahrungen sind oft intensiv emotional und können Gefühle von Ehrfurcht, Staunen, Freude oder tiefer innerer Ruhe auslösen.

In beiden Bereichen spielen Rituale und Symbole eine wichtige Rolle. In der Kunst können Rituale der Betrachtung und Symbole verwendet werden, um tiefere Bedeutungen zu vermitteln, ähnlich wie in religiösen Praktiken.

Unterschiede: Ästhetische Erfahrungen beziehen sich in der Regel auf Kunstwerke, Musik, Literatur, Natur oder andere Formen der Schönheit. Religiöse Erfahrungen beziehen sich auf das Heilige, Göttliche oder Spirituelle und beinhalten oft die Interaktion mit einer höheren Macht oder einer spirituellen Realität.
Religiöse Erfahrungen haben oft einen expliziten Zweck in Bezug auf Glauben, Verehrung, moralische Orientierung und Gemeinschaftsbildung. Ästhetische Erfahrungen hingegen sind oft selbstzweckhaft und dienen primär dem Genuss, der Inspiration oder der Reflexion.

Religiöse Erfahrungen sind häufig in institutionelle und traditionelle Kontexte eingebettet, wie Kirchen, Tempel, Moscheen und heilige Texte. Ästhetische Erfahrungen können in vielfältigeren Kontexten stattfinden, wie Museen, Konzertsälen, Natur oder alltäglichen Situationen.
Religiöse Erfahrungen werden oft durch spezifische Glaubenssysteme und Doktrinen interpretiert und bekommen dadurch eine festgelegte Bedeutung. Ästhetische Erfahrungen sind subjektiver und können auf verschiedene Weisen interpretiert werden, abhängig von den individuellen Wahrnehmungen und kulturellen Hintergründen.

Religiöse Erfahrungen werden oft durch bestimmte Vorbereitungen und Erwartungen geprägt, wie Gebete, Meditation oder rituelle Reinigungen. Ästhetische Erfahrungen können spontaner und weniger formal sein, obwohl sie auch durch bewusste Vorbereitung intensiviert werden können, wie zum Beispiel durch das Studium eines Kunstwerks oder das Üben des aktiven Zuhörens bei einem Konzert.

Zusammenfassung: Während ästhetische und religiöse Erfahrungen viele gemeinsame Elemente wie Transzendenz, emotionale Tiefe und Bedeutung teilen, unterscheiden sie sich in ihren Objekten, Zwecken, Kontexten und Interpretationen. Beide Arten von Erfahrungen bieten wertvolle Einsichten und Bereicherungen für das menschliche Leben, aber sie tun dies auf unterschiedliche Weisen und in unterschiedlichen Dimensionen der menschlichen Existenz.

Die heilige Scheu vor der absoluten Transzendenz

Die religiöse Erfahrung könnte man auch in Verbindung bringen mit einem Bedürfnis nach dem Heiligen. Dies ist ein tief verwurzeltes und weit verbreitetes Phänomen in vielen Kulturen und Religionen und entspricht ursprünglich dem Tabu, das für alle indigenen totemistischen Gesellschaften eine wichtige Grunderfahrung darstellt. Das Heilige ist ein komplexer und vielschichtiger Begriff, der schwer eindeutig zu definieren ist, aber im Allgemeinen bezieht er sich auf etwas, das als göttlich, übernatürlich, erhaben oder von größter Bedeutung angesehen wird. Hier sind einige Überlegungen zu diesem Thema:

Was ist das Heilige? Das Heilige wird oft als etwas verstanden, das jenseits der alltäglichen Erfahrung liegt und als Tabu vom Alltag abgetrennt wird, etwas, das über das Materielle und das Profane hinausgeht. Es kann als eine Form der Transzendenz angesehen werden, die Menschen mit dem Göttlichen oder dem Absoluten verbindet.

In den meisten Religionen gibt es heilige Orte (z.B. Kirchen, Tempel, Moscheen), heilige Texte (z.B. die Bibel, der Koran, die Veden) und heilige Rituale (z.B. Gebete, Sakramente, Pilgerfahrten). Diese Elemente helfen den Gläubigen, sich dem Heiligen zu nähern und es in ihrem Leben zu integrieren.
Viele Menschen berichten von Erfahrungen des Heiligen, die mit Gefühlen von Ehrfurcht, Staunen, Dankbarkeit oder tiefer Verbundenheit einhergehen. Solche Erfahrungen können in der Natur, in der Kunst, in der Meditation oder in zwischenmenschlichen Beziehungen auftreten.

Philosophen wie Rudolf Otto haben das Heilige als das “ganz Andere” beschrieben, das sich durch das Gefühl des Mysteriums und der Ehrfurcht auszeichnet. Für Otto ist das Heilige sowohl faszinierend als auch furchteinflößend (das “Mysterium tremendum et fascinans”).

Gibt es ein Bedürfnis nach dem Heiligen? Einige Psychologen und Anthropologen argumentieren, dass das Bedürfnis nach dem Heiligen oder nach einem Tabu ein grundlegender Aspekt der menschlichen Psyche ist. Es kann ein Ausdruck des Wunsches nach Bedeutung, Verbindung und Ganzheit sein. Menschen suchen oft nach etwas Größerem als sich selbst, um ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Sinns zu finden.

Das Heilige oder das Tabu spielt auch eine wichtige Rolle in der kulturellen und sozialen Struktur vieler Gesellschaften. Es kann Gemeinschaften zusammenbringen, Identität stiften und moralische Werte vermitteln. Rituale und heilige Symbole helfen, soziale Kohäsion und kulturelle Kontinuität zu gewährleisten.
Das Bedürfnis nach dem Heiligen oder der Anerkennung und Achtung eines Tabus kann auch aus der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen entstehen. Angesichts der Endlichkeit des Lebens, der Ungewissheit und der Herausforderungen des Daseins suchen viele Menschen nach etwas, das Beständigkeit und Trost bietet.

Transzendenzerfahrungen im Schamanismus

Der Schamanismus ist vermutlich die älteste spirituelle Religion der Menschheit und zeichnet sich durch verschiedene Grundelemente aus. Diese Praktiken und Überzeugungen variieren je nach Kultur und Region, aber einige gemeinsame Grundelemente lassen sich identifizieren:
Der Schamane als Pendant und Unterstützer der weltlichen Herrscher, der Krieger, hat eine Funktion, die Stammesmitglieder auf einer psycho-sozialen Ebene zu beeinflussen. Dazu unternimmt er spirituelle Reisen in andere transzendente Welten oder Ebenen der Existenz, um Wissen, Heilung oder Führung für die Stammesangehörigen zu erlangen. Dies geschieht oft in einem tranceartigen Zustand.

Trancezustände werden durch verschiedene Techniken erreicht, darunter Trommeln, Tanzen, Gesang, Fasten oder der Konsum psychoaktiver Substanzen. Diese Zustände ermöglichen es dem Schamanen, in die spirituellen Welten einzutreten. Schamanen kommunizieren mit Geistern, Ahnen oder Naturwesen. Diese Geister können als Helfer, Führer oder Beschützer fungieren und dem Schamanen Wissen und Heilungskräfte vermitteln.

Eine zentrale Rolle des Schamanen ist die Heilung von Kranken. Dies kann durch spirituelle Reinigung, Extraktion von negativen Energien oder die Rückholung verlorener Seelenanteile geschehen. Schamanen führen eine Vielzahl von Ritualen und Zeremonien durch, die von Heilungsritualen über Erntezeremonien bis hin zu Initiationsriten reichen können. Schamanen haben eine tiefe Verbindung zur Natur und sehen sie als lebendig und beseelt an. Pflanzen, Tiere, Berge, Flüsse und andere Naturphänomene werden als spirituelle Wesen betrachtet, die respektiert und geehrt werden müssen.

Die Rolle von Drogen als Ermöglichung von Transzendenzerfahrungen in schamanischen Kulten wurde erst in letzter Zeit genauer untersucht. Psychoaktive Substanzen spielen in vielen schamanischen Kulturen eine zentrale Rolle. Diese Substanzen, oft als heilige Pflanzen oder Entheogene bezeichnet, werden verwendet, um Trancezustände nicht nur bei den Schamanen selbst, sondern auch bei den Stammesangehörigen zu induzieren und den Zugang zu spirituellen Welten zu erleichtern. Einige Beispiele sind: Ayahuasca, Peyote, San Pedro. Diese Substanzen werden in schamanistischen Religionen nicht nur wegen ihrer psychoaktiven Wirkungen geschätzt, sondern auch aufgrund der Überzeugung, dass sie selbst spirituelle Wesen sind und im Rahmen von Ritualen und Zeremonien eingesetzt werden, um spirituelle Erfahrungen zu ermöglichen und zu vertiefen.

Religion in einer multiperspektivischen Welt

Seit der Neuzeit ist zu beobachten, dass es zwei wesentliche Machtkämpfe gab. Der eine Machtkampf bestand im Kampf der Kirche gegen die Naturwissenschaften. Der zweite Machkampf besteht seit der Emanzipation der Naturwissenschaften in einer zunehmende Dominanz der Naturwissenschaften gegenüber den Geisteswissenschaften und auch gegenüber der Religion. Zu diesen Machtkämpfen hat sich insbesondere der Philosoph Ernst Cassirer geäußert:
“Die einzelnen geistigen Richtungen treten nicht, um einander zu ergänzen, friedlich nebeneinander, sondern jede wird zu dem, was sie ist, erst dadurch, daß sie gegen die anderen und im Kampf mit den anderen die ihr eigentümliche Kraft erweist.” Cassirer (1923), Bd 1, S. 13.
Der Wettstreit der Weltanschauungen ist als nicht etwas sekundäres, sondern ihr wesentlich.

In der Renaissance erlebte Europa eine Wiedergeburt des Interesses an der Antike und eine Wiederentdeckung wissenschaftlicher und philosophischer Texte aus der griechisch-römischen Zeit. Dies führte zu einem Aufschwung in den Naturwissenschaften. Einige der bekanntesten Konflikte zwischen der Kirche und den Naturwissenschaften während dieser Zeit umfassten:

Das heliozentrisches Weltbild: Nicolaus Copernicus (1473-1543) schlug ein heliozentrisches Modell des Sonnensystems vor, das die Erde als einen Planeten darstellt, der die Sonne umkreist. Diese Theorie stand im Widerspruch zum geozentrischen Modell der Kirche, das auf den Schriften von Ptolemäus und der Bibel basierte. Der berühmteste Konflikt in diesem Zusammenhang betraf Galileo Galilei (1564-1642), der das heliozentrische Modell verteidigte und 1633 von der Inquisition der Häresie beschuldigt und verurteilt wurde.

Die wissenschaftliche Methodik und Empirie: Francis Bacon (1561-1626) und René Descartes (1596-1650) entwickelten neue Methoden des wissenschaftlichen Denkens, die auf Empirie und rationaler Analyse basierten. Diese Ansätze standen im Gegensatz zur scholastischen Methode, die von der Kirche bevorzugt wurde und auf der Autorität antiker Texte und theologischer Lehren beruhte.

Den Konflikt um die Anatomie und die Medizin: Andreas Vesalius (1514-1564) revolutionierte das Studium der menschlichen Anatomie durch seine detaillierten und empirisch fundierten Studien des menschlichen Körpers. Diese Arbeiten widersprachen vielen überlieferten Ansichten, die auf den Schriften des antiken Arztes Galen basierten, die von der Kirche weitgehend akzeptiert wurden.

Naturwissenschaften versus Geisteswissenschaften: Schließlich begann das Zeitalter der zunehmende Dominanz der Naturwissenschaften gegenüber den Geisteswissenschaften und der Religion.
Im Laufe der Jahrhunderte gewannen die Naturwissenschaften immer mehr an Bedeutung und Prestige, was auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist:

Technologische Fortschritte: Die Naturwissenschaften führten zu bedeutenden technologischen Fortschritten, die das tägliche Leben der Menschen verbesserten und die Industrialisierung vorantrieben. Erfindungen wie die Dampfmaschine, Elektrizität, Impfstoffe und später Computertechnologie haben die Bedeutung der Naturwissenschaften hervorgehoben.

Wissenschaftlicher Fortschritt: Durch den wissenschaftlichen Fortschritt konnten viele Phänomene erklärt und kontrolliert werden, die zuvor als unerklärlich oder als Werk höherer Mächte galten. Dies führte zu einem weltweiten Vertrauen in die naturwissenschaftlichen Methoden und Erkenntnisse.

Bildung und Forschung: Universitäten und Forschungseinrichtungen begannen, mehr Ressourcen und Aufmerksamkeit auf die Naturwissenschaften zu lenken, was zu weiteren Entdeckungen und Innovationen führte. Dies ging oft auf Kosten der Geisteswissenschaften, die weniger greifbare und unmittelbar anwendbare Ergebnisse lieferten.

Gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren: In einer zunehmend technisierten und industrialisierten Welt wurde naturwissenschaftliches Wissen immer wichtiger für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Die Nachfrage nach Naturwissenschaftlern und Ingenieuren stieg, während Geisteswissenschaftler weniger offensichtlich zur wirtschaftlichen Entwicklung beitrugen.

Konflikte: Der Konflikt zwischen der Kirche und den Naturwissenschaften sowie die zunehmende Dominanz der Naturwissenschaften über die Geisteswissenschaften und die Religion sind komplexe Prozesse, die durch vielfältige gesellschaftliche, technologische und intellektuelle Entwicklungen geprägt wurden. Während die Naturwissenschaften aufgrund ihrer konkreten und oft lebensverbessernden Anwendungen an Bedeutung gewannen, blieben die Geisteswissenschaften und die Religion wichtig für das Verständnis der menschlichen Kultur, Geschichte und Ethik. Beide Bereiche spielen weiterhin entscheidende Rollen in der modernen Gesellschaft, auch wenn die Gewichtung und Wertschätzung sich verschoben.

Dominanzstreben: Um das wechselseitige Dominanzstreben besser verstehen zu können, soll auf Cassirers Theorie der symbolischen Formen zurückgegriffen werden. Cassirer berichtet in seiner Rekapitulation der Philosophiegeschichte, wie vor allem die Philosophie sich kritisch mit dem mythisch-religiösen Denken auseinandergesetzt hat und dass diese kritische Position daraus sich ergibt, dass jede Form der symbolischen Repräsentation der Welt, sei es die mythisch-religiöse, sei es die naturwissenschaftliche, dazu tendiert, sich absolut zu setzen und andere Repräsentationsformen zu verdrängen:
“Die Philosophie ist sich im Verlauf ihrer Geschichte der Aufgabe einer solchen Analyse und Kritik der besonderen Kulturformen immer mehr oder weniger bewusst geblieben; aber sie hat zumeist nur Teile dieser Aufgabe, und zwar mehr in negativer als in positiver Absicht, direkt in Angriff genommen. Ihr Bestreben ging in dieser Kritik häufig weniger auf die Darstellung und Begründung der positiven Leistungen jeder Einzelform, als auf die Abwehr falscher Ansprüche. Seit den Tagen der griechischen Sophistik gibt es eine skeptische Sprachkritik, wie es eine skeptische Mythenkritik und Erkenntniskritik gibt. Diese wesentlich negative Einstellung wird verständlich, wenn man erwägt, daß in der Tat jeder Grundform des Geistes, indem sie auftritt und sich entwickelt, das Bestreben eigen ist, sich nicht als einen Teil, sondern als ein Ganzes zu geben und somit statt einer bloß relativen eine absolute Geltung für sich
in Anspruch zu nehmen. Sie bescheidet sich nicht innerhalb ihres besonderen Bezirks, sondern sie sucht die eigentümliche Prägung, die sie mit sich führt, der Gesamtheit des Seins und des geistigen Lebens aufzudrücken. Aus diesem Streben zum Unbedingten, das jeder Einzelrichtung innewohnt, ergeben sich die Konflikte der Kultur und die Antinomien des Kulturbegriffs.” Cassirer (1923), Bd 1, S. 12f.

Die heutige Skepsis gegenüber der Religion könnte also im wesentlichen auch darin begründet sein, dass das naturwissenschaftliche Weltbild versucht, sich absolut zu setzen und andere Repräsentationsformen zu marginalisieren, so wie früher die Kirche als Repräsentant des mythisch-religiösen Denkens die Naturwissenschaften versucht hatte, an den Rand der Gesellschaft zu drängen.

Zusammenfassung

Das religiöse Gefühl oder das Bedürfnis nach dem Heiligen oder das Bedürfnis, ein Tabu zu respektieren, ist tief in der Geschichte menschlicher Vergesellschaftungen verwurzelt. Es bewahrt den Wunsch nach Transzendenz, Bedeutung und Verbindung zu etwas Metaphysischem. Das Tabu oder das Heilige selbst ist ein archaisches Symbol und entstammt einer mythischen Lebenserfahrung, die in verschiedenen Kulturen unterschiedlich verstanden und erlebt wurde. Ob dieses Symbol aus einer mythischen Lebenserfahrung heute überhaupt noch verstanden werden kann, ist die Frage, die nur durch Lebenspraxis, nicht aber theoretisch beantwortet werden kann.

In diesem Zusammenhang möchte ich verweisen auf meinen Beitrag “Archäologie der Sehnsucht“, der Platons Mythos der Kugelmenschen zitiert. Für den Menschen in mythischer Zeit war der Zusammenhang von gefühlter Sehnsucht und dem Symbol des Kugelmenschen eine Einheit. In unserer säkularen Welt können wir den Mythos vom Kugelmenschen vermutlich nur noch als Illustration einer Idee nachvollziehen, was er ursprünglich aber sicherlich nicht war.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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