Auf den Spuren eines rationalen Priestertums

Die frühen Ursprungsmythen

In der Zeit von etwa 2000 bis 1000 vor Christus entwickelten sich in verschiedenen Hochkulturen der Alten Welt zahlreiche Ursprungsmythen. Diese Mythen dienten dazu, den Ursprung der Welt, der Götter, der Menschen und der gesellschaftlichen Ordnung zu erklären. Sie variierten stark je nach Region und Kultur, hatten aber oft gemeinsame Themen wie die Erschaffung der Welt aus einem Urchaos, Kämpfe zwischen Göttern und die Etablierung von Ordnung durch göttliche Wesen.

1. Mesopotamische Mythen

Enuma Elisch: Dieses babylonische Schöpfungsepos, das um das 18. Jahrhundert v. Chr. entstand, beschreibt, wie die Welt aus dem Chaos der Urgewässer (Apsu und Tiamat) geschaffen wurde. Der Gott Marduk besiegt die chaotische Urgöttin Tiamat und formt aus ihrem Körper Himmel und Erde. Marduk wird daraufhin zum höchsten Gott erhoben und ordnet das Universum.

Atrahasis-Epos: Ein weiteres bedeutendes mesopotamisches Epos, das die Erschaffung der Menschheit behandelt. Die Menschen werden von den Göttern erschaffen, um für sie zu arbeiten, aber aufgrund ihrer Lärmbelästigung plant Enlil, sie durch eine Sintflut zu vernichten. Atrahasis, ein weiser Mensch, wird gewarnt und überlebt die Flut, was zur Neubevölkerung der Erde führt.

2. Ägyptische Mythen

Heliopolitanischer Schöpfungsmythos: In diesem Mythos, der mit der Stadt Heliopolis verbunden ist, entsteht der Gott Atum aus dem Urwasser (Nun) und erschafft durch Selbstbefruchtung die ersten Götter Schu (Luft) und Tefnut (Feuchtigkeit). Diese zeugen Geb (Erde) und Nut (Himmel), die wiederum die Götter Osiris, Isis, Seth und Nephthys hervorbringen, aus denen die weitere Götterwelt und die Ordnung der Welt hervorgehen.

Memphitischer Schöpfungsmythos: Hier spielt der Gott Ptah eine zentrale Rolle. Er schafft die Welt durch das Wort, indem er alles ausspricht, was existieren soll. Diese Vorstellung von der schöpferischen Macht des Wortes zeigt eine sehr fortgeschrittene und symbolische Sicht auf den Schöpfungsakt.

3. Mythen des antiken Griechenlands

Theogonie von Hesiod: Obwohl dieser Text erst später, etwa im 8. Jahrhundert v. Chr., aufgezeichnet wurde, spiegelt er ältere mündliche Traditionen wider. Er beschreibt, wie aus dem Chaos die ersten Urgötter Gaia (Erde), Tartaros (Unterwelt), Eros (Liebe), Erebos (Finsternis) und Nyx (Nacht) entstehen. Gaia gebiert Uranos (Himmel), mit dem sie die Titanen und andere göttliche Wesen zeugt. Der Kampf zwischen den Titanen und den olympischen Göttern unter der Führung von Zeus führt schließlich zur Etablierung der göttlichen Ordnung.

4. Indische Mythen

Rigveda: Die ältesten Teile des Rigveda, die bis auf etwa 1500 v. Chr. zurückgehen, enthalten Hinweise auf kosmogonische Mythen. Ein zentrales Konzept ist das des Purusha, eines kosmischen Wesens, das geopfert wird, um die Welt und die gesellschaftliche Ordnung zu erschaffen. Aus seinem Körper entstehen die verschiedenen Kasten, sowie Sonne, Mond und die Erde.

Hiranyagarbha: Ein anderer vedischer Mythos spricht von einem „goldenen Ei“ (Hiranyagarbha), aus dem das Universum hervorgeht. Dieses Ei wird als das Embryo der Schöpfung betrachtet, das sich im Urmeer befand.

5. Kanaanäisch-Phönizische Mythen

Baal-Zyklus: In Ugarit (im heutigen Syrien) wurde der Baal-Zyklus verehrt, der den Gott Baal als zentralen Charakter zeigt. Baal, ein Gott des Sturms und der Fruchtbarkeit, kämpft gegen das Chaos in Gestalt des Meeresgottes Yam und des Todesgottes Mot, um die göttliche Ordnung zu etablieren und die Erde fruchtbar zu machen.

Kosmogonie von Phönizien: Phönizische Mythen, die uns durch spätere griechische Autoren überliefert sind, sprechen von der Entstehung der Welt aus einem ursprünglichen dunklen Chaos, aus dem das erste göttliche Paar hervorgeht, das dann die Götter und die Welt erschafft.

6. Mythen des alten Israel

Genesis-Schöpfungsgeschichte: Die biblische Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis entstand vermutlich während oder nach dem babylonischen Exil (6. Jahrhundert v. Chr.), spiegelt aber ältere Traditionen wider. Hier wird die Welt in sieben Tagen von einem einzigen Gott (JHWH) geschaffen, wobei Ordnung durch die Trennung von Licht und Dunkelheit, Himmel und Erde sowie durch die Erschaffung von Pflanzen, Tieren und Menschen entsteht.

Diese Ursprungsmythen zeigen eine Vielfalt von kosmologischen Vorstellungen, in denen die Welt oft aus einem Urchaos oder einem Urmeer heraus entsteht, Götter eine zentrale Rolle bei der Schöpfung spielen und die Ordnung des Universums als etwas Sakrales betrachtet wird, das durch göttliche Macht etabliert wird. Die Mythen boten nicht nur Erklärungen für den Ursprung der Welt, sondern auch für die gesellschaftlichen Strukturen und die Rolle der Menschen innerhalb dieser kosmischen Ordnung.

Die ersten Naturphilosophen im 7., 6. und 5. Jahrhundert v. Chr.

Die ersten griechischen Naturphilosophen ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. spielten eine entscheidende Rolle in der Transformation der antiken Weltanschauung. Sie interpretierten die alten Schöpfungsmythen neu und versuchten den Ursprung der Welt und die Ordnung der Dinge mithilfe von Rationalität und Logik zu erklären, sodass die traditionellen, religiösen Erklärungen der Welt und des geordneten Kosmos allmählich verdrängt wurden.

1. Umformulierung tradierter religiöser Ursprungsmythen

Die Naturphilosophen ersetzten die mythischen Erklärungen für den Ursprung der Welt, die auf göttliche oder übernatürliche Akteure setzten, durch Konzepte, die eher auf natürlichen Kräften beruhten und ohne Zutun von Göttern auskamen. Zum Beispiel:

Thales von Milet (ca. 624–546 v. Chr.) postulierte, dass Wasser der Urstoff (archê) sei, aus dem alles entsteht. Statt der mythischen Erschaffung der Welt durch Götter sah Thales eine natürliche Substanz als Ursprung an.

Anaximander (ca. 610–546 v. Chr.) führte das Konzept des „Apeiron“ ein, einer unbegrenzten, undefinierten Substanz, aus der alle Dinge entstehen und in die sie zurückkehren. Dies war eine Abkehr von den anthropomorphen Göttern und hin zu einem abstrakten, rationalen Prinzip.

Heraklit (ca. 540–480 v. Chr.) sah das Feuer im ständigen Kampf mit anderen Urkräften als das grundlegende Prinzip und betonte den ständigen Wandel („panta rhei“). Er interpretiert den Kosmos als geordneten Prozess, der durch innere Gesetzmäßigkeiten der Dialektik bestimmt wird, anstatt durch göttliche Willkür.

Diese Philosophen entfernten das Handeln von Göttern aus den Ursprungsmythen und ließen nur natürlich anmutende Elemente wie Wasser, Feuer oder Luft als Akteure bei der Entstehung der Welt gelten.

2. Ersetzung der Weissagung durch rational begründete Vorhersagen

Die Priester und Seher in der antiken griechischen Gesellschaft waren traditionell für die Vorhersage von Ereignissen durch Mantik (Weissagung) verantwortlich, was oft auf religiösen Ritualen und göttlichen Eingebungen beruhte. Die Naturphilosophen hingegen begannen, die Welt als einen geordneten und prinzipiell erkennbaren Kosmos zu betrachten, in dem Ereignisse durch Naturgesetze bestimmt werden und somit vorhersagbar sein könnten:

Anaximander versuchte, die Bewegungen der Himmelskörper rational zu erklären und sah die Welt als ein geordnetes System, in dem Ereignisse aus natürlichen Ursachen hervorgehen, die man verstehen und vorhersagen kann.

Pythagoras (ca. 570–495 v. Chr.) und seine Anhänger sahen mathematische Beziehungen als Grundlage des Kosmos und glaubten, dass durch das Verständnis dieser Beziehungen auch künftige Ereignisse rational vorhergesagt werden könnten.

Diese Entwicklung bedeutete eine Verschiebung von der religiösen Mantik hin zu einer Naturphilosophie, in der die Welt nach logischen und vernünftigen Prinzipien funktioniert, die durch menschliches Denken und Beobachtung erkannt werden können.

3. Versuch, ein neues rationales Priestertum zu begründen

Die Naturphilosophen beanspruchten für sich eine Art neues „rationales Priestertum“, indem sie die Rolle derjenigen übernahmen, die das tiefe Wissen über die Natur der Welt besaßen und dieses Wissen in der Gesellschaft weitergaben.

Diese Philosophen boten eine neue Form der „Weisheit“ an, die auf Rationalität und Naturbeobachtung basierte und nicht auf göttlicher Handlung. Damit legten sie die Grundlagen für die spätere Entwicklung der Wissenschaft und Philosophie als unabhängige Disziplinen, die das Ziel hatten, die Welt durch logisches Denken und empirische Beobachtung von Naturkräften zu erklären und zu verstehen.

Insgesamt kann man sagen, dass die Naturphilosophen durch ihre Tätigkeit nicht nur die traditionellen religiösen Mythen infrage stellten, sondern auch die Vorstellung von Wissen, Vorhersagbarkeit und der Rolle des Menschen in der Welt tiefgreifend veränderten. Sie stellten den Anfangspunkt eines Prozesses dar, der schließlich zur Entwicklung von wissenschaftlichen Methoden der Beobachtung und Beschreibung führte.

Die Pythagoräer und ihr rational begründetes Priestertum

Die Gemeinschaft der Pythagoräer, gegründet von Pythagoras (ca. 570–495 v. Chr.), war eine einzigartige Mischung aus philosophischer Schule, religiöser Gemeinschaft und politischer Bewegung. Ihre Besonderheiten und der Grund für ihre Verfolgung lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen:

1. Besonderheiten der Gemeinschaft der Pythagoräer

Mathematik und Philosophie: Die Pythagoräer betrachteten die Mathematik als eine heilige Wissenschaft, die tiefere Einsichten in die Struktur des Universums ermöglichte. Sie glaubten, dass Zahlen die Grundlage aller Dinge seien und dass das Verständnis von Zahlen zu einem tieferen Verständnis der Welt führe.

Religiöse und ethische Lehren: Die Pythagoräer hatten strenge ethische und religiöse Regeln, die auf dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele und die Reinkarnation basierten. Sie praktizierten Askese, glaubten an die Reinheit der Seele und führten ein gemeinschaftliches Leben, in dem Besitz geteilt wurde. Der Vegetarismus war ebenfalls Teil ihrer Lebensweise, da sie glaubten, dass die Seele nach dem Tod in anderen Lebewesen wiedergeboren werden könnte.

Geheimbund und Initiation: Die Pythagoräer bildeten eine Art Geheimbund mit strengen Aufnahmeritualen und Geheimhaltung ihrer Lehren. Neulinge mussten eine lange Zeit des Schweigens (die sogenannte „Echerosia“) durchlaufen, bevor sie in die inneren Lehren der Gemeinschaft eingeweiht wurden.

Politischer Einfluss: In einigen griechischen Städten, insbesondere in Süditalien, wo Pythagoras lebte, versuchten die Pythagoräer, politischen Einfluss zu gewinnen und eine Regierung nach ihren philosophischen Prinzipien zu etablieren. Dies führte dazu, dass sie eine Elitegemeinschaft bildeten, die in der Politik und im öffentlichen Leben eine bedeutende Rolle spielte.

2. Gründe für die Bekämpfung der Pythagoräer

Politische Spannungen: Der politische Einfluss der Pythagoräer, insbesondere ihre Versuche, ihre Philosophie in die Regierungsführung einzubringen, führte zu Spannungen mit anderen politischen Gruppierungen. Ihre Elitennatur und ihr exklusiver Zugang zu Wissen und Macht machten sie zu einer Zielscheibe für politische Gegner, die ihre Macht bedroht sahen.

Geheimhaltung und Misstrauen: Die geheime Natur der pythagoreischen Gemeinschaft führte zu Misstrauen in der breiteren Gesellschaft. Da die Pythagoräer ihre Lehren und Praktiken geheim hielten, verbreiteten sich Gerüchte und Verdächtigungen, die zu Feindseligkeiten führten. Ihre Andersartigkeit und Exklusivität trugen zur Entfremdung bei.

Soziale und religiöse Konflikte: Die strengen ethischen Vorschriften und der religiöse Eifer der Pythagoräer könnten ebenfalls zu Konflikten mit den etablierten sozialen und religiösen Normen geführt haben. Ihr strikter Vegetarismus, ihre Lebensweise und ihre religiösen Überzeugungen unterschieden sich deutlich von den Traditionen ihrer Zeit, was sie in den Augen anderer Gruppen zu Außenseitern machte.

Gewaltsame Verfolgung: Diese Spannungen führten schließlich zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. In mehreren Städten, insbesondere in Kroton, wurden die Pythagoräer von ihren politischen Gegnern angegriffen. Ihre Häuser und Versammlungsorte wurden zerstört, und viele Mitglieder der Gemeinschaft wurden getötet oder vertrieben. Diese Verfolgungen führten zur Zerstreuung der Pythagoräer und zum Niedergang ihrer politischen Macht.

Trotz dieser Verfolgung hinterließen die Pythagoräer ein bedeutendes intellektuelles Erbe, das sowohl in der Mathematik als auch in der Philosophie und der westlichen Esoterik fortwirkte. Insgesamt formulierten sie als erste den Anspruch, dass rational argumentierende Philosophen (bzw. Wissenschaftler) an die Stelle der Priester treten sollten in Bezug auf Erklärungen der Welt und die Vorhersagbarkeit von Ereignissen.

Die Verschiebung der Paradigmen vom matriarchalen zum patriarchalen und schließlich zum logischen Denken

Es ist nachvollziehbar, dass die archaischen Schöpfungsmythen nach dem Paradigma des Geschlechterkampfes geformt sind. Die Entstehen des Kosmos aus einem einzigen Ei (Hiranyagarbha) entspräche dabei einem sich absolut setzenden Matriarchat, während die Erschaffung der Welt durch Zerteilung einer Urmutter und Neuordnung deren Glieder durch einen patriarchalischen Schöpfergott, einem männlich dominierten Ordnungssystem entspricht. Wie oben erwähnt: Marduk besiegt die chaotische Urgöttin Tiamat und formt aus ihrem Körper Himmel und Erde. Diese Entwicklung ist zur Zeit der Abfassung des israelitischen Schöpfungsmythos schon so weit vorangeschritten, dass der israelitische Schöpfergott sich gar nicht mehr mit dem Urmeer, der Urmutter, aktiv auseinandersetzen muss. Diese ist schon längst restlos besiegt, so dass es lapidar heißen kann, der Geist Gottes schwebte über den Wassern, als er mit seinen Schöpfungshandlungen begann.

Die griechischen Naturphilosophen ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. folgten dann anderen Paradigmen. Hier gab es verschiedene Varianten. Das wichtigste Paradigma zum Verständnis der Welt bei den Naturphilosophen weist Parallelen zu juristischen Gewohnheiten und Denkweisen auf. Diese Parallelen sind besonders in der Art und Weise erkennbar, wie sie das Universum und die Naturkräfte verstanden und beschrieben haben. Hier sind einige Aspekte, die diese Verbindung verdeutlichen:

1. Gesetzmäßigkeit und Ordnung
Der Kosmos erscheint nicht als organische Funktionalität oder als Chaos sondern als geordnete logische Struktur: Die Naturphilosophen sahen den Kosmos als eine geordnete Struktur, die bestimmten Gesetzen folgt. Dieser Gedanke ist eng mit der juristischen Vorstellung von Gesetz und Ordnung verbunden, in der das Universum wie eine Stadt oder ein Staat durch bestimmte Prinzipien und Regeln reguliert wird.
Nómos und Physis: Einige Naturphilosophen wie Heraklit verwendeten den Begriff „Logos“, der auch als Gesetz oder rationale Struktur des Universums verstanden werden kann. Sie argumentierten, dass das Universum durch ein Prinzip der Ordnung und Harmonie geregelt wird, ähnlich wie eine Gesellschaft durch Gesetze reguliert wird.

2. Kausalität und Verantwortung
Die Suche nach Kausalzusammenhängen: Die Naturphilosophen suchten nach den Ursachen und Prinzipien, die die Naturphänomene bestimmen. Diese Suche nach Ursache und Wirkung spiegelt die juristische Praxis wider, in der Verantwortung und Schuld in einer Kette von Ereignissen bestimmt werden.
Einige Philosophen wie Anaximander und Heraklit sahen in der Welt eine kosmische Gerechtigkeit, die über das Gleichgewicht und die Harmonie der Elemente wacht. Sie betrachteten das Universum als einen Ort, an dem „Dike“ (Gerechtigkeit) herrscht, was wiederum an die Rolle von Gerechtigkeit im Rechtssystem erinnert.

3. Argumentation und Rationalität
Die Naturphilosophen begannen, die Welt durch logische Argumentation und rationale Beweisführung zu verstehen, ähnlich wie Juristen Argumente vorbringen und durch Beweise untermauern. Diese methodische Vorgehensweise legte den Grundstein für die Entwicklung der Logik und der wissenschaftlichen Methode.
In der griechischen Kultur waren Debatten und Dialoge, wie sie später bei Sokrates und Platon vorkommen, wichtig für die Klärung philosophischer Ideen. Diese Praxis erinnert an juristische Verfahren, in denen unterschiedliche Argumente abgewogen werden, um zu einem Urteil zu gelangen.

4. Normativität
Viele Naturphilosophen entwickelten normative Vorstellungen davon, wie die Welt und die Gesellschaft funktionieren sollten, basierend auf den natürlichen Gesetzen. Diese normativen Ideen finden eine Parallele in der Art und Weise, wie juristische Systeme Normen und Gesetze formulieren, um das Zusammenleben zu regeln.

Das Verständnis der Welt bei den Naturphilosophen war stark von der Vorstellung einer geordneten und gesetzmäßigen Welt geprägt, die durch rationale Prinzipien erklärt werden kann. Diese Sichtweise spiegelt juristische Denkweisen wider, insbesondere in Bezug auf Ordnung, Gesetzmäßigkeit, Kausalität und Normativität. Diese Parallelen verdeutlichen, wie tief die juristischen und politischen Strukturen der griechischen Gesellschaft das philosophische Denken der Naturphilosophen und ihre Spekulationen über die Entstehung der Welt beeinflusst haben.

Neben dem juristischen Paradigma gibt es zumindest noch zwei weitere relevante Paradigmen:
Heraklit nimmt den Tausch von Waren in Geld und den Tausch von Geld in Waren als beständigen Kampf zwischen Gebrauchswerten und Tauschwerten zur Basis seiner Kosmogonie. Diese dialektische Betrachtung der Wirklichkeit, die sich im Grunde bereits mit der Erfindung des Geldes herausbildete, zieht sich in der Philosophiegeschichte durch bis Hegel und Marx, der sie dann in der Wertformanalyse quasi „wiederentdeckte“.

Bei Pythagoras wird dann kaufmännische Kalkulation zum Paradigma des Weltverständnisses. Die Zahlen sollen die Welt durchdringen und alles soll durch die Zahlen verständlich gemacht werden bis hin zu den Harmoniegesetzen der Musik. Allerdings wird auch in den pythagoräischen Bruderschaften geheimes Wissen, Initiationsriten und gesellschaftliche Hierarchie, wie vormals im Priestertum tradiert, wieder neu belebt.

Wenn man ein aktuelles Beispiel heranzieht, die Erklärung für den Ursprung des Coronavirus und die Vorhersagen, wie das Virus eingedämmt werden könnte und welche Wirkungen Impfungen haben sollen, so wird deutlich, dass wir uns in den letzten 3000 Jahren nicht so sehr von archaischen Kommunikationsweisen und mythischen Erzählungen verabschiedet haben. Immerhin berufen sich die modernen Priester in Gestalt von Wissenschaftlern nicht mehr auf die „Götter“, sondern jetzt auf „Studien“. Aber man spricht bei Ärzten nicht umsonst von „Halbgöttern in Weiß“. Auch die Kampfparole „Trust the Scientists!“, so richtig sie auch sein mag, kling so wie vor 3000 Jahren, als man hätte hören können: „Vertraut den Priestern!“

Damit soll nicht gesagt werden, dass man den Priestern oder den Wissenschaftlern nicht trauen könnte. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass sowohl Priester als auch Wissenschaftler einer gemeinsamen Kultur hierarchisch geordneter Gesellschaften angehören und ihre Aussagen immer entsprechend ihrer Traditionen, Denkgewohnheiten und ihres Geltungsanspruchs eingeordnet und verstanden werden müssen.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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