Aspekte der Cancel Culture

Einleitung

Cancel Culture ist ein relativ neues soziales Phänomen, das sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren, insbesondere durch die Verbreitung sozialer Medien, entwickelt hat. Es wird allgemein als die Praxis beschrieben, Personen oder Organisationen öffentlich zu kritisieren, zu boykottieren oder ihre Karrieren zu schädigen, weil sie als moralisch, politisch oder sozial verwerflich angesehen werden.

Was versteht man darunter?

Cancel Culture bezeichnet die Praxis, Personen, Marken oder Institutionen öffentlich zu verurteilen und sie durch Boykotte, Entlassungen oder soziale Ächtung aus dem öffentlichen Leben zu “entfernen”. Dies kann aufgrund von Äußerungen, Verhaltensweisen oder Überzeugungen geschehen, die als inakzeptabel, beleidigend oder problematisch angesehen werden. Das Ziel ist oft, ein Zeichen zu setzen und die betroffenen Personen zur Rechenschaft zu ziehen oder zu bestrafen.

Ursprung und Entwicklung

Die Wurzeln der Cancel Culture reichen bis in die frühen 2010er Jahre zurück. Zunächst entstanden Begriffe wie “call-out culture”, bei der es darum ging, problematisches Verhalten oder Äußerungen in der Öffentlichkeit anzusprechen und insofern einen medialen Pranger zu erzeugen. Dies entwickelte sich später zu “Cancel Culture”, bei der das Ziel nicht nur darin bestand, Fehlverhalten anzuprangern, sondern auch die Konsequenzen für die betreffenden Personen oder Institutionen zu verschärfen, indem man sie aus dem öffentlichen Diskurs “ausschließt”.

Plattformen wie Twitter, Facebook und Instagram haben das Phänomen massiv verstärkt, da sie es ermöglichen, innerhalb kürzester Zeit eine große Anzahl von Menschen zu mobilisieren und eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Dies führte dazu, dass Cancel Culture insbesondere in den 2010er Jahren einen starken Anstieg erlebte.

Wer zieht Nutzen aus Cancel Culture?

Cancel Culture soll ein Werkzeug sein, um soziale Gerechtigkeit zu fördern und auf Missstände aufmerksam zu machen. Für marginalisierte Gruppen bietet sie eine Möglichkeit, auf Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen aufmerksam zu machen und Veränderung zu fordern, oft in Situationen, in denen traditionelle Machtstrukturen nicht zugänglich oder wirksam sind.

Cancel Culture kann dazu beitragen, gesellschaftliche Normen zu überdenken und Menschen dazu zu bringen, über ihre Handlungen und Worte nachzudenken. In einigen Fällen hat sie dazu geführt, dass mächtige Personen zur Verantwortung gezogen wurden, die sonst ungestraft davongekommen wären.

Kritik an Cancel Culture: Kritiker argumentieren, dass Cancel Culture dazu führt, dass Menschen aus Angst vor öffentlichen Konsequenzen ihre Meinung nicht mehr frei äußern. Dies könne eine “Meinungspolizei” schaffen, die den öffentlichen Diskurs verengt und zu einer Form der Zensur führt.

Überreaktion und Ungerechtigkeit: Oft wird bemängelt, dass Cancel Culture dazu neigt, übermäßig hart oder unnachgiebig zu sein, auch gegenüber Personen, die kleinere Fehler gemacht haben oder deren Äußerungen aus dem Kontext gerissen wurden. Dies könne zu ungerechten Konsequenzen führen, wie dem Verlust des Arbeitsplatzes oder dem dauerhaften Schaden des Rufs.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Cancel Culture ein komplexes und umstrittenes Phänomen ist. Während sie dazu beitragen kann, soziale Gerechtigkeit zu fördern und Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, birgt sie auch Risiken, weil sie den öffentlichen Diskurs zerstört, indem einzelne Akteure ausgeschlossen werden und die Meinungsfreiheit damit reklamiert wird für diejenigen, die canceln, während die Gecancelten von der Meidungsfreiheit ausgeschlossen werden sollen.

Die psychoanalytische Betrachtung der Cancel Culture

Die psychoanalytische Sicht auf Cancel Culture bietet eine erweiterte Perspektive auf die individuellen und kollektiven psychischen Mechanismen, die diesem Phänomen zugrunde liegen. Es ermöglicht das Verständnis der emotionalen, unbewussten Prozesse, die sowohl bei denjenigen, die “canceln”, als auch bei denjenigen, die “gecancelt” werden, eine Rolle spielen.

Aggression und Abwehrmechanismen

Projektion: Cancel Culture kann als Ausdruck von Projektion verstanden werden, einem Abwehrmechanismus, bei dem unerwünschte oder bedrohliche eigene Eigenschaften oder Impulse auf andere übertragen werden. Indem eine Person oder eine Gruppe für moralisch verwerflich erklärt wird, kann das Kollektiv oder der Einzelne eigene ungeliebte Anteile externalisieren und symbolisch “bestrafen”.

Identifikation mit dem Aggressor: Menschen, die sich selbst einmal als Opfer von Ungerechtigkeiten oder sozialer Ausgrenzung empfanden, könnten durch das “Canceln” anderer eine Position der Macht einnehmen und so eine alte, unbewusste Verletzung kompensieren. In der Rolle des moralischen Richters und Bestrafers fühlen sie sich mächtig und überlegen.

Abreaktion von Aggression: Aus psychoanalytischer Sicht könnte Cancel Culture auch als kollektive Abreaktion verstanden werden. Hierbei handelt es sich um die Entladung unterdrückter Aggressionen, die sich durch die soziale Medienlandschaft, in der emotionale Reaktionen oft unverzüglich und öffentlich ausgedrückt werden können, einen idealen Raum finden.

Kollektives Unbewusstes und Gruppendynamik

Kollektive Schuld und Sühne: Auf einer tiefen, unbewussten Ebene kann Cancel Culture als Versuch einer Gruppe gesehen werden, kollektive Schuld oder moralische Verfehlungen zu sühnen. Die Gruppe projiziert ihre eigenen moralischen Defizite auf ein Individuum oder eine andere Gruppe und bestraft diese stellvertretend, um sich selbst von der Schuld zu entlasten.

Die Dynamik des Sündenbocks: In der psychoanalytischen Theorie spielt das Konzept des Sündenbocks eine zentrale Rolle in der Dynamik von Gruppen. Ein Individuum wird zum Träger der negativen Emotionen und Spannungen einer Gruppe gemacht und durch die “Opferung” dieses Individuums wird versucht, die Harmonie innerhalb der Gruppe wiederherzustellen.

Narzissmus und Selbstdarstellung

Moralischer Narzissmus: Cancel Culture kann auch als Ausdruck eines moralischen Narzissmus betrachtet werden, bei dem Individuen oder Gruppen sich selbst als moralisch überlegen darstellen, indem sie andere verurteilen. Das “Canceln” anderer bietet eine Plattform, um sich selbst als gerecht und tugendhaft zu inszenieren, was das eigene Selbstwertgefühl stärkt.

Selbstwertregulierung: Für einige Akteure in der Cancel Culture kann das “Canceln” auch eine Methode zur Selbstwertregulierung sein. Indem sie anderen moralisches Fehlverhalten vorwerfen, bestätigen sie sich selbst in ihrem moralischen Selbstbild und schützen sich so vor Gefühlen der Unzulänglichkeit oder des Versagens.

Scham und Schuld

Scham und öffentliche Demütigung: Das Erleben von Scham ist ein zentraler psychoanalytischer Aspekt von Cancel Culture, sowohl auf Seiten der Täter als auch der Opfer. Für die “gecancelte” Person kann die öffentliche Verurteilung tiefgreifende Scham und einen Verlust des Selbstwertgefühls zur Folge haben. Für diejenigen, die “canceln”, kann das Bedürfnis, Scham zu vermeiden, eine treibende Kraft sein, um moralische Überlegenheit zu demonstrieren.

Schuld und Sühne: Die Dynamik von Schuld spielt ebenfalls eine Rolle, besonders in Bezug auf historische Ungerechtigkeiten und die Aufarbeitung von kollektivem Fehlverhalten. Cancel Culture kann als Ausdruck eines kollektiven Bedürfnisses nach Sühne gesehen werden, bei dem die Bestrafung eines “Schuldigen” als symbolische Handlung dient, um tief sitzende Schuldgefühle zu bewältigen.

Zusammenfassung

Aus psychoanalytischer Sicht ist Cancel Culture ein komplexes soziales Phänomen, das tief in unbewussten psychischen Prozessen verwurzelt ist. Sie spiegelt Abwehrmechanismen, Aggressionen, narzisstische Tendenzen und die Dynamik von Scham und Schuld wider. Während sie ein Ventil für kollektive und individuelle Spannungen bieten kann, birgt sie auch die Gefahr, dass unbewusste Konflikte auf destruktive Weise ausgelebt werden, anstatt sie konstruktiv zu bearbeiten.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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