Anfänge des Positivismus
Als Begründer des Positivismus gilt Auguste Comte (1798–1857). Er entwickelte die Idee, dass Wissen nur auf empirischen Beobachtungen und logischen Schlussfolgerungen basieren sollte. Er formulierte das Dreistadiengesetz, das besagt, dass die menschliche Erkenntnis drei Stadien durchläuft: das theologische, das metaphysische und das positive Stadium.
Theologisches Stadium: In diesem Stadium erklärt der Mensch die Welt durch übernatürliche Wesen und göttlichen Willen.
Metaphysisches Stadium: Hier werden die Phänomene durch abstrakte, philosophische Konzepte und Kräfte erklärt, anstatt durch konkrete Götter. Es ist eine Übergangsphase, in der die Menschen beginnen, nach rationalen Erklärungen zu suchen.
Positives Stadium: In diesem letzten Stadium basiert das Wissen auf wissenschaftlichen Beobachtungen und logischen Analysen. Die Menschen verlassen sich auf empirische Daten und wissenschaftliche Methoden, um die Welt zu verstehen. Comte sah diese Entwicklung als eine natürliche und notwendige Progression des menschlichen Geistes, vergleichbar mit dem Heranwachsen eines Individuums von der Kindheit über die Jugend bis zum Erwachsenenalter.
Weitere bedeutende Vertreter des Positivismus waren: John Stuart Mill (1806–1873), ein einflussreicher britischer Philosoph und Ökonom, der den Positivismus in England weiterentwickelte und Herbert Spencer (1820–1903): ein weiterer bedeutender britischer Philosoph, der den Positivismus auf die Soziologie und Biologie anwendete.
Weiterentwicklung zum Neopositivismus
Im 20.Jahrhundert kam es zu einer Weiterentwicklung zum Neopositivismus, auch bekannt als logischer Empirismus oder logischer Positivismus. Es handelt sich um eine wissenschaftstheoretische Position, die ab 1920 großen Einfluss hatte. Diese Denkrichtung wurde hauptsächlich vom sogenannten Wiener Kreis entwickelt, einer Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern wie Rudolf Carnap ()1891-1970, Moritz Schlick (1882-1936) und Otto Neurath (1882-1945).
Der Neopositivismus verbindet empirische Beobachtungen mit logischer Analyse. Er betont, dass wissenschaftliche Aussagen entweder direkt auf Beobachtungen basieren oder logisch aus solchen abgeleitet werden müssen. Ein zentrales Anliegen war es, klare Kriterien zu entwickeln, um wissenschaftliche Methoden als gültig oder ungültig zu bewerten.
Postmoderner Krypto-Positivismus
Der historische Positivismus, der davon ausging, man könne in jeder Wissenschaft zwischen den Fakten und bloßen Spekulationen unterscheiden und so unliebsame Traditionen von Idealismus und Metaphysik abschütteln, gilt insgesamt nach Karl Poppers Konzeption des Kritischem Rationalismus und einem diskursorientierten Wahrheitsbegriff als überwunden, zumindest in philosophischer Hinsicht.
Das mit der Konzeption des Positivismus verbundene Weltbild und Menschenbild ist damit aber noch lange nicht aus der Welt geschafft, weil im lebenspraktischen Sinne viele Diskurse von der Vorstellung geprägt sind, als gäbe es tatsächlich diese harten Fakten, die alternativlos zu akzeptieren seien und sich demzufolge kritische Nachfragen erübrigen.
Krypto-Positivismus bezeichnet eine Haltung oder Denkweise, die die Prinzipien des Positivismus auf eine verdeckte oder nicht explizit deklarierte Weise anwendet. Der Begriff setzt sich aus „Krypto-“ (griechisch für „versteckt“ oder „geheim“) und „Positivismus“ = „Glauben an positive Fakten, die nicht bezweifelt werden müssen“, zusammen.
Krypto-Positivismus beschreibt also eine versteckte Anwendung dieser Prinzipien meist in Form dogmatischer Positionen im Sinne eines „So ist es und nicht anders“-Schemas. Das bedeutet, dass jemand positivistische Methoden und Ansichten verwendet oder vertritt, ohne dies offen oder explizit zu deklarieren. Dies kann in verschiedenen Kontexten geschehen, zum Beispiel in wissenschaftlichen, philosophischen oder gesellschaftlichen Diskursen, in denen die positivistische Haltung nicht klar als solche identifiziert wird, aber dennoch die Grundlage für Argumentation und Denken bildet.
Ein typisches Merkmal des Krypto-Positivismus könnte sein, dass jemand stark auf empirische Daten und wissenschaftliche Methoden setzt, während er gleichzeitig die metaphysischen und theoretischen Implikationen seiner Arbeit herunterspielt oder ignoriert, ohne dies offen als positivistische Haltung zu kennzeichnen.
Wir leben also m.a,W. in einer Welt der quasi doppelten Buchführung. In streng wissenschaftlicher Hinsicht gilt nach Karl Popper (1902-1994), dass alle Hypothesen nur solange Geltung beanspruchen dürfen, solange sie noch nicht falsifiziert wurden. Daneben gibt es aber die Welt der sogenannten „evidenzbasierten Handlungsschemata“, die wie Abbilder der Realität betrachtet werden und nicht zur Diskussion gestellt werden dürfen. Dem entspricht in der Politik der „Basta-Stil“ oder der „Mehrheit ist Mehrheit“ Slogan.
Beispiel aus dem Geseundheitswesen:
Die epistemologische Problematik von Leitlinien, Diagnoseschemata, Befundkodices wird heute nicht mehr diskutiert, diese vielmehr einfach als gegeben hingenommen. Ihre Legitimierung ist anscheinend ausreichend durch die kollektive Reliabilität gewährleistet. Wenn viele Fachleute sich auf eine „Liste“ mit welchen Items auch immer geeinigt haben, so scheint dies in den Augen von Studierenden und praktischen Anwendern dieser Listen dem zu entsprechen, was gemeinhin unter Realität zu verstehen ist. Was auf der Liste steht, kann Geltung beannspruchen. Was nicht auf der Liste steht, gibt es gar nicht. Wer etwas befunden will oder muss, kann einfach ein Item auf der Liste ankreuzen und die Aufgabe ist scheinbar erledigt.
Dabei wird übersehen, dass man sich damit ein Problem einhandelt, das historisch schon einmal unter dem Begriff des „Rechtspositivismus“ diskutiert wurde. Dies betrifft die Frage, ob ein Richter von seiner persönlichen Verantwortung grundsätzlich befreit ist, wenn er sich auf beschlossene Gesetzestexte bezieht, wenn er Recht spricht. Dies entspricht auch etwa der Argumentationslinie des „Befehlsnotstandes“.
Übertragen auf Praktiken im Gesundheitswesen, könnte das im Ernstfall bedeuten, dass ein Patient mit einer Diagnose belegt wird, die nach allgemeiner Auffassung als Hinweis auf eine unheilbare Krankheit gilt. Eklatant destruktiv wirken solche Einschätzungen, wenn sie zwar der gängigen Meinung der niedergelassenen Ärzte und Therapeuten entsprechen, aber in bestimmten Kreisen der Universitätsmedizin durchaus differenziertere Auffassungen zu finden sind.
Beispiel aus der Technik:
Ein tragisches Beispiel aus der Welt der Technologie: Die Challenger-Raumfähre (Space Shuttle Challenger) der NASA stürzte am 28. Januar 1986 ab, weil die Dichtungsringe-Ringe in einem der Feststoffraketen-Booster versagten. Diese Dichtungsringe, die aus Gummi bestanden, sollten die Verbindungen zwischen den Segmenten der Feststoffraketen-Booster abdichten. Aufgrund der niedrigen Temperaturen am Starttag wurden die Dichtungsringe-Ringe spröde und konnten nicht mehr richtig abdichten. Dies führte dazu, dass heißes Gas aus dem Booster austrat, was schließlich zur Explosion des gesamten Shuttles führte. Alle sieben Astronauten an Bord kamen bei diesem Unglück ums Leben. Techniker, die auf Probleme mit den Dichtungsringen aufmerksam machten, wurden einfach entlassen, weil man sie für Störenfriede hielt, die den Start der Rakete nur mutwillig verzögern wollten.
Zusammenfassung
Es ist fatal und Zeichen für die Macht des Krypto-Positivismus, wenn gerade die verantwortlichsten, aufmerksamsten und kreativsten Mitarbeiter eines Unternehmens von ihren Chefs als vermeintliche „Störenfriede“ angesehen werden. Stattdessen sollte es gerade dort, wo tatsächlich Unsicherheiten an der Tagesordnung sind und krtitisches Nachfragen sinnvoll ist, zur Kultur eines Unternehmens oder eines Wissenschaftsbetriebs gehören, nicht in erster Linie nach politischen oder ökonomischen Aspekten zu verfahren, sondern multiperspektivisch kritische Auffassungen zur Geltung kommen zu lassen.
Anhang
Im Anhang möchte ich noch einen Hinweis darauf geben, wie Ernst Cassirer sich von seinem Standpunkt aus mit dem Problem eines dogmatischen Wirklichkeitsverstänndnisses auseinandersetzt:
„Die dogmatische Betrachtung, die vom Sein der Welt als einem gegebenen und festen Einheitspunkt ausgeht, ist freilich geneigt, alle diese inneren Unterschiede der geistigen Spontaneität in irgendeinen Allgemeinbegriff vom „Wesen“ der Welt aufgehen zu las- sen und sie dadurch zum Verschwinden zu bringen. Sie schafft feste Zerlegungen des Seins: sie teilt es etwa in eine „innere“ und eine „äußere“, in eine „psychische“ und eine „physische“ Wirklichkeit, in eine Welt der „Dinge“ und der „Vorstellungen“ — und auch innerhalb der ein- zelnen, auf diese Weise gegeneinander abgegrenzten Bezirke wiederholen sich ihr die gleichen Scheidungen. Auch das Bewußtsein, auch das Sein der „Seele“ zerfällt wieder in eine Reihe abgesonderter, gegeneinander selbständiger „Vermögen“. Erst die fortschreitende Kritik der Erkenntnis lehrt uns diese Teilungen und Trennungen nicht als ein für allemal in den Dingen selbst liegende, als absolute Bestimmungen zu nehmen, son- dern sie als durch die Erkenntnis selbst vermittelte zu verstehen. Sie zeigt, daß insbesondere der Gegensatz von „Subjekt“ und „Objekt“, von „Ich“ und „Welt“ für die Erkenntnis nicht einfach hinzunehmen, son- dern aus ihren Voraussetzungen zu begründen und in seiner Bedeutung erst zu bestimmen ist. Und wie im Aufbau der Welt des Wissens, so gilt das gleiche in irgendeinem Sinne für alle wahrhaft selbständigen geistigen Grundfunktionen. Auch die Betrachtung des künstlerischen wie die
des mythischen oder sprachlichen Ausdrucks ist in Gefahr, ihr Ziel zu verfehlen, wenn sie, statt sich unbefangen in die einzelnen Ausdrucksformen und Ausdrucksgesetze selbst zu vertiefen, von vornherein von dogmatischen Annahmen über das Verhältnis zwischen „Urbild“ und „Abbild“, zwischen „Wirklichkeit“ und „Schein“, zwischen „innerer“ und „äußerer“ Welt ihren Ausgang nimmt.“ Cassirer (1923), Bd 1, S. 122f.