Einleitung
In diesem Beitrag werden die wichtigsten Kritiker der Psychoanalyse Freuds kurz vorgestellt. Die Übersicht ist nicht vollständig, sondern enthält eine subjektive Auswahl.
Alfred Adler (1870-1937)
Alfred Adler war ein österreichischer Psychiater und Zeitgenosse Sigmund Freuds. Er distanzierte sich aus verschiedenen Gründen von der Psychoanalyse Freuds und entwickelte eine eigenständige psychotherapeutische Richtung, die er Individualpsychologie nannte. Hier sind die wesentlichen Gründe für seine Distanzierung und die Merkmale seiner psychotherapeutischen Tätigkeit:
Kritik an der Triebtheorie: Adler lehnte die Freud’sche Triebtheorie ab, insbesondere die starke Betonung auf sexuelle Triebe als zentrale Motivationsquelle des menschlichen Verhaltens. Er war der Meinung, dass menschliches Verhalten nicht primär von sexuellen Trieben, sondern von sozialen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen sowie vom Streben nach Macht und Überlegenheit angetrieben wird.
Fokus auf das Streben nach Überlegenheit: Adler entwickelte das Konzept des Strebens nach Überlegenheit (auch als “Machtstreben” bekannt), das er als die grundlegende Motivation des Menschen ansah. Im Gegensatz zur Freud’schen Sicht, die menschliches Verhalten als von inneren Trieben motiviert betrachtete, sah Adler den Menschen als von einem Zielmotiv geleitet, das darin besteht, seine Mängel zu überwinden und ein Gefühl von Überlegenheit und Erfolg zu erreichen.
Ablehnung der Determinierung durch die Vergangenheit: Während Freud großen Wert auf die Rolle der frühen Kindheitserfahrungen und des Unbewussten legte, betonte Adler die Bedeutung der bewussten Ziele und der gegenwärtigen sozialen Umwelt. Er glaubte, dass Menschen nicht von ihren vergangenen Erfahrungen bestimmt sind, sondern dass sie in der Lage sind, ihre Zukunft aktiv zu gestalten, indem sie ihre Ziele und Lebenspläne verfolgen.
Soziale Aspekte der Persönlichkeit: Adler legte großen Wert auf die soziale Natur des Menschen und das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Er entwickelte das Konzept des Gemeinschaftsgefühls (soziales Interesse), das beschreibt, wie gut ein Individuum in der Lage ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren und zum Wohle anderer beizutragen. Für Adler war die Fähigkeit, positive soziale Beziehungen zu pflegen, zentral für die psychische Gesundheit.
Ganzheitliche Sicht des Individuums: Adler widersetzte sich der Freud’schen Praxis, die Psyche in getrennte Komponenten wie das Es, Ich und Über-Ich zu unterteilen. Stattdessen betonte er die Ganzheitlichkeit der Persönlichkeit. Er argumentierte, dass das Verhalten eines Individuums nur im Kontext des gesamten Lebensstils und der persönlichen Ziele verstanden werden kann.
Nachdem sich Adler von der Freud’schen Psychoanalyse distanziert hatte, entwickelte er seine eigene psychotherapeutische Schule, die er Individualpsychologie nannte. Dieser Begriff betont die Unteilbarkeit (“Individuum” bedeutet wörtlich “das Unteilbare”) und Einzigartigkeit jeder Person. In der Individualpsychologie geht es darum, das Individuum als Ganzes zu verstehen, insbesondere seine Ziele, Überzeugungen und den Lebensstil, den es entwickelt hat, um seine Gefühle der Minderwertigkeit zu überwinden.
Adlers Individualpsychologie legt großen Wert auf die sozialen und gemeinschaftlichen Dimensionen des Lebens, das individuelle Streben nach Sinn und Bedeutung sowie die Fähigkeit des Menschen, sein eigenes Leben bewusst zu gestalten und zu verändern.
Carl Gustav Jung (1875-1961)
Carl Gustav Jung war ein Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker. Er distanzierte sich aus mehreren Gründen von der klassischen Psychoanalyse, die maßgeblich von Sigmund Freud geprägt wurde:
Unterschiedliche Auffassung des Unbewussten: Einer der zentralen Unterschiede zwischen Jung und Freud lag in ihrer Auffassung des Unbewussten. Freud sah das Unbewusste hauptsächlich als ein Reservoir für verdrängte sexuelle und aggressive Triebe. Jung hingegen entwickelte das Konzept des kollektiven Unbewussten, das archetypische Bilder und Symbole enthält, die allen Menschen gemeinsam sind und nicht nur aus individuellen Erfahrungen resultieren. Diese Auffassung führte zu einem fundamentalen Bruch mit der freudianischen Perspektive.
Kritik an der Betonung der Sexualität: Jung kritisierte die freudianische Psychoanalyse für ihre starke Betonung der Sexualität als Haupttriebfeder des menschlichen Verhaltens. Während Freud den Sexualtrieb als zentrales Element für die Entwicklung von Neurosen ansah, hielt Jung diesen Fokus für zu einseitig. Er war der Ansicht, dass psychische Energie, die er als „Libido“ bezeichnete, vielfältiger sei und nicht nur auf sexuelle Triebe reduziert werden könne. Jung legte mehr Wert auf spirituelle und kulturelle Aspekte der Psyche.
Erweiterung des psychischen Modells: Jung entwickelte ein umfassenderes Modell der Psyche, das neben dem Unbewussten auch das kollektive Unbewusste und Archetypen beinhaltete. Er führte Konzepte wie die Persona (die soziale Maske, die ein Individuum nach außen trägt), den Schatten (die unbewussten, verdrängten Teile der Persönlichkeit) und die Anima/Animus (die weiblichen/männlichen Aspekte im Unbewussten des Mannes/der Frau) ein. Diese Konzepte standen im Gegensatz zur freudianischen Sichtweise, die sich stärker auf das Individuelle und das Pathologische konzentrierte.
Spirituelle und religiöse Dimensionen: Jung legte großen Wert auf die spirituellen und religiösen Aspekte der menschlichen Psyche. Er war der Ansicht, dass der menschliche Geist nach einem höheren Sinn und einer Verbindung zum Ganzen strebt, was in religiösen und mythischen Symbolen Ausdruck findet. Diese Sichtweise stand im Gegensatz zu Freuds eher materialistischer und atheistisch geprägter Weltsicht, die Religion oft als Illusion und Ausdruck neurotischer Bedürfnisse betrachtete.
Entwicklung eigener methodischer Ansätze: Jung entwickelte eigene Methoden, wie die Traumdeutung und die aktive Imagination, um tiefere Einsichten in die Psyche zu gewinnen. Er sah Träume nicht nur als Ausdruck verdrängter Wünsche (wie Freud), sondern als Wegweiser für die persönliche Entwicklung und als Mittel zur Kommunikation mit dem Unbewussten. Die aktive Imagination war eine Methode, um bewusst mit den Inhalten des Unbewussten zu interagieren, was über die herkömmliche psychoanalytische Praxis hinausging.
Nach seiner Abkehr von der freudianischen Psychoanalyse nannte Jung seine psychotherapeutische Tätigkeit “Analytische Psychologie” oder “Jung’sche Psychologie”. Diese betonte das Verständnis und die Integration des Unbewussten, die individuelle Entwicklung hin zur Individuation (dem Prozess der Verwirklichung des eigenen Selbst) und die Bedeutung von Symbolen und Archetypen in der Psyche. Die Analytische Psychologie ist eine ganzheitliche Betrachtung der Psyche, die nicht nur das Pathologische, sondern auch das Potenzial für Wachstum, Heilung und spirituelle Entwicklung betont.
Melanie Klein (1882-1960)
Melanie Klein war eine bedeutende Psychoanalytikerin. Sie entwickelte ihre eigene Richtung innerhalb der Psychoanalyse, die sich in einigen wichtigen Punkten von der klassischen freudianischen Lehre unterschied. Ihre Distanzierung von der Freudianischen Psychoanalyse und die Entwicklung ihrer eigenen Ansätze basierten auf mehreren zentralen Aspekten:
Verschiebung des Fokus auf die früheste Kindheit: Während Freud sich vor allem auf die Entwicklungsstadien vom ersten bis zum sechsen Lebensjahr konzentrierte (orale, anale und phallische Phase), verlagerte Klein den Fokus auf frühe Entwicklungsstadien, insbesondere auf die ersten Lebensmonate des Kindes. Sie untersuchte die psychischen Vorgänge, die bereits in dieser frühesten Phase stattfinden, und betonte die Bedeutung der ersten Mutter-Kind-Interaktionen. In dieser Phase sah sie die Grundlagen für die spätere psychische Entwicklung gelegt.
Theorie der Objektbeziehungen: Klein legte den Schwerpunkt auf die “Objektbeziehungen”, also die frühesten emotionalen und sozialen Beziehungen des Kindes zu seinen primären Bezugspersonen (den “Objekten”). Sie untersuchte, wie das Kind innerlich seine Bezugspersonen (vor allem die Mutter) erlebt und wie diese frühen Beziehungen die Entwicklung von Ich und Über-Ich beeinflussen. Klein postulierte, dass diese inneren “Objekte” und die mit ihnen verbundenen aggressiven Phantasien und Ängste eine entscheidende Rolle in der Persönlichkeitsentwicklung spielen. Dies unterschied sich deutlich von Freuds Fokus auf den libidinösen Trieb und dessen spätere Entwicklung. In Bezug auf den Aggressionstrieb gibt es keine wesentliche Differenz zur Freudschen Auffassung.
Entwicklung neuer Konzepte wie der “paranoisch-schizoiden Position” und der “depressiven Position”: Klein führte neue theoretische Konzepte ein, wie die “paranoisch-schizoide Position” und die “depressive Position”, die die frühesten Erfahrungen des Kindes mit Aggression, Angst und Liebe beschreiben. Diese Konzepte boten eine neue Sichtweise auf die inneren Konflikte und die psychische Entwicklung des Kindes. Sie sah diese Positionen als grundlegende Mechanismen, die bereits im Säuglingsalter entstehen und das spätere emotionale Leben prägen.
Nutzung des Spiels als therapeutisches Mittel: Klein entwickelte die Technik der Spieltherapie, um die unbewussten Fantasien und Konflikte von Kindern aufzudecken. Im Gegensatz zur klassischen freudianischen Analyse, die stark auf die verbale Ausdrucksfähigkeit des Patienten setzte, sah Klein im Spielverhalten von Kindern eine Möglichkeit, deren unbewusste Prozesse direkt zu beobachten und zu analysieren. Durch das Spiel konnte sie tiefere Einblicke in die psychische Struktur von Kindern gewinnen, insbesondere in jene Aspekte, die in den frühen Entwicklungsphasen relevant sind.
Anderer Umgang mit Aggression und Schuldgefühlen: Klein betonte die Bedeutung von Aggression und Schuldgefühlen in der psychischen Entwicklung weitaus stärker als Freud. Sie sah diese Emotionen als zentral für die Entwicklung des Über-Ichs und die Regulation der Beziehungen zu inneren Objekten. In ihrer Arbeit beschäftigte sie sich intensiv mit den destruktiven Impulsen des Kindes und den daraus resultierenden Schuldgefühlen, die ihrer Ansicht nach wesentlich für die Persönlichkeitsentwicklung sind.
Obwohl Melanie Klein weiterhin im Rahmen der Psychoanalyse arbeitete, bezeichnete sie ihre Ansätze nicht explizit mit einem neuen Namen, wie es einige andere Abweichler von der Freudianischen Lehre taten. Ihre Arbeiten und Theorien wurden jedoch als “Klein’sche Psychoanalyse” oder “Klein’sche Schule” bekannt. Diese Entwicklung führte zur Gründung der sogenannten “britischen Objektbeziehungstheorie”, die Klein als eine ihrer Hauptfiguren anerkennt. Die Klein’sche Psychoanalyse wird heute als ein eigenständiger Zweig innerhalb der Psychoanalyse betrachtet, der sich durch seine spezifischen Konzepte und Methoden von der klassischen Freud’schen Lehre unterscheidet.
Harald Schulz-Hencke (1892-1953)
Harald Schulz-Hencke war ein deutscher Psychiater und Psychotherapeut. Er distanzierte sich aus mehreren Gründen von der klassischen Psychoanalyse:
Kritik an der Freud’schen Triebtheorie: Schulz-Hencke kritisierte die Freud’sche Psychoanalyse, insbesondere die Triebtheorie, die den menschlichen Antrieb primär auf sexuelle und aggressive Triebe reduzierte. Er empfand diesen Ansatz als zu eng und einseitig, weil er andere wichtige Faktoren, wie soziale und kulturelle Einflüsse, vernachlässigte. Schulz-Hencke suchte nach einem Ansatz, der die menschliche Psyche umfassender und integrativer betrachtet.
Forderung nach einem realitätsnahen Ansatz: Im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse, die stark auf das Unbewusste und die Vergangenheit fokussiert war, betonte Schulz-Hencke die Bedeutung der aktuellen Lebenssituation und der realen sozialen Beziehungen des Individuums. Er war der Ansicht, dass psychische Probleme nicht nur aus verdrängten Trieben resultieren, sondern auch aus gegenwärtigen, realen Konflikten und Herausforderungen im Leben.
Einfluss von biologischen und sozialen Faktoren: Schulz-Hencke legte Wert darauf, dass sowohl biologische als auch soziale Faktoren bei der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen berücksichtigt werden. Er sah die Notwendigkeit, den Menschen als ein biopsychosoziales Wesen zu verstehen, das von verschiedenen Dimensionen beeinflusst wird, und kritisierte die Psychoanalyse dafür, dass sie diesen umfassenden Ansatz nicht ausreichend integrierte.
Entwicklung eines eigenen theoretischen Ansatzes: Schulz-Hencke arbeitete an der Entwicklung einer eigenen Theorie, die er als integrativer und realitätsnaher betrachtete. Er kombinierte dabei Elemente aus der Psychoanalyse mit Erkenntnissen aus der Biologie, Soziologie und anderen Disziplinen, um ein breiteres Verständnis für die Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten psychischer Störungen zu entwickeln.
Nach seiner Abkehr von der klassischen Psychoanalyse entwickelte Schulz-Hencke die “Neopsychoanalyse” oder auch “Neopsychotherapie”. Dieser Ansatz versuchte, die traditionellen psychoanalytischen Konzepte mit neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verbinden und den Fokus auf die gegenwärtigen sozialen und biologischen Bedingungen des Patienten zu legen. Die Neopsychoanalyse sollte einen realitätsnäheren, integrativen Ansatz bieten, der die Komplexität menschlicher Erfahrungen und psychischer Störungen besser erfasst.
Jacques Lacan (1901-1981)
Jacques Lacan war ein französischer Psychoanalytiker. Er distanzierte sich weitgehend von anderen Schulen der Psychoanalyse und entwickelte durch seine vermeintliche “Rückkehr zu Freud” eine radikal neue quasi philosophische Interpretation der Freud’schen Theorie. Seine Kritik und Innovationen, im Stil mehr Nietzsche als Freud folgend, führten bei ihm zu einer eigenwilligen Transformation der freudschen Psychoanalyse zum Lacanianismus einer Form von intellektuellem Mystizismus. Dies bedeutet, dass einige seiner Auffassungen nur schwer intellektuell nachvollziehbar sind und mehr Glaubenssätzen oder Beschwörungsformeln ähneln. Hier sind einige Gründe für seine Distanzierung von anderen psychoanalytischen Schulen und die Art und Weise, wie er seine psychotherapeutische Tätigkeit selbst konzipierte:
Kritik an den Abweichungen der post-freudianischen Psychoanalyse: Lacan kritisierte die Entwicklungen der Psychoanalyse nach Freud. Er setzte sich in seinem Werk für eine angebliche “Rückkehr zu Freud” ein. Damit ist eine sehr allgemein verstandene Beschäftigung mit den Texten und Gedanken von Sigmund Freud gemeint. Besonders die gängigen psychoanalytischen Theorien seiner Zeit kritisierte Lacan grundlegend, etwa die Ich-Psychologie, die Objektbeziehungstheorie und besonders die Schule von Melanie Klein. Lacan warf ihnen vor, das Freudsche Erbe verraten zu haben und daher den eigentlichen Status des psychoanalytischen Diskurses zu verkennen.
Lacan sah sich als einzigen legetimen Erben Freuds, als sein erstgeborener Nachfolger, der keine Geschwister dulden konnte, deshalb wandte er sich vermutlich gegen alle analytischen Rivalen.
Er war der Ansicht, dass viele der damaligen Psychoanalytiker Freuds Theorien verflacht und vereinfacht hätten. Lacan wollte zu den ursprünglichen Freudianischen Ideen zurückkehren, jedoch in einer Weise, die in seinem Sinne deren vermeintlich radikalen Charakter beibehält und weiterentwickelt.
Einführung der Sprachtheorie: Lacan sah die Sprache als zentralen Aspekt des Unbewussten und stellte die These auf, dass “das Unbewusste strukturiert ist wie eine Sprache”. Diese Aussage enthält aber bereits eine sehr vage Aussage. Denn was soll es genau bedeuten: “Wie eine Sprache”. Wenn Lacan davon ausginge, dass das Unbewusste der nicht-bewussten symbolischen Ordnung der Sprache ihres Subjekt entspricht, würde er diesen Satz anders formulieren und sagen, dass das Unbewusste die noch nicht bewussten oder verdrängten sprachlichen Inhalte des Subjekts enthält. Diese Unklarheit in Bezug auf die Sprachtheorie ist typisch für viele Aussagen Lacans, die mehr Andeutungen sind als klare Beschreibungen. Immerhin kann man nachvollziehen, dass er einen kulturwissenschaftlichen Ansatz der Psychoanalyse verfolgt, wenn er meint, dass das Subjekt in der Sprache entsteht und dass die Struktur der Sprache das Unbewusste formt. Es ist an dieser Stelle zu betonen, dass das Unbewusste nicht gleichzusetzen ist mit Freuds Konzeption des Es. Insofern Lacan nur vom Unbewussten spricht, könnte er damit auch schlicht Teile des Ichs meinen, die partiell unbewusst (vorbewusst) sind oder momentan der Verdrängung unterliegen und deshalb dem Es zuzurechnen sind, aber als verdrängte Ich-Abkömmlinge einer, wenn auch verzerrten symbolischen Ordnung, unterliegen.
Das Konzept des “Spiegelstadiums”: Lacan führte das Konzept des “Spiegelstadiums” ein, um die Entwicklung des Ichs zu beschreiben. Er argumentierte, dass das Ich nicht aus einer kohärenten inneren Substanz besteht, sondern vielmehr eine Illusion der Einheit ist, die in einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kindes entsteht, wenn es sein Spiegelbild erkennt. Diese Idee verschob den Fokus auf die Rolle der Imagination und der Symbolik in der Identitätsbildung und der Ich-Entwicklung. Das Spiegelstadium ist die Imagination der Einheit des Ichs, die unabhängig von der Allmacht der Mutter über das Kind funktioniert und mit dem das Kind sich quasi selbst ermächtigt und ein Ich gegen die Mutter und deren Kontrollwunsch behauptet. Lacan entwickelte in diesem Zusammenhang auch sein Konzept des Imaginären, auf das er Missverständnisse, Fehlannahmen etc. zurückführt.
Das Reale: Das Reale, nach Lacan, ist das, was außerhalb der Sprache liegt und der Symbolisierung absolut nicht zugänglich ist. Man könnte das Reale auch beschreiben als das vorsprachlich Traumatisierende, etwas passiv, rein körperlich Erinnertes. In Seminar XI – Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1963–1964) definiert Lacan das Reale als „das Unmögliche“, weil es unmöglich vorstellbar, unmöglich in das Symbolische zu integrieren und unmöglich zu erreichen ist. Es ist dieser Widerstand gegen die Symbolisierung, der dem Realen seine traumatische Qualität verleiht. Schließlich ist das Reale das Objekt der Angst, sofern es keine mögliche Vermittlung gibt und das wesentliche Objekt, das kein Objekt mehr ist, sondern dieses Etwas, mit dem alle Wörter aufhören und alle Kategorien versagen, das Objekt der Angst par Exzellenz. Weil Lacan fasziniert war von Courbet Gemälde: “Der Ursprung der Welt”, kann vermutet werden, dass für Lacan dieses nicht-symbolisierbare Reale der traumatisierende Schoß der Mutter war. Das auf diesen Schoß gerichtete Begehren könnte man sich dann als libidinösen Begehrens vorstellen oder aber in Form eines Begehrens, das zurückstrebt in ein intrauterines Wohlbefinden und Behütetsein, das man damit auch ein symbiotisches Begehren nennen könnte. Wie auch immer findet Lacan für diese Zusammenhänge keine Sprache und es bleibt bei Andeutungen, sodass man vermuten muss, dass er seine eigenen traumatischen Erfahrungen bezüglich seiner frühen Muttererfahrungen nicht hinreichend überwinden konnte und seine gesamte Theorie obwohl in einzelnen Aspekten interessant, insgesamt einer intellektualisierenden Abwehrstruktur entspricht.
Distanzierung von Freuds Konzeption des Wiederholungszwangs: Während die klassische Psychoanalyse die Triebwünsche auf der Basis des Lust-Unlust-Prinzips als Ausdruck des Wiederholungszwangs versteht, so sieht Lacan das Individuum von vornherein in einem Gestrüpp von Verboten, Verführungen und entfremdeter Sprache gefangen. Das Begehren ist für ihn nichts Ursprüngliches, was naiv nach Wiederholung verlangen könnte, sondern das Begehren ist Ausdruck eines unentwirrbaren Chaos von Wünschen und Verboten vor allem angesichts des Realen, dem Begehren eines unaussprechlichen Tabus. Dabei ist das Begehren nicht nur von Verboten korrumpiert, sondern letztlich auch noch unstillbar, weil nach absoluter und bedingungsloser Liebe trachtend.
Obwohl diese Konzeption des Begehrens vermutlich der Realität von komplexer Konflikthaftigkeit insbesondere schwer traumatisierter Menschen nahe kommt, ist es kein Konzept mehr, das man im Rahmen einer Psychotherapie nutzbringend verallgemeinernd verwenden könnte, schon allein deswegen nicht, weil es sich gegen jede Art einer heuristischen Anwendbarkeit sträubt. Vor allem ist es nicht sinnvoll, ein Konfliktmodell verallgemeinernd zugrundzulegen, dass von einer primären, nicht auflösbaren sadomasochistischen Mutter-Kind-Symbiose ausgeht, obwohl solche Entwicklungen selbstverständlich in Einzelfällen möglich sind. Aber gerade dann muss man kritisch hinterfragen, ob die Psychoanalyse als Methode gerade in solchen Fällen von schweren Traumatisierung viel helfen kann?
Wenn Lacan sein eigenen Schicksal mithilfe seiner Theorie auf irgendeine Weise verarbeiten konnte, ist das sicherlich ein Glücksfall für ihn selbst, aber nicht jede Entwicklung verläuft nach diesem Muster. Deshalb birgt der Wahrheitswert seiner Theorien, verallgemeinernd auf Behandlungen angewendet, ein großes Risiko von Fehlinterpretationen. Dass Lacan gerade auch wegen seiner klinischen Praxis aus der Gemeinde der Psychoanalytiker exkommuniziert wurde und nicht etwa wegen seiner Theorien, ist deshalb konsequent.
Kritik am therapeutischen Setting: Lacan lehnte die standardisierten Methoden der Psychoanalyse, wie die klassische 50-minütige Sitzung, ab. Er führte das Konzept der “variablen Sitzungsdauer” ein, die es dem Therapeuten erlaubte, die Länge der Sitzung je nach Bedarf und therapeutischer Situation flexibel zu gestalten. Wenn der Patient kein interessante Assoziationen lieferte, brach Lacan die Sitzung ab und setze mit einem anderen Patienten fort. Widerstandsanalyse war damit nicht mehr angesagt. Dies war ein Bruch mit der traditionellen Psychoanalyse, die eine gleichbleibende Sitzungsdauer für alle Patienten vorschrieb, vor allem, weil nur so sinnvoll am Widerstand gearbeitet werden kann.
Jacques Lacan bezeichnete seine Weiterentwicklung der Psychoanalyse nicht als eine völlig neue Richtung, sondern er sprach von einer “Rückkehr zu Freud” (“retour à Freud”), um zu betonen, dass er die ursprünglichen Intentionen Freuds wieder aufgreifen und radikalisieren wollte. Seine Version der Psychoanalyse wird jedoch allgemein als “Lacanianische Psychoanalyse” bezeichnet. Dieser Begriff umfasst seine speziellen Theorien über das Unbewusste, die Sprache, das Symbolische, das Imaginäre und das Reale sowie seine Methoden, wie die variable Sitzungsdauer und seine besondere Interpretation der Übertragung.
Die Lacanianische Psychoanalyse hat große Auswirkungen auf die Literaturtheorie, die Kulturwissenschaften und die Philosophie vor allem in Frankreich gehabt und galt lange, insbesondere in linken Kreisen, als eine der bedeutendsten Entwicklungen in der Geschichte der Psychoanalyse nach Freud. Obwohl als Kliniker m.E. nicht überzeugend, war er sicherlich als exzentrisch-kreativer Mensch und Philosoph, so wie auch Nietzsche, eine herausragende Persönlichkeit der Zeitgeschichte.
John Bowlby (1907-1990)
John Bowlby war ein britischer Psychiater und Psychoanalytiker. Er war in verschiedenster Hinsicht das genaue Gegenteil zu Lacan. Aber auch er distanzierte sich aus mehreren Gründen von der traditionellen Psychoanalyse:
Unzufriedenheit mit der Fokussierung auf intrapsychische Konflikte: Bowlby war unzufrieden mit der klassischen Psychoanalyse, weil sie sich stark auf intrapsychische Konflikte und unbewusste Prozesse konzentrierte. Er kritisierte, dass diese Sichtweise die Rolle realer Umweltfaktoren, insbesondere der frühen Bindungserfahrungen und der Qualität der Beziehungen zu den primären Bezugspersonen, vernachlässigte.
Empirische Forschung und Beobachtung: Bowlby war ein überzeugter Befürworter empirischer Forschung und sah die Notwendigkeit, psychologische Theorien auf einer soliden wissenschaftlichen Basis aufzubauen. Er war von den Ergebnissen seiner eigenen Forschungen und den Arbeiten anderer, wie etwa denen von Harry Harlow und Mary Ainsworth, stark beeinflusst. Diese Studien zeigten die entscheidende Bedeutung von frühen Bindungserfahrungen und realen zwischenmenschlichen Beziehungen für die Entwicklung des Kindes. Die Psychoanalyse bot ihm in dieser Hinsicht nicht die wissenschaftliche Strenge, die er anstrebte.
Einfluss der Ethologie und Bindungstheorie: Bowlby war von der Ethologie, insbesondere den Arbeiten von Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen, inspiriert. Diese Forscher betonten die Bedeutung von evolutionären und biologischen Faktoren in Bezug auf Verhalten. Bowlby wandte diese Prinzipien auf menschliche Beziehungen an und entwickelte die Bindungstheorie, die postuliert, dass die Bindung eines Kindes an seine primären Bezugspersonen von zentraler Bedeutung für seine emotionale und soziale Entwicklung ist. Diese Theorie stand im Gegensatz zur psychoanalytischen Auffassung, die Bindungsverhalten oft als Ausdruck intrapsychischer Konflikte und Triebe betrachtete.
Kritik an der Vernachlässigung realer Beziehungsdynamiken: Bowlby kritisierte die Psychoanalyse dafür, dass sie die tatsächlichen Beziehungsdynamiken zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen nicht ausreichend berücksichtigte. Er betonte, dass reale Trennungen, Verluste und unsichere Bindungen tiefgreifende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit eines Kindes haben können, die nicht allein durch die Erforschung innerer Konflikte erklärt werden können.
Nach seiner Abkehr von der klassischen Psychoanalyse entwickelte John Bowlby die Bindungstheorie (Attachment Theory), die er als Grundlage für seine psychotherapeutische Arbeit und Forschung nutzte. Die Bindungstheorie konzentriert sich auf die Bedeutung der frühen Bindungen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen und deren Einfluss auf die emotionale und soziale Entwicklung. Bowlby betrachtete sichere Bindungen als essentiell für die psychische Gesundheit und glaubte, dass unsichere oder gestörte Bindungen zu verschiedenen psychischen Störungen beitragen können.
Die psychotherapeutische Arbeit, die auf seiner Bindungstheorie basierte, war darauf ausgerichtet, die Bindungserfahrungen und -muster eines Individuums zu verstehen und gegebenenfalls zu modifizieren, um psychische Probleme zu behandeln. Seine Arbeit legte den Grundstein für eine breite Palette von therapeutischen Ansätzen, die sich mit den Auswirkungen von frühen Bindungserfahrungen auf das spätere Leben beschäftigen.
Heinz Kohut (1913-1981)
Heinz Kohut war ein österreichisch-amerikanischer Psychoanalytiker. Er distanzierte sich im Laufe seiner Karriere teilweise von der klassischen Psychoanalyse, insbesondere von den freudianischen Konzepten, und entwickelte eine neue Richtung, die als “Selbstpsychologie” bekannt wurde. Die Gründe für seine Distanzierung und die Entwicklung seines Ansatzes lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Unzufriedenheit mit der Triebtheorie: Kohut war unzufrieden mit der Freud’schen Betonung der Triebtheorie, die menschliches Verhalten hauptsächlich auf sexuelle und aggressive Triebe zurückführte. Er fand diesen Ansatz zu begrenzt, um die Komplexität menschlicher Erfahrungen und psychischer Störungen zu erklären. Kohut interessierte sich mehr für die Entwicklung und die Störungen des Selbst als für Triebkonflikte.
Modifikation an der klassischen Übertragungsanalyse: In der klassischen Psychoanalyse wurde Übertragung als Wiederholung vergangener Konflikte in der therapeutischen Beziehung betrachtet. Kohut stellte fest, dass viele seiner Patienten, insbesondere solche mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen, nicht in der Lage waren, die klassische Übertragungsdynamik zu entwickeln. Stattdessen zeigten sie Formen der Übertragung, die eher darauf hindeuteten, dass sie grundlegende Bedürfnisse nach Bestätigung und Empathie in der therapeutischen Beziehung hatten. Er entwickelte das Konzept der “Spiegelübertragung” und der “idealisierten Übertragung”, die diese Bedürfnisse widerspiegeln.
Fokus auf das Selbst: Kohut legte den Schwerpunkt auf die Entwicklung des Selbst und dessen Bedeutung für psychische Gesundheit. Er argumentierte, dass ein starkes, kohärentes Selbst notwendig sei, um sich in der Welt sicher und erfolgreich zu bewegen. Störungen des Selbst, wie sie bei narzisstischen Persönlichkeitsstörungen auftreten, seien weniger auf Triebkonflikte zurückzuführen als auf Defizite in der frühen Eltern-Kind-Beziehung, insbesondere im Hinblick auf Empathie und Bestätigung.
Empathie als zentrales therapeutisches Werkzeug: Kohut betonte die Bedeutung von Empathie in der therapeutischen Beziehung. Während die klassische Psychoanalyse Empathie als eine Technik unter vielen betrachtete, sah Kohut sie als das zentrale Instrument, um das Selbst des Patienten zu verstehen und zu stärken. Er sah Empathie nicht nur als Methode, sondern auch als eine heilende Erfahrung für den Patienten, die eine korrigierende emotionale Erfahrung ermöglicht.
Nach seiner Abkehr von der klassischen Psychoanalyse nannte Kohut seinen Ansatz “Selbstpsychologie”. Diese Richtung konzentriert sich auf das Verständnis und die Behandlung von Störungen des Selbst, wobei der therapeutische Fokus auf der Stärkung des Selbstgefühls durch eine empathische, unterstützende therapeutische Beziehung liegt. Die Selbstpsychologie hat besonders bei der Behandlung von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen und anderen Störungen, bei denen das Selbstgefühl des Patienten im Vordergrund steht, Anwendung gefunden. Kohut’s Arbeit erweiterte das psychoanalytische Verständnis von Persönlichkeitsstörungen und legte den Grundstein für eine Vielzahl von Weiterentwicklungen im Bereich der Psychotherapie.
Aaron T. Beck (1921-2021)
Aaron T. Beck war ein amerikanischer Psychiater und Psychotherapeut. Er distanzierte sich aus mehreren Gründen von der Psychoanalyse:
Unzufriedenheit mit den Therapieergebnissen: Beck begann seine Karriere als Psychoanalytiker, war jedoch zunehmend unzufrieden mit den Ergebnissen, die er bei seinen Patienten beobachtete. Er stellte fest, dass viele Patienten trotz intensiver psychoanalytischer Behandlung keine signifikanten Fortschritte machten. Diese Unzufriedenheit führte ihn dazu, die Wirksamkeit der Psychoanalyse in Frage zu stellen.
Mangelnde empirische Fundierung: Beck kritisierte die Psychoanalyse dafür, dass sie auf Theorien basierte, die schwer empirisch zu überprüfen waren. Die Konzepte der Psychoanalyse, wie das Unbewusste und die Interpretation von Träumen, erschienen ihm oft zu vage und spekulativ, was ihre wissenschaftliche Überprüfung erschwerte. Beck bevorzugte Ansätze, die klarer definiert und durch empirische Forschung unterstützt werden konnten.
Entwicklung der kognitiven Therapie: Durch seine eigene Forschung, insbesondere in der Behandlung von Depressionen, entdeckte Beck, dass viele seiner Patienten negative Denkmuster aufwiesen, die ihre emotionalen Probleme aufrechterhielten. Er stellte fest, dass diese „automatischen Gedanken“ einen direkten Einfluss auf die Stimmung und das Verhalten hatten. Dies führte ihn dazu, einen neuen Therapieansatz zu entwickeln, der sich darauf konzentrierte, diese negativen Denkmuster zu identifizieren und zu verändern.
Fokus auf das Hier und Jetzt: Beck war der Ansicht, dass die Psychoanalyse zu sehr auf die Vergangenheit fokussiert war, insbesondere auf Kindheitserfahrungen und unbewusste Konflikte. Im Gegensatz dazu legte er bei seiner therapeutischen Arbeit den Schwerpunkt auf die aktuellen Gedanken und Überzeugungen seiner Patienten. Er glaubte, dass es effektiver sei, sich auf die gegenwärtigen kognitiven Prozesse zu konzentrieren, die das momentane emotionale Erleben beeinflussen.
Nachdem er sich von der Psychoanalyse distanziert hatte, entwickelte und praktizierte Aaron T. Beck die kognitive Therapie, die später als kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bekannt wurde. Dieser Ansatz konzentriert sich darauf, dysfunktionale Denkmuster und Überzeugungen zu identifizieren und zu modifizieren, um emotionale und Verhaltensprobleme zu lindern. Die KVT ist heute eine der am weitesten verbreiteten und wissenschaftlich gut untersuchten Therapieformen, die sich durch ihre empirische Fundierung und praktische Anwendbarkeit auszeichnet.
Paul Watzlawick (1921-2007)
Paul Watzlawick war ein prominenter Psychotherapeut und Kommunikationswissenschaftler. Er distanzierte sich aus mehreren Gründen von der traditionellen Psychoanalyse:
Kritik am Fokus auf das Individuum: Watzlawick kritisierte die Psychoanalyse dafür, dass sie sich zu sehr auf das Individuum und dessen innere Konflikte konzentriert, während sie die sozialen und kommunikativen Kontexte, in denen das Individuum lebt, vernachlässigt. Er war der Ansicht, dass psychische Probleme häufig in zwischenmenschlichen Interaktionen und Kommunikationsprozessen wurzeln, die von der Psychoanalyse zu wenig beachtet werden.
Ablehnung der langen und introspektiven Analyse: Watzlawick war der Meinung, dass die Psychoanalyse durch ihre langwierigen, introspektiven Methoden oft nicht die notwendigen Veränderungen in der Kommunikation und den Beziehungen der Menschen bewirken kann. Er sah die Gefahr, dass Patienten in endlosen Analysen gefangen bleiben, ohne praktische Lösungen für ihre Probleme zu finden.
Einfluss der Systemtheorie: Watzlawick ließ sich stark von der Systemtheorie und der Kybernetik inspirieren. Er betrachtete psychische Störungen als Probleme, die aus dysfunktionalen Kommunikationsmustern innerhalb sozialer Systeme, insbesondere in Familien, entstehen. Diese systemische Sichtweise steht im Gegensatz zur Psychoanalyse, die eher intrapsychische Prozesse in den Mittelpunkt stellt.
Pragmatische und lösungsorientierte Ansätze: Watzlawick favorisierte Ansätze, die direkt auf die Lösung von Problemen abzielen, anstatt tief in die Vergangenheit des Patienten einzutauchen. Er sah in der Psychoanalyse die Gefahr, dass sie sich zu sehr auf die Ursprünge von Problemen konzentriert, anstatt auf deren gegenwärtige Aufrechterhaltung und mögliche Lösungen.
Nach seiner Abkehr von der klassischen Psychoanalyse bezeichnete Paul Watzlawick seine psychotherapeutische Tätigkeit als “systemische Therapie” oder “kommunikationsorientierte Therapie”. Er war ein prominenter Vertreter der sogenannten “Kurzzeittherapie” und “Lösungsorientierten Therapie”, bei denen der Fokus auf den aktuellen Kommunikationsprozessen und deren Veränderung lag, um das Leiden des Patienten zu lindern. Watzlawick betonte, dass es nicht immer notwendig sei, die tiefsten Ursachen eines Problems zu ergründen, sondern dass es oft hilfreicher sei, die Art und Weise zu ändern, wie Menschen über ihre Probleme kommunizieren und interagieren.
Alice Miller (1923-2010)
Alice Miller war eine bekannte Schweizer Psychologin und Psychoanalytikerin. Sie distanzierte sich im Laufe ihrer Karriere von der traditionellen Psychoanalyse. Es gab mehrere Gründe für diese Abkehr:
Kritik an der Verharmlosung von Kindheitstraumata: Miller war der Ansicht, dass die Psychoanalyse die traumatischen Erfahrungen von Kindern, insbesondere Missbrauch und Misshandlung, oft nicht ernst genug nahm. Sie kritisierte, dass die Psychoanalyse häufig die Verantwortung für solche Traumata relativiere, indem sie die Eltern oder die Gesellschaft entlaste und die Symptome bei den Patienten als neurotische Projektionen behandelte.
Ablehnung der Theorie des Ödipuskomplexes: Miller lehnte die Freud’sche Theorie des Ödipuskomplexes ab, da sie diese als eine Art von Täuschung betrachtete, die den Fokus von tatsächlichen Misshandlungen und dem realen Leid von Kindern weglenkt. Sie sah in dieser Theorie eine Ideologie, die dazu beiträgt, das Leiden von Kindern zu verharmlosen.
Einsatz von „Verleugnung“ und „Verdrängung“: Miller kritisierte die Psychoanalyse dafür, dass sie Mechanismen wie Verdrängung und Verleugnung benutzte, um die tatsächlichen Ursachen psychischer Probleme zu verschleiern. Sie war der Meinung, dass diese Mechanismen dazu führen, dass Therapeuten und Patienten die Realität des erlittenen Kindesmissbrauchs und anderer traumatischer Erfahrungen ignorieren.
Fehlende Empathie in der klassischen Psychoanalyse: Sie argumentierte, dass die traditionelle psychoanalytische Haltung oft nicht empathisch genug sei, da sie dazu tendiere, die Gefühle und Erinnerungen des Patienten intellektuell zu analysieren und zu rationalisieren, anstatt sie mitfühlend zu validieren.
Nachdem sie sich von der Psychoanalyse distanziert hatte, bezeichnete Alice Miller ihre psychotherapeutische Tätigkeit als “Hilfe zur Selbsthilfe”. Sie legte den Schwerpunkt darauf, dass Patienten ihre eigenen Erfahrungen und Gefühle anerkennen und verstehen sollten, ohne diese durch theoretische Konstrukte zu verzerren oder zu verneinen. Miller betonte die Bedeutung von Authentizität und Ehrlichkeit im therapeutischen Prozess und forderte einen klaren und direkten Zugang zu den wahren Gefühlen und Erinnerungen, die oft in der Kindheit verwurzelt sind.
Helm Stierlin (1926-2021)
Helm Stierlin war ein deutscher Psychiater und Psychoanalytiker. Er distanzierte sich im Laufe seiner Karriere aus mehreren Gründen von der traditionellen Psychoanalyse:
Systemische Sichtweise: Stierlin entwickelte ein wachsendes Interesse an systemischen Ansätzen, insbesondere an der Familientherapie. Er erkannte, dass psychische Störungen nicht isoliert im Individuum, sondern im Kontext des gesamten Familiensystems verstanden werden sollten. Diese systemische Perspektive stand im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse, die vor allem das Individuum und seine inneren Konflikte im Fokus hat.
Kritik an der individuellen Pathologisierung: Stierlin kritisierte die Psychoanalyse dafür, dass sie oft dazu neigt, das Individuum für psychische Probleme verantwortlich zu machen, ohne ausreichend die Einflüsse des sozialen und familiären Umfelds zu berücksichtigen. Er sah die Gefahr, dass durch diese Fokussierung die Beziehungsdynamiken innerhalb der Familie übersehen werden könnten, die oft eine zentrale Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychischen Störungen spielen.
Betonung der Interaktionen: Stierlin legte großen Wert auf die Interaktionen und Kommunikationsmuster innerhalb der Familie. Anstatt sich auf die inneren Konflikte eines einzelnen Familienmitglieds zu konzentrieren, analysierte er, wie familiäre Beziehungen und die Rollen, die Mitglieder innerhalb der Familie einnehmen, zu psychischen Problemen beitragen können.
Kritik an der Langwierigkeit der Psychoanalyse: Stierlin war der Ansicht, dass die traditionelle Psychoanalyse oft zu langwierig und aufwendig ist, ohne notwendigerweise zu nachhaltigen Ergebnissen zu führen. Er suchte nach Methoden, die schneller und effektiver die Probleme der Patienten in ihrem sozialen Kontext bearbeiten konnten.
Nach seiner Abkehr von der klassischen Psychoanalyse entwickelte und praktizierte Helm Stierlin die systemische Therapie oder auch systemische Familientherapie. Diese Therapieform betont die Bedeutung von Beziehungsstrukturen und Kommunikationsmustern innerhalb von Systemen, insbesondere in Familien. Stierlin konzentrierte sich darauf, wie Individuen innerhalb ihres sozialen Umfelds interagieren und wie diese Interaktionen zur Entstehung von psychischen Problemen beitragen können. Anstatt individuelle Symptome isoliert zu betrachten, wird im systemischen Ansatz die gesamte Dynamik des Systems, in dem das Individuum lebt, analysiert und behandelt.
Joseph Lichtenberg (1925-2021)
Joseph Lichtenberg war ein bedeutender amerikanischer Psychoanalytiker. Er distanzierte sich nicht so sehr von der Psychoanalyse im Sinne einer völligen Abkehr, sondern erweiterte und modifizierte den psychoanalytischen Ansatz, um ihn an neue Erkenntnisse und klinische Bedürfnisse anzupassen. Hier sind die zentralen Gründe für seine Weiterentwicklung der Psychoanalyse und wie er seine psychotherapeutische Tätigkeit danach bezeichnete:
Erweiterung der Psychoanalyse durch Affekt- und Motivationssysteme: Lichtenberg kritisierte die klassische Psychoanalyse, insbesondere den freudianischen Fokus auf Triebe und Sexualität als zentrale Motivationssysteme des Menschen. Er argumentierte, dass menschliches Verhalten und psychische Prozesse durch eine breitere Palette von Motivationssystemen beeinflusst werden. Dazu gehören nicht nur sexuelle und aggressive Triebe, sondern auch Affekte und Bedürfnisse wie Bindung, Autonomie, Neugierde, Fürsorge und Selbstwerterleben. Lichtenberg entwickelte eine Theorie, die diese verschiedenen Motivationssysteme integrierte und eine umfassendere Sicht auf die menschliche Psyche bot.
Einfluss von Entwicklungstheorien und neurobiologischen Erkenntnissen: Lichtenberg war stark von der Säuglingsforschung und der Entwicklungspsychologie beeinflusst. Er integrierte Erkenntnisse über die frühe emotionale und kognitive Entwicklung von Kindern sowie neurobiologische Forschungsergebnisse in seine Arbeit. Diese Perspektiven führten ihn dazu, den klassischen psychoanalytischen Fokus auf unbewusste Konflikte und Triebe zu erweitern und mehr Gewicht auf die frühkindliche Entwicklung und die Interaktion zwischen biologischen und sozialen Faktoren zu legen.
Beziehung und Intersubjektivität: Lichtenberg betonte die Bedeutung der therapeutischen Beziehung und der Intersubjektivität, das heißt, das wechselseitige Erleben und Verständnis zwischen Therapeut und Patient. Er sah die Therapie als einen dynamischen Prozess, bei dem beide Beteiligten sich gegenseitig beeinflussen und miteinander in Beziehung treten. Diese Sichtweise unterschied sich von der klassischen Psychoanalyse, die tendenziell eine distanziertere Haltung des Analytikers betonte.
Kritik an der traditionellen Technik der Neutralität: In der klassischen Psychoanalyse wurde oft betont, dass der Analytiker eine neutrale und abstinente Haltung einnehmen sollte. Lichtenberg hingegen argumentierte, dass ein solches Vorgehen nicht immer angemessen ist und dass die Empathie und das aktive Engagement des Therapeuten entscheidend für den Therapieerfolg sind. Er sah die therapeutische Beziehung als ein interaktives und affektives Geschehen, das in der Lage ist, die Motivation und das Wachstum des Patienten zu fördern.
Nach seiner Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie und Praxis bezeichnete Joseph Lichtenberg seine psychotherapeutische Arbeit als “Selbstpsychologie” und “Motivationssystemtheorie”. Die Selbstpsychologie war ursprünglich von Heinz Kohut begründet worden, doch Lichtenberg erweiterte diese durch die Integration seiner Theorie der Motivationssysteme. Diese Theorie sieht die menschliche Psyche als organisiert durch eine Reihe von Motivationssystemen, die das Verhalten, die Emotionen und die Beziehungen des Individuums steuern. Lichtenbergs Ansatz war ein bedeutender Schritt zur Anpassung der Psychoanalyse an moderne wissenschaftliche Erkenntnisse und therapeutische Bedürfnisse.
Gerd Rudolf (geb. 1939)
Gerd Rudolf ist ein deutscher Psychotherapeut und Psychoanalytiker. Er hat sich nicht vollständig von der Psychoanalyse distanziert, sondern eher eine kritische Weiterentwicklung und Integration verschiedener psychotherapeutischer Ansätze angestrebt. Während er weiterhin viele Grundprinzipien der Psychoanalyse anerkannte, hatte er einige spezifische Anliegen, die ihn dazu führten, seine therapeutische Praxis weiterzuentwickeln:
Erweiterung der psychoanalytischen Praxis: Gerd Rudolf erkannte die Notwendigkeit, die klassische Psychoanalyse zu erweitern, um den Herausforderungen der modernen Psychotherapie besser gerecht zu werden. Er sah, dass die traditionellen psychoanalytischen Methoden nicht immer ausreichten, um die Komplexität moderner psychischer Störungen, insbesondere Persönlichkeitsstörungen, zu behandeln.
Integration von psychodynamischen und tiefenpsychologischen Ansätzen: Rudolf bemühte sich um die Integration von verschiedenen psychodynamischen und tiefenpsychologischen Ansätzen in seine Arbeit. Er war der Ansicht, dass eine flexible Anwendung dieser Methoden, angepasst an die individuellen Bedürfnisse der Patienten, effektiver ist als die starren Regeln der klassischen Psychoanalyse.
Fokus auf Strukturdiagnostik: Rudolf legte großen Wert auf die Strukturdiagnostik, die sich mit der Erfassung der grundlegenden Persönlichkeitsstrukturen eines Patienten befasst. Diese Herangehensweise ermöglichte es ihm, die Therapie gezielter und spezifischer auf die individuellen Schwierigkeiten der Patienten abzustimmen. Er sah die Notwendigkeit, über die reine Symptomatik hinauszugehen und die zugrunde liegenden Persönlichkeitsstrukturen zu verstehen.
Kritik an der langwierigen und kostenintensiven Psychoanalyse: Ähnlich wie andere Therapeuten erkannte Rudolf, dass die klassische Psychoanalyse oft sehr zeitaufwendig und teuer war, was sie für viele Patienten unzugänglich machte. Er befürwortete kürzere, intensivere Therapieformen, die trotzdem tiefenpsychologisch fundiert sind.
Gerd Rudolf entwickelte seine psychotherapeutische Tätigkeit unter dem Begriff der “tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie” weiter. Dieser Ansatz baut auf den Grundlagen der Psychoanalyse auf, ist jedoch flexibler und stärker auf die Bedürfnisse und die spezifische Situation des Patienten abgestimmt. Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nutzt die Erkenntnisse der Psychoanalyse, aber in einer adaptierteren und häufig weniger intensiven Form, um eine breitere Anwendung in der therapeutischen Praxis zu ermöglichen.
Jürgen Körner (geb. 1944)
Jürgen Körner ist ein deutscher Psychotherapeut und Psychoanalytiker, der sich im Laufe seiner beruflichen Entwicklung teilweise von der klassischen Psychoanalyse distanzierte. Er war insbesondere durch seine kritische Auseinandersetzung mit den traditionellen psychoanalytischen Methoden und Theorien bekannt. Die wesentlichen Gründe für seine Distanzierung und die Art und Weise, wie er seine psychotherapeutische Tätigkeit danach bezeichnete, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Kritik an der traditionellen Freud’schen Psychoanalyse: Körner kritisierte, dass die klassische Psychoanalyse, wie sie von Freud entwickelt wurde, zu stark auf die Vergangenheit fokussiert und dabei aktuelle Lebensumstände und gesellschaftliche Einflüsse vernachlässigt. Er war der Meinung, dass die Psychoanalyse zu sehr auf das Unbewusste und frühkindliche Erfahrungen fixiert sei und dabei die gegenwärtigen Herausforderungen und die soziale Realität der Patienten nicht ausreichend berücksichtige.
Bedeutung der Gegenwart und des sozialen Kontexts: Körner legte großen Wert darauf, dass psychische Störungen nicht nur aus unbewussten Konflikten und vergangenen Traumata resultieren, sondern auch durch gegenwärtige soziale und interpersonelle Probleme beeinflusst werden. Er betonte die Notwendigkeit, die aktuelle Lebenssituation und die sozialen Beziehungen der Patienten stärker in die Therapie einzubeziehen.
Weiterentwicklung der psychotherapeutischen Methoden: Körner war bestrebt, die psychoanalytische Methode zu modernisieren und sie an die Bedürfnisse der Patienten in der heutigen Zeit anzupassen. Er kritisierte, dass die traditionelle Psychoanalyse oft zu starr und dogmatisch sei, und plädierte für eine flexiblere und anpassungsfähigere Therapieform, die den individuellen Bedürfnissen der Patienten gerecht wird.
Kritik am therapeutischen Setting: Körner äußerte sich auch kritisch über das klassische psychoanalytische Setting, das er als zu distanziert und autoritär empfand. Er setzte sich für eine gleichberechtigtere und authentischere therapeutische Beziehung ein, in der der Therapeut nicht nur als neutraler Beobachter agiert, sondern aktiv und empathisch in den therapeutischen Prozess eingebunden ist.
Nach seiner Weiterentwicklung und Kritik an der klassischen Psychoanalyse bezeichnete Jürgen Körner seine Arbeit als “Psychodynamische Psychotherapie”. Dieser Begriff reflektiert seinen Ansatz, der zwar auf den grundlegenden Theorien der Psychoanalyse basiert, aber gleichzeitig offen ist für neue Entwicklungen und Erkenntnisse, insbesondere aus der modernen Psychologie und den Sozialwissenschaften. Die Psychodynamische Psychotherapie zielt darauf ab, unbewusste Konflikte und vergangene Erfahrungen zu verstehen, legt aber ebenso großen Wert auf die Bearbeitung aktueller Probleme und die Stärkung der Ressourcen des Patienten im Hier und Jetzt.
Einordnungen und Bewertungen der Kritik
Wenn man von einem naturwissenschaftlichen Paradigma für die Beschreibungen von Prozessen in der Psychotherapie ausginge, würde man sicher bald zu der Fragestellung gelangen, welcher dieser Kritiker der freudschen Psychoanalyse denn nun ins Schwarze getroffen hätte? Geht man aber von einem kulturwissenschaftlichen Paradigma aus und fragt, warum Regisseure nach Murnau ganz andere Filme gedreht haben und warum sich die Filme von Hitchcock, Godard und Tarkowski so sehr voneinander unterscheiden, so wird man zu ganz anderen Bewertungen kommen, die jenseits von einer richtig oder falsch Kategorisierung liegen dürften. Im Falle der hier aufgeführte Kritiker Freuds muss man von mindestens fünf Aspekten ausgehen, die für die jeweiligen kritischen oder neuen Perspektiven von Relevanz waren.
Der erste Aspekt betrifft die jeweilige Persönlichkeit der Forscher. So wie Freud bekanntlich wesentliche Aspekte der Psychoanalyse auf den Wege der Selbstanalyse entwickelt hatte, so ist zu unterstellen, dass auch spätere Kritiker so verfahren sind. Sie haben sich selbst und ihre eigene Persönlichkeit zum Maßstab einer Neubewertung gemacht. Dieser Aspekt trifft z.B. auf Beck zu, der mit seinem eigenen Unbewussten und Träumen auch in Bezug auf seine eigene Person nicht viel anzufangen wusste und deshalb unterstellte, dass dies auch für seine Patienten irrelevant sein dürfte. So kann man wohl auch unterstellen, dass für Bowlby ganz persönlich der Begriff und die Erfahrung von “attachment” viel wesentlicher waren als die Libido. Deswegen war es für ihn naheliegend, dass dies für andere Menschen auch so sein sollte. Ebenso hat Melanie Klein sicherlich ihre Erfahrungen mit ihren eigenen Kindern hinsichtlich eines gespaltenen Mutterbildes von “guter Mutter” und “böser Mutter” als prägend empfunden. (Vergleiche hierzu auch das Theaterstück “Frau Klein”.) Ebenso sind sicherlich bestimmte Aspekte der Lacanianischen Psychoanalyse nur verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der exzentrischen Persönlichkeit ihres Begründers betrachtet. Lacans Theorien über die Mutter-Kind-Beziehung und die Rolle des Vaters in der symbolischen Ordnung kann als eine Verarbeitung seiner eigenen familiären Erfahrungen verstanden werden, indem er sich herausgefordert sah, sich von der unbewusst verinnerlichten Sprache seiner katholischen Mutter mithilfe der Psychoanalyse zu emanzipieren.
Der zweite Aspekt betrifft Unterschiede in Bezug auf die jeweiligen zu behandelnden Patienten, nicht nur hinsichtlich von Krankheitsbildern, sondern auch was z.B. ihre Mentalität und ihren Bildungsstand betrifft. Es ist deshalb klar, dass z.B. Beck in der Behandlung von depressiven Störungen zu einem anderen Krankheitsmodell kommt als Freud, der vor allem Konversionsneurosen behandelt hatte. So ergibt sich auch die Akzentverschiebung bei Rudolf von der Konfliktbearbeitung auf die Kompensation ich-struktureller Defizite, weil seine Patienten im Bereich der Psychosomatik hier besondere Unterstützung benötigten und ein vorwiegend konfliktorientierter Ansatz nicht ausreichend oder zielführend gewesen wäre. Dieser Aspekt trifft auch auf Watzlawick und Stierlin zu, die in der Behandlung von sozialen Systemen (Familien etc.) mit Methoden der freudschen Psychoanalyse im Einzelsetting nicht weiterkommen konnten. Ebenso für die Entwicklung der Selbstpsychologie nach Kohut ist es evident, dass seine Patienten vor allem unter Selbstwertzweifeln und Schamgefühlen litten und er seine Behandlungsmethodik deshalb anpassen musste.
Der dritte Aspekt betrifft weltanchauliche Gründe für eine Distanzierung. So ist es klar, dass Adler mit seinem sozialistischen Menschenbild und Jung mit seinem spirituellen Menschenbild, sich beide im Rahmen der freudschen Psychoanalyse nicht zuhause fühlen konnten, weil Freud eben explizit kein Sozialist war und aus der Psychoanalyse auch keine neue Form von Religiosität machen wollte.
Ein vierter Aspekt betrifft gar nicht so sehr Freud und seine Konzeption von Psychoanalyse selbst. Vielmehr haben einzelne Kritiker auf bestimmte orthodoxe Traditionen reagiert, die ein Zerrbild von Psychoanalyse als allein gültige Version vertreten haben. Dies ist der Fall bei Alice Miller, die sich im wesentlichen zu recht von der freudschen Orthodoxie abgestoßen fühlte, weil von dieser jeder Aspekt von Traumatisierung lange Zeit verächtlich abgewehrt worden war, weil man dort der Ansicht war, dass die rechtgläubige Psychoanalyse sich nur mit unbewussten Phantasien beschäftigen solle und alles darüber hinaus als irrelevante Störung zu betrachten sei. Hätte Alice Miller die Gelegenheit gehabt, ihren Unmut direkt mit Freud zu besprechen, wäre sie vermutlich zu einer anderen Auffassung gelangt. Auch die Kritik von Körner zielt auch eher auf die psychoanalytische Orthodoxie und hat nicht viel mit Freud zu tun.
Ein fünfter Aspekt der Kritik erwächst tatsächlich aus allgemeinen Fortschritten im Bereichen der Entwicklungspsychologie und Neurobiologie. In dieser Hinsicht ist besonders Lichtenberg zu nennen, der die freudsche Triebtheorie mit der Beschreibung motivationaler Systeme ausgeweitet und modifiziert hat, ohne sich dazu aber zwangsläufig in Gegensatz zu Freud begeben zu müssen. Im Grunde gehört zu diesem Aspekt auch Schulz-Hencke mit der Betonung des biopsychosozialen Ansatzes für seine Neoanalyse, der es aber für nötig befand, sich auch begrifflich und nicht nur methodisch von Freud deutlicher abzugrenzen.
Wenn man davon ausgeht, dass alle Kritiker zumindest für ihre jeweils eigene Person einen wesentlichen Punkt getroffen haben und ihnen dies zu mehr Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis verholfen hat, so stellt sich aber immer noch die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit ihrer theoretischen Konstrukte. Dieser Kritik muss sich Freud selbstverständlich auch stellen. Der Unterschied zu Freud ist nur insofern bedeutsam, weil Freud selbst nie ein Geheimnis daraus gemacht hat, dass seine Psychoanalyse im wesentlichen auf Selbst-Analyse beruhte. Dass er den Mut hatte, das Verfahren, das ihm selbst geholfen hatte, verallgemeinernd als Krankenbehandlung zu empfehlen, ist dabei schon erstaunlich genug. Gilt aber für alle anderen Kritiker ebenso. Zum Schluss möchte ich noch hinweisen auf Cassirers Theorie, dass jedes Ordnungssystem danach strebt, über seine zunächst engen Grenzen hinauszuwachsen und letztlich danach trachtet, einen Schlüssel anzubieten, der angebliche alle Türen öffnen kann. Vergleiche hierzu den Beitrag über Alleinvertretungsanspruch von Symbolsystemen.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht