Antagonismen der Kulturgeschichte zwischen Pessimismus und Fortschrittsglauben

Einleitung

Die Hypothese über einen der Hauptwidersprüche des 19. Jahrhunderts, dem zwischen Pessimismus und Fortschrittsglauben, trifft einen zentralen Punkt in der Geistesgeschichte und Kulturgeschichte dieser Zeit. Tatsächlich können die Gedanken einiger Theoretiker im Rahmen dieses Spannungsfeldes beschrieben werden, die sowohl von der zunehmenden Rationalisierung der Gesellschaft als auch von einem tiefen Zweifel an den bestehenden Werten und menschlichen Möglichkeiten erfasst waren.

Protagonisten des 19. Jahrhunderts im Antagonismus zwischen Pessimismus und Fortschrittsglauben

Arthur Schopenhauer (1788-1860)

Arthur Schopenhauer war zweifelsohne der bedeutendste Vertreter des philosophischen Pessimismus. In seiner metaphysischen Weltanschauung sah er den menschlichen unbeeinflussbaren und irrationalen Willen als Quelle des Leidens und empfahl die Verneinung des Lebens als Weg zu einem gewissen Frieden.

Karl Marx (1818-1883)

Karl Marx dagegen verkörperte einen unerschütterlichen Fortschrittsglauben. Er glaubte, dass die Menschheit sich durch dialektische historische Prozesse zum Kommunismus entwickeln würde, was letztlich zur Befreiung von Unterdrückung und Ausbeutung führen sollte. Marx sah die Geschichte als einen linearen Prozess des Fortschritts. Das spätere historische Ausprobieren seiner Ideen zeigte jedoch, dass Marx Fortschrittsglaube unbegründet war.

Friedrich Nietzsche (1844-1900)

Friedrich Nietzsche steht zwischen diesen Polen. Einerseits teilt er mit Schopenhauer die pessimistische Sicht auf die Religion und die moralischen Werte seiner Zeit, die er als Ausdruck des „Sklavenmoral“ ansah. Andererseits glaubte Nietzsche, dass der Mensch über sich hinauswachsen könne – zu dem von ihm erdachten „Übermenschen“, der neue Werte schafft und sich über die herkömmlichen Vorstellungen von Gut und Böse erhebt und damit seine Welt aktiv gestalten kann. Dieses Ideal zeigt einen gewissen Fortschrittsglauben, wenn auch einen verzweifelt radikalen und letztlich unverwirklichten.

Sigmund Freud (1856-1939)

Sigmund Freud vereint beide Strömungen. Seine Triebtheorie, in der er die Unausweichlichkeit des Destruktionstriebes und die Unbedingtheit der Libido die Zivilisation herausfordert. In seinen Schriften „Das Unbehagen in der Kultur“ und „Warum Krieg?“ werden diese Gedanken ausgeführt. Jedoch ist Freuds berühmter Satz „Wo Es war, soll Ich werden“ ein Ausdruck seines Fortschrittsglaubens: Die Möglichkeit, durch psychoanalytische Einsicht und Selbsterfahrung die unbewussten Triebe zu kontrollieren und damit ein höheres Maß an Freiheit zu erlangen. Freud selbst hat diesen Widerspruch nicht vollständig aufgelöst, lässt aber in seiner Schrift „Die endliche und die unendliche Analyse“ eine gewisse Skepsis gegenüber der psychoanalytischen Therapie durchblicken.

Dieser Widerspruch zwischen Pessimismus und Fortschrittsglauben ist ein zentraler Bestandteil der intellektuellen Landschaft des 19. Jahrhunderts und beschreibt einen wesentlichen Aspekt der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Umbrüche dieser Zeit.

Das 20. Jahrhundert im Antagonismus zwischen Erfahrung des Absurden versus Glaube an die Versprechen der Konsumgesellschaft und der Machbarkeitsgesellschaft

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat durch zwei Weltkriege den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts widerlegt. Die politischen Einigungsbestrebungen in Form der UNO oder der EU haben an Akzeptanz und Glaubwürdigkeit verloren. Von einer Wertegemeinschaft ist jenseits von materiellen Verteilungsritualen wenig zu spüren. Ob die NATO als Verteidigungsbündnis taugt, ist bisher nicht erwiesen. Insofern scheint das 20. Jahrhundert geprägt von einem neuen Antagonismus, dem zwischen der Akzeptanz des Absurden einerseits und dem Glauben an die Konsumgesellschaft und deren Machbarkeitsversprechen andererseits. Den bedeutendste Beitrag zum Thema Pessimismus und Fortschrittsglaube im Rückblick auf die Antagonismen des 19. Jahrhunderts bietet deshalb vermutlich Albert Camus in dem Begriff des Absurden. Im Rahmen dieser Weltanschauung sind Pessimismus und Fortschrittsglaube aufgehoben, sowie allen Ideologien eine grundlegende Skepsis gegenübergestellt. Andererseits kehrt der alte Fortschrittsglaube des 19. Jahrhundert in neuer Form wieder, im Glauben an die Fortexistenz der Konsumgesellschaft und das alles machbar sein wird. Hierzu gehört auch die Hoffnung, dass die Menschen ihre Emotionen und Triebe durch kognitive Umstrukturierung unter Kontrolle bekommen werden. Dagegen sehen Kritiker der Machbarkeitsgesellschaft und Konsumgesellschaft diese Konzepte selbst als nicht nachhaltig an.

Der Antagonismus im 20. Jahrhundert zwischen Albert Camus‘ Theorie des Absurden und dem Glauben an die Konsumgesellschaft und Machbarkeitsgesellschaft beschreibt die grundlegenden Spannungen dieser Epoche wider, in der der Mensch mit existenziellen Fragen auf der einen Seite und der schnellen Entwicklung von Wohlstand und technologischen Fortschritten auf der anderen Seite konfrontiert war.

Albert Camus entwickelte in seinen Werken, insbesondere in Der Mythos des Sisyphos und Der Fremde, die Idee des Absurden. Er beschreibt damit die grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem menschlichen Verlangen nach Sinn und der sinnlosen, indifferenten Welt. Für Camus ist das Leben per se sinnlos, da es keine objektive Bedeutung oder höheren Zweck gibt. Der Mensch ist gefangen in einem existenziellen Widerspruch, der sich nicht auflösen lässt, was ihn in einen Zustand des „Absurden“ versetzt. Trotzdem fordert Camus, dass der Mensch, trotz des Bewusstseins dieser Absurdität, das Leben aktiv annimmt, sich dem Widerstand gegen diese Sinnlosigkeit stellt und Freiheit in der Revolte findet.

Im Gegensatz dazu steht der Glaube an die Konsumgesellschaft und die Machbarkeitsgesellschaft, der im 20. Jahrhundert, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, an Dynamik gewann. Die Konsumgesellschaft ist geprägt durch die Idee, dass das Streben nach materiellem Wohlstand, Komfort und ständigen technologischen Fortschritten der Weg zu einem glücklichen Leben ist. Menschen begannen, sich zunehmend über Besitz und den Konsum von Waren und Dienstleistungen zu definieren, was eine gewisse Oberflächlichkeit förderte. Diese Konsummentalität ist eng verbunden mit dem Fortschrittsglauben, dass alles machbar ist: soziale Probleme, technische Herausforderungen und sogar menschliches Glück erscheinen als lösbar durch wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt.

In diesem Kontext steht Camus in scharfem Gegensatz zu diesem Optimismus. Während die Konsumgesellschaft und die Machbarkeitsideologie implizit den Gedanken verfolgen, dass der Mensch durch den Zugriff auf materielle Güter und technologische Mittel sein Leben verbessern und letztlich Sinn finden kann, lehnt Camus diese Vorstellung ab. Für ihn bleibt der Mensch trotz aller Errungenschaften mit der Absurdität der Existenz konfrontiert, die durch keinen technischen Fortschritt oder Konsum überwunden werden kann.

Der Geist der Machbarkeitsgesellschaft zeigt sich in der Politik in der Auffassung, alles irgendwie erreichen zu können, wenn charismatische Führer nur suggestiv genug auftreten. Hierzu passt gut der Slogan: „Wir schaffen das!“ In der Psychotherapie zeigt sich der Geist der Machbarkeitsgesellschaft in der Fixierung auf Symptombeseitigung ohne zu fragen, inwiefern das Symptom ein Ausdruck sein könnte seitens der Überforderung des heutigen Menschen mit den Anforderungen, die er an sich selbst stellt oder den Anforderungen, die an ihn herangetragen werden.

Der Antagonismus lässt sich somit folgendermaßen zusammenfassen: Camus erkennt die Sinnlosigkeit des Lebens und fordert den Menschen auf, diese Absurdität anzuerkennen, während die Konsumgesellschaft und Machbarkeitsgesellschaft jeweils verspricht, dass Glück und Sinn durch den Zugriff auf materielle, kognitiv-suggestive und technologische Mittel erreichbar seien. Es handelt sich also um einen Grundkonflikt zwischen existenzieller Skepsis und einem neuen, jetzt aber materialistisch-technologisch gewendeten, Überlebensversprechen.

Das 21. Jahrhundert im Antagonismus zwischen Erwartung der Katastrophe und Glaube an Science Fiction

Die Erwartung der Katastrophe betrifft absehbare Entwicklungen vor allem in politischer und ökologischer Hinsicht. Der Zerfall demokratischen Staaten unter dem Druck der Dekadenz und autokratischer Systeme und die Unbewohnbarkeit der Erde unter zunehmender Umweltschäden sowie dem absehbaren Ende der Konsumgesellschaft. Die andere Seite des Antagonismus ist der Glaube an Science Fiction, an das Weiterleben auf fernen Planeten, die noch gefunden und besiedelt werden sollen.

Der Antagonismus des 21. Jahrhunderts lässt sich deshalb als eine Spannung zwischen der Erwartung der Katastrophe und dem Glauben an Science Fiction-Visionen, wie der Evakuierung der Menschheit auf fremde Planeten, beschreiben. Dieser Konflikt spiegelt die Unsicherheit und Ambivalenz wider, mit denen wir unsere Zukunft betrachten, geprägt durch drohende globale Krisen und technologische Hoffnungen.

Erwartung der Katastrophe:
Im 21. Jahrhundert sind globale Bedrohungen und Krisenszenarien stark ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Dies umfasst eine Vielzahl von existenziellen Risiken:

Klimakatastrophe: Die wachsende wissenschaftliche Einigkeit über die katastrophalen Auswirkungen der Erderwärmung, darunter extreme Wetterereignisse, steigende Meeresspiegel und Verlust von Biodiversität, trägt zu einem weit verbreiteten Gefühl der nahenden ökologischen Katastrophe bei.

Pandemien: Die COVID-19-Pandemie verdeutlichte, wie verwundbar globale Gesellschaften gegenüber Krankheitserregern sind, und weckte neue Ängste vor zukünftigen, möglicherweise noch verheerenderen Pandemien.

Nukleare und geopolitische Spannungen: Die fortlaufende Möglichkeit eines Atomkriegs und geopolitische Unsicherheiten, wie etwa die Spannungen zwischen Großmächten, führen zu Befürchtungen vor einem großflächigen Konflikt oder einer globalen Katastrophe.

Künstliche Intelligenz und technologische Disruptionen: Einige Theoretiker und Wissenschaftler warnen vor der Möglichkeit, dass fortgeschrittene KI-Systeme unkontrollierbar werden und potenziell schädliche Auswirkungen auf die Menschheit haben könnten. In diesem Szenario stellt sich die Erwartung der Katastrophe als eine düstere, pessimistische Perspektive dar. Es besteht ein allgemeines Gefühl, dass der menschliche Fortschritt – insbesondere die industrielle und technologische Entwicklung – uns an den Rand des Abgrunds gebracht hat, und dass katastrophale Wendepunkte unvermeidlich sein könnten. Diese Einstellung ist begründet in der Wahrnehmung, dass die Menschheit ihre Umwelt und ihre eigenen Systeme nicht mehr unter Kontrolle hat.

Glaube an Science Fiction und Evakuierung auf fremde Planeten:
Gleichzeitig existiert jedoch ein auf Science-Fiction basierende Heilserwartung, die davon ausgeht, dass technologische Innovationen und Weltraumerforschung die Menschheit retten könnten. Diese Vision wird oft durch prominente Figuren wie Elon Musk und seine Ambitionen mit SpaceX oder andere technologische Pioniere verkörpert. Hier spielen einige zentrale Ideen eine Rolle:

Interplanetare Kolonisation: Die Vorstellung, dass die Menschheit den Mars kolonisieren oder auf andere Planeten und Monde ausweichen könnte, um die Erde im Falle einer globalen Katastrophe zu verlassen. Diese Idee wird häufig als „Backup-Plan“ für die Menschheit angepriesen.

Technologische Lösungen für globale Probleme: Der Fortschrittsglaube an die Überwindung der Katastrophe durch technische Innovationen – von geo-engineering, um den Klimawandel zu bekämpfen, bis hin zu neuen Energiequellen und KI-gesteuerten Systemen, die globale Herausforderungen meistern könnten.

Transhumanismus: Die Vorstellung, dass die Menschen durch Technologien wie künstliche Intelligenz, Gentechnologie oder virtuelle Realität zu einem neuen Stadium der Evolution aufsteigen könnten, indem sie biologische Grenzen überwinden. Dies spiegelt das Heilsversprechen wider, dass Technologie uns nicht nur retten, sondern auch unsere Existenz revolutionieren könnte.

Der Antagonismus zwischen diesen beiden Sichtweisen – der Erwartung der Katastrophe und dem futuristischen Optimismus der Science-Fiction – zeigt die tiefe Spaltung unserer gegenwärtigen Wahrnehmung. Auf der einen Seite gibt es die ernste Sorge, dass die Menschheit nicht in der Lage ist, die drohenden globalen Krisen zu meistern, auf der anderen Seite steht der Glaube an die Macht der Technologie, die Menschheit auf eine neue Stufe zu heben und potenziell „unsere Rettung“ im Weltraum zu finden.

Dieser Konflikt ist auch eine Reflexion der breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Spannungen: Während einige auf eine desolate Zukunft blicken, setzen andere ihre Hoffnungen auf radikale technologische Lösungen und die Vision eines neuen, interplanetaren Zeitalters für die Menschheit. Auf der subjektiven Ebene erhält dieser Antagonismus einen Niederschlag in Form von zunehmender Beliebigkeit, Sprachlosigkeit und Ansprüchlichkeit einerseits und der Gewöhnung an ungehemmten Hass und Niedertracht in zwischenmenschlichen Beziehungen und einer Erosion des Gemeinsinns andererseits.

Weiterlesen: Psychotherapiepraxis in Berlin, Wolfgang Albrecht

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