Einleitung
Unter dem Sokratisches Fragen versteht man heute eine Technik der Gesprächsführung, die auf den altgriechischen Philosophen Sokrates (469-399 v.Chr.) zurückgeht und auf kognitive Umstrukturierung abzielt. Sie versucht in ihrer Methodik, das kritische Denken zu fördern, indem der Gesprächspartner durch gezielte Fragen dazu gebracht wird, seine eigenen Überzeugungen, Annahmen und Denkvoraussetzungen zu reflektieren, zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren.
Diese Methode wird vor allem in kognitiv orientierten Verfahren des Coachings verwendet. Statt direkte Aussagen zu machen oder Antworten zu geben, stellt der Interviewer im sogenannten „sokratischen Dialog“ eine Reihe von Fragen, die den Gesprächspartner dazu bringen sollen, gründlicher über die eigenen Ansichten nachzudenken. Diese Methode ist besonders in der Philosophie, kognitiven Psychotherapie und Pädagogik verbreitet und dient dazu, ein tieferes Verständnis und Einsicht in die eigenen Denkmuster und Denkgewohnheiten zu fördern.
Typische Merkmale des sokratischen Fragens sind:
Klären von Begriffen: Der Fragende bittet um Definitionen und Erläuterungen, um Missverständnisse zu vermeiden.
Hinterfragen von Annahmen: Es wird hinterfragt, auf welchen Annahmen die Ansichten des Gesprächspartners beruhen.
Sammeln von Beispielen und Gegenbeispielen: Der Fragende fordert Beispiele, die eine These stützen oder widerlegen.
Aufdecken von Widersprüchen: Durch geschickte Fragen werden mögliche Widersprüche in den Aussagen des Gesprächspartners aufgezeigt.
Lenkung auf Konsequenzen: Der Gesprächspartner wird dazu gebracht, die logischen Konsequenzen seiner Aussagen zu erkennen.
Durch diese Methode wird der Gesprächspartner suggestiv angeregt, vermeintlich selbstständig zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, anstatt diese einfach von einem Lehrer oder Gesprächsleiter vermittelt zu bekommen.
Unterschiede des Sokratischen Fragens zum historischen Sokrates
Das Sokratische Fragen als Methode der Gesprächsführung ist eng mit der historischen Persönlichkeit des Sokrates verbunden, unterscheidet sich aber in bestimmten Aspekten von dem, was wir über den historischen Sokrates wissen.
Kontext und Anwendung
Sokrates lebte im antiken Athen und nutzte seine Methode vor allem im öffentlichen Raum, oft in Diskussionen mit anderen Bürgern, Philosophen oder Sophisten. Seine Fragetechnik diente nicht nur dem Erkenntnisgewinn, sondern auch der Herausforderung und Prüfung bestehender Meinungen und Überzeugungen. Dabei scheute er nicht davor zurück, etablierte Autoritäten oder allgemein akzeptierte Ansichten in Frage zu stellen.
Heute wird die Technik des sokratischen Fragens in verschiedenen Bereichen wie Pädagogik, Psychotherapie, Coaching und Beratung eingesetzt. Sie dient vor allem dazu, Menschen dabei zu helfen, ihre eigenen Überzeugungen zu reflektieren und zu einem tieferen Verständnis zu gelangen. Der Kontext ist oft weniger konfrontativ und mehr auf persönliches Wachstum und Erkenntnisgewinn ausgerichtet.
Ziel der Methode
Sokrates war bekannt dafür, dass er behauptete, nichts zu wissen („Ich weiß, dass ich nichts weiß“). Sein Ziel war es oft, die Unwissenheit seines Gesprächspartners aufzudecken und ihn zu einer tieferen Selbsterkenntnis zu führen. Manchmal führte dies dazu, dass er die Gesprächspartner in logische Widersprüche verwickelte, um ihre Annahmen zu widerlegen.
Heute wird das sokratische Fragen meist weniger dazu verwendet, Widersprüche bloßzustellen, sondern mehr, um konstruktiv Einsicht zu fördern. Es zielt darauf ab, dem Befragten zu helfen, seine Gedanken zu ordnen, Annahmen zu überprüfen und eigenständig zu fundierten Schlussfolgerungen zu gelangen.
Form der Interaktion
Die überlieferten Dialoge zeigen, dass Sokrates oft als derjenige auftrat, der das Gespräch lenkte und steuerte, häufig in einer Art von intellektuellem Kampf. Er stellte Fragen, die oft gezielt darauf abzielten, den Gesprächspartner in eine Sackgasse zu führen, um ihm seine Unwissenheit vor Augen zu führen.
Heute wird die Methode oft in einem kooperativen Kontext angewendet, wo der Fragende eher als unterstützender Gesprächspartner agiert. Die Fragen sollen dem Gegenüber helfen, zu reflektieren und seine Überzeugungen zu vertiefen, statt ihn in eine argumentative Sackgasse zu drängen.
Intention und Ethik
Sokrates‘ Absicht war es oft, die moralischen und intellektuellen Grundlagen seiner Mitbürger zu hinterfragen, um sie zu einem besseren, tugendhaften Leben zu führen. Seine Methode hatte daher auch eine ethische Dimension, die auf die Verbesserung des Charakters und der Gesellschaft abzielte.
Während diese ethische Dimension in der modernen Anwendung des sokratischen Fragens noch immer vorhanden sein kann, steht sie nicht immer im Vordergrund. Oft geht es mehr um individuelles Lernen, Erkenntnisgewinn oder Problemlösung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das sokratische Fragen in der heutigen Anwendung eine Weiterentwicklung und Anpassung der ursprünglichen Methode von Sokrates darstellt, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich angewendet wird. Der historische Sokrates war oft konfrontativer und nutzte seine Methode im öffentlichen und philosophischen Diskurs, während das moderne sokratische Fragen häufig in einem unterstützenden, pädagogischen oder therapeutischen Kontext angewendet wird.
Weiterentwicklung zum skeptischen Hinterfragen von dogmatischem Denken bei Arkesilaos
Arkesilaos (315-240 v.Chr.) war ein Philosoph in der Nachfolge Platons und der Begründer der sogenannten Jüngeren oder auch Mittleren Akademie.
Seine Philosophie geht von der Erfahrung der Aporie (Ausweglosigkeit) aus, die in manchen Dialogen Platons eine zentrale Rolle spielt. Wenn Versuche, Antworten auf philosophische Fragen zu finden, gescheitert sind, stellt sich eine offene Situation ein. Alte Gewissheiten haben sich im Verlauf eines philosophischen Gesprächs als fragwürdig erwiesen, ohne neue Sicherheiten formulieren zu können. Aus der Verallgemeinerung solcher Erfahrungen entwickelte er seine Position des Skeptizismus. Er meinte auch, dass sich zu jeder beliebigen philosophischen Aussage Gegenargumente finden lassen. Daher betrachtet er es als ein Gebot der Redlichkeit, sich generell des Urteilens zu enthalten, also darauf zu verzichten, bloße Meinungen als Urteile mit Wahrheitsanspruch zu formulieren.
Er hat damit das Sokratische Fragen in eine neue Methode der wissenschaftlichen Kritik überführt, indem er das Prinzip des epoché (Enthaltung des Urteils) und den Skeptizismus in den philosophischen Diskurs einführte. Dabei veränderte er das Sokratische Fragen von einer Methode der dialogischen Untersuchung im Gespräch hin zu einem systematischen Ansatz der skeptischen Wissenschaftskritik.
Von der Suche nach Wahrheit zur Skepsis
Sokrates verwendete seine Methode, um den Menschen ihre Unwissenheit vor Augen zu führen, indem er sie dazu brachte, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen und tiefer nachzudenken. Sein Ziel war es, durch die Diskussion zu einer kritischen Betrachtung der Argumentation zu gelangen, selbst wenn dies bedeutete, dass die Gesprächspartner die eigene Unwissenheit erkennen mussten.
Arkesilaos übernahm die sokratische Praxis des Fragens, verschob aber den Fokus von der Suche nach Wahrheit hin zu einer radikalen Form des Zweifels. Er argumentierte, dass wahre Erkenntnis letztlich unmöglich sei und dass daher kein Urteil mit Sicherheit gefällt werden könne. Dies führte zur Methode des epoché, bei der man sich des Urteils enthält, weil keine Ansicht letztendlich als absolut sicher bewiesen werden kann.
Kritik an den dogmatischen Philosophien
Sokrates setzte seine Methode häufig ein, um die Positionen und Annahmen seiner Gesprächspartner zu prüfen und zu kritisieren, oft mit dem Ziel, einen tieferen moralischen oder philosophischen Standpunkt zu entdecken.
Arkesilaos verwendete das sokratische Fragen, um die Dogmen seiner Zeit, insbesondere jene der Stoa und anderer Schulen, zu dekonstruieren. Durch systematische Befragung und die Aufdeckung von Widersprüchen zeigte er, dass scheinbar sichere Wahrheiten bei näherer Betrachtung unsicher sind. Seine Kritik zielte darauf ab, zu zeigen, dass keine philosophische Schule über endgültige Wahrheiten verfügt.
Das System der Argumentation
Die sokratische Methode war dialogisch und explorativ, wobei Sokrates oft keine eigenen Thesen aufstellte, sondern seine Gesprächspartner durch geschickte Fragen zu Erkenntnissen führte oder ihre Unwissenheit entlarvte.
Arkesilaos entwickelte diese Methode zu einem systematischen Werkzeug der Kritik. Er argumentierte gegen jede positive Behauptung, indem er zeigte, dass für jede These ebenso starke Argumente dagegen sprechen könnten. Dieses skeptische Prinzip führte zur Ansicht, dass man sich auf wahrscheinliche Meinungen stützen könne, aber niemals auf absolute Gewissheiten.
Praktische Implikationen
Sokrates nutzte seine Methode auch, um ethische und moralische Fragen zu klären und zur Tugend zu führen. Seine Fragen hatten oft das Ziel, die Gesprächspartner zu einem besseren, reflektierteren Leben zu führen.
Arkesilaos‘ Anwendung des sokratischen Fragens führte zu einer philosophischen Lebensweise, die darauf beruhte, abschließende dogmatische Urteile zu vermeiden und stattdessen eine Haltung der ständigen Überprüfung und des Zweifels einzunehmen. Diese Haltung war nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch, indem sie den Skeptiker zu einem Leben in vorsichtiger Zurückhaltung führte.
Einfluss auf die Akademie
Die frühe Akademie unter Platon pflegte die sokratische Methode als Mittel zur philosophischen Erziehung und Erkenntnisfindung.
Unter Arkesilaos wandelte sich die Akademie zu einem Zentrum des Skeptizismus. Er legte den Grundstein für die skeptische Tradition in der Akademie, die von späteren Philosophen wie Karneades weiterentwickelt wurde. Arkesilaos hat das sokratische Fragen in eine Methode der systematischen und wissenschaftlichen Kritik überführt, indem er es in den Dienst des Skeptizismus stellte. Er verwandelte die Methode von einem Mittel der Wahrheitsfindung zu einem Werkzeug, das die Unsicherheit aller Erkenntnisse betont und das Ziel verfolgt, jegliches dogmatische Wissen in Frage zu stellen.
Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht